Alban Berg - Lyrische Suite

Streichqartett mit sechs Sätzen

Alban Berg, Hanna Fuchs und ein Streichquartett, genannt lyrische Suite.


Das Alban Berg Projekt, ein monumentales Fresko der Kunst der Moderne, hat internationale Strahlkraft, man spürt eine faszinierende Spannung und poetische Kraft.

Alle Nuancen der Sehnsucht, der Verzweiflung, des Schmerzes, des Eros und der Ekstase sind im Streichquartett Lyrische Suite eingekapselt. Zwei Violinen, eine Bratsche und ein Cello erschließen völlig neue Dimensionen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Grundthema der Suite ist die Biopsie des Abgrunds, der in einem Subjekt aufklafft.

Die zwei Ausstellungskonzepte von Gerhard Fischer und Thomas Kierlinger (Grosser und Kleiner Entwurf Lyrische Suite und die begleitende Publikation Amour fou sind sowohl formalästhetisch wie auch stilistisch ein Meisterwerk. Und es sind Rubine und Diamanten der Digitalkunst.

Das Manuskript wurde betitelt mit: „Amour fou: Hanna Fuchs, Alban Berg und ein Streichquartett, genannt Lyrische Suite.“ Ein Exemplar des Manuskriptes ( 201 Seiten) ist im Bestand der ÖNB Musiksammlung, ein schmaler Textteil wurde 2010 publiziert und bei den Wiener Vorlesungen in der Kammeroper vorgetragen.

Die bibliophile Publikation „Amour fou. Hanna Fuchs, Alban Berg und ein Streichquartett,genannt Lyrische Suite“ wurde mit dem Staatspreis 2010 ausgezeichnet. Noten und Briefe wurden früher gerne in Mappen gesammelt und dieses Prinzip greift der Band amour fou auf. Wie Albumblätter liegen faksimilierte Autografen neben ihren Umschreibungen, die vom Anmerkungsapparat ganzflächig umrahmt werden. Mit scheinbar einfachen Mitteln wurde hier eine konzeptionell starke und gleichermaßen poetische Umsetzung von Notenautografen und Text erreicht ( aus dem Text der Jury).

Autor: Gerhard Fischer
Verlag: Daedalus, Wien
Gestaltung: Willi Schmid, Wien
Druckerei: Gugler Cross Media, Melk
Papier: Olin 400 g; Olin 210 g, 90 g, 120 g
ISBN: 3-900911-23-2


KRONOS QUARTET
ALBAN BERG
(1885-1935)
Lyric Suite (1926) 27:15

I. Allegretto gioviale
Il. Andante amoroso
III. Allegro misterioso
IV. Adagio appassionato
V. Presto delirando
VI. Largo desolato

Kronos Quartet
David Harrington, violin
John Sherba, violin
Hank Dutt, viola
Jennifer Culp, cello
with Dawn Upshaw,Soprano

Das Kronos Quartett veröffentlichte eine Aufnahme der Lyrischen Suite auf dem Album "Kronos Quartet With Dawn Upshaw - Alban Berg – Lyric Suite" im Jahr 2003

Im Wiener Musikverein spielte am 30. November 2000 das Artis Quartett die Lyrische Suite. Fassung des Finales mit Singstimme. Sopran: Gerlinde Illich.
Das erste Mal erklang die Singstimme im Largo desolato: "Zu dir, du einzig Teure, dringt mein Schrei". Es sind Qualen fürchterlichster Melancholie, die Alban Berg singen lässt.


Cordes Sensibles

Documentaire

Réalisé par Catherine Zins • Écrit par Catherine Zins.
France • 1991 • 54 minutes • Couleur.

La "Suite lyrique" d’Alban Berg est effectivement l’une des œuvres majeures du répertoire pour quatuor à cordes du XXe siècle. Créée à Vienne le 8 janvier 1927 par le Quatuor Kolisch, elle marque un moment important dans l’histoire de la musique moderne. Son altiste, Eugen Lehner, après son installation aux États-Unis en 1939, a joué un rôle essentiel de passeur : il ne cherchait pas à imposer une version « authentique » ou définitive, mais plutôt à transmettre l’esprit de l’œuvre, en soulignant son caractère profondément dramatique et expressif — ce qui lui vaut d’être qualifiée d’« opéra sans paroles ».


Gerhard Fischer

Alban Berg Lyrische Suite

Geht man der Korrespondenz Alban Bergs mit Hanna Fuchs – umfassend die Jahre 1925-1934 nach - wird das erotische Fluidum von Zeile zu Zeile nachvollziehbar, die Chronik des „alljährlichen Lebens - und Liebeszeichen- Gebens“ ist in stilistischer Hinsicht ein Kabinettstück ergreifender Brief-Literatur.

Das dauernde Hinübergezogenwerden zu diesem bewunderten Geschöpf Hanna, die zu besitzen Berg mit dem unmöglichen Glück des einsamen Kindes begehrte, hatte weder einen Halt, noch gab es in jahrelanger Ausbreitung der Verführung einen beglückenden Fortschritt.

Dem Brief vom 7.Juni 1928 ist eine kostbare Gabe beigefügt: Die mit handschriftlichen Eintragungen Bergs versehene Taschenpartitur der Lyrischen Suite. Die Taschenpartitur, die nach dem Tod von Hanna Fuchs ( 1. Mai 1965, New York) im Besitz ihrer Tochter Dorothea Fuchs- Robettin verblieben ist, wurde 1992 von der Österreichischen Nationalbibliothek angekauft.

Der gesamte Nachlass von Alban Berg ist in der Musiksammlung der ÖNB unter der Signatur Fonds 21 Berg 422-2480 und 2617-3436 registriert.

Gerhard Fischer hat 2001 ein Jahr lang Bergs Musikautografen, Briefe an und von Berg sowie Fotokonvolute in der ÖNB studiert.

Aus den Forschungen ist im Dezember 2001 ein mehrere hundert Seiten umfassendes handschriftliches Manuskript erwachsen, daraus wurde ein maschinschriftliches Manuskript gefertigt mit einem Essayteil von 78 Seiten und einem Fußnotenteil von 123 Seiten (410 nummerierte Fußnoten).

Das Manuskript wurde betitelt mit: „L’amour fou: Hanna Fuchs, Alban Berg und ein Streichquartett, genannt Lyrische Suite.“ Ein Exemplar des Manuskriptes ( 201 Seiten) ist im Bestand der ÖNB, ein schmaler Textteil wurde 2010 publiziert und bei den Wiener Vorlesungen vorgetragen.

Die Motive des Alban Berg-Manuskriptes sind:

Ausser Atem: Proust, Kafka, Modigliani, Schönberg, Berg Briefe als geraubte Küsse

Die Geburt der Buchstaben und Töne AB und HF

Die Mütter- Die Hure- Die Tribaden

Der Dolorismus bei Berg/ Baudelaire

Baudelaires Traum von einem „Museum der Liebe“

Blumenträume und eine Luftfahrt ins Unbegrenzte, Unendliche

Poussin: Das Reich der Flora

Bergs Lieblingsbild : Corregio „Jupiter und Io“ ( KHM)

Anton Webern, Segantini, Nietzsche: Aus hohen Bergen

Die Ästetik der Maschine: Radio, Fotoapparat, Telefon, Schreibmachine, Automobil

Berg der Cinephile und die russische Avantgarde

Im Fadenkreuz der Theoretiker der Moderne: Kracauer, Adorno, Benjamin

Paris 1930: Giacomettis Bleistiftzeichnungen seines Ateliers

Lulu, Woyzeck, Violinkonzert, Der Wein, Lyrische Suite

Briefe Bergs ( 1925-1935) an seine Geliebte Hanna Fuchs

Die Taschenpartitur der Lyrischen Suite

Die Lyrische Suite ( 1927) wird in Fischers Manuskript als beziehungsreiches Musikkunstwerk der Moderne ins Zentrum der Beschreibung gerückt. Die mit handschriftlichen Eintragungen Bergs versehene Taschenpartitur der Lyrischen Suite wird in ihrer musikalischen und ästhetischen Struktur ausgelotet.

Die Widmungspartitur, dieser schmale Noten-Band dokumentiert das ‚désir d’écrire‘, das Begehren zu schreiben.’ (Roland Barthes). Aus den Abgründen des Begehrens bringt Berg ganz kleine oder große Textinseln, Buchstaben und Satzsplitter mit.

Die Fläche, auf der sich Bergs Sprache entfaltet, ist die Partitur des Erstdruckes (1927) der Lyrischen Suite. Der Band besteht inklusive des Porträtfotos, der Titelseite, der Vorrede von Erwin Stein und der Widmung FÜR MEINE HANNA, aus 90 Seiten.

Die Sorgfalt, die Berg darauf verwendet, Hanna Fuchs die Konfiguration der Lyrischen Suite zu erklären, zeigt den Eifer eines Besessenen. Berg benutzte drei verschiedene Stifte und Tinten, hauptsächlich rot, manchmal blau, und nur im II. und VI. Satz wird auch grün verwendet. Berg verfügt über die beneidenswerte Gabe des koloristischen Ausdrucks und erhebt die Taschenpartitur zum bunt schillernden Paradiesvogel. Der Band wird über weite Strecken zu einem Seherlebnis, das Geist, Emotion und ästhetische Empfindungen zu gleichen Teilen anregt.

In der Widmungspartitur begibt sich Bergs Körper in den Zustand der Sprache, quasi parlando. Eine Rede, die strömt, eingeschlossen in visuelle Kontraste, damit sie aufgrund der ihr eigenen Leuchtkraft das Werk erschließt. Notizen und Partitur bilden somit eine einzigartige, gedrängte, koheränte Figur. Worte werden an die Noten direkt angeheftet oder eher noch gehen sie aus ihnen hervor, im Gleiten der Worte, die die Noten anstecken, oder einen Stoß auslösen, erreicht Schreiben eine Schneeflockenbewegung. Bergs Worte tauchen in die kleinsten musikalischen Vibrationen. Schreiben ist da, um ein paar Spuren dessen aufzusammeln, was sich unerbittlich zersetzt, halb verwischte Abdrücke dessen, was war und was so niemals mehr in der Vollständigkeit der absoluten Liebe wiederherstellbar sein wird.

Der Noten-Band, dieses lange Gedicht des Begehrens und der Verzweiflung, tragisch und fröhlich in seinem Raunen und in seinem Murmeln, durchsetzt von Schmerz wie auf manchen Bildern von Nicolas de Staël, wenn die Farben verlöschen und von unbestimmten Abgründen angezogen zu werden scheinen. Der Künstler als exemplarisch Fallender. Eine verschlüsselte Suche nach der Liebe, wo der Körper die Hauptrolle spielt, die er anschließend der Seele zurückgibt, und wo alles sich nur im stummen Lauf der Zeichen und in diesem Zirkulieren des Begehrens erklärt, auf diese Weise eine wahrhaftige Metaphysik der Liebe begründet. Bergs polyphoner Text, in feingliedriger Schrift verfaßt, läßt sich als eine Vielzahl von Subtexten lesen, die sich gleichsam über die musikalische Textur stülpen; der Einsatz der Farbtinten wirkt melodiös, die graphischen Pole haben die Länge und den Elan der Linie und lassen die thematischen Netze und Obsessionen besser modellieren.

Zwischen Schrifttext und musikalischem Text entsteht eine optische wie akustische Brechung, die vielfache Echoeffekte und damit ein textiles Geflecht erzeugt. Die Sprache ist einer Syntax unterworfen, die Töne mathematischen Zusammenhängen, die Farben chromatischen Zusammensetzungen. Denn die Kunst ist ja nichts anderes als das Ausnützen der Stofflichkeit der Mittel, um Ausdruck herauszuholen.

Mit lyrischer Emphase inszeniert Alban Berg den Diskurs des Liebenden. Einzig daran hangelt sich die Musik entlang, von Satz zu Satz in grelleren Farben gezeichnet. Der graphische Wirbel, den Berg mit den ästhetischen Polen von Farben, Linien, Klammern und Satzstücken im II.Satz der Taschenpartitur entfaltet, gerät zu einer Augenweide der wunderbarsten Art. Wie Muscheln an versunkene Schiffe, lagern sich die bunten Farbtuschen an das schwarze Notengerüst.

Da ist das Subjekt der Lust, das in der Nähe Hannas ein Schwindelgefühl erfährt: Das drängende Flüstern der Hitze der Begehrlichkeit. Es ist spannend, zu erleben, wie Berg immer wieder dort, wo er erotische Motive abhandelt, schnell zu besessenen Ton-Versuchsreihen gelangt, in denen er ein von Obsessionen zusammengesetzes Tonnetz flicht, das den Hörer süchtig machen kann.

Berg macht Hanna in der Widmungspartitur den reinen anmutigen Buchstaben zum Geschenk- in der Lyrischen Suite mutieren Hanna und Alban demzufolge zu Ton-Buchstaben. Das Verknüpftbleiben von HF( Hanna Fuchs= H- Dur, F-Dur) mit AB ( Alban Berg) simuliert Berg im Ton -und Buchstabenraum der Widmungspartitur. Runde und spitze Buchstaben, einzelne und mehrere Wörter mischen und vermengen sich in Takten mit Tönen. Berg führt Hanna in der Art eines Don Juan von Takt zu Takt. Das Bimbam von H- Dur und F- Dur und deren Explosion auf dem Papier bedeuten anhalten der Zeit, Verewigung des Augenblicks. In den Zwölftonreihen erlaubt Alban Berg Hanna immer neue Stellungen einzunehmen: In dem schönsten Körper, den sie je angenommen hat, ertönt Hanna . Der Drucklegung der Taschenpartitur der Lyrischen Suite gingen viele Korrekturen voraus. Betrachtet man den langwierigen, ein Jahr dauernden Prozeß mit dem Alban Berg von der anfänglichen Komposition zur vollendeten, pulsierenden Zwölftonreihe gelangte, so stellt sich die Frage, was suchte er, intuitiv in diesem Prozeß? Er suchte eine Gestalt, die die vergängliche, lebendige Form der Liebe die er vor Augen hatte, auf Dauer eingravieren würde.

Alban Berg zimmert für Hanna Fuchs in der Lyrischen Suite eigens einen Zwölf-Ton-Raum. Vor der Tonalität scheut er gar nicht zurück, doch vor den Dissonanzen. Sein Es ist angegriffen, Fetzen treiben. In der Komposition wird er sie nach und nach wieder zusammenfügen müssen, da sein Körper an der Grenze seiner Dehnung angelangt ist. Wenn er die Notwendigkeit verspürt in der Tonzeichnung H und F einzugravieren, so unterstützt er damit die serielle Anordnung der Töne und den Rhythmus des inneren Aufbaus des Streichquartetts.

Alban Berg hat in der Taschenpartitur im VI. Satz ein Sonett Charles Baudelaires eingeschrieben. Lange, jahrzehntelang wurde nach diesem Gedicht gefahndet, fleißige Detektivarbeit der amerikanischen Musikwissenschaft hat dieses endlich im Jahre 1976 zu Tage gefördert und als Vokaltakte enttarnt - der VI.Satz, Largo desolato, kann nunmehr als textgebundene Musik gelten. In der Widmungspartitur glitzert wie ein Rubin in Takt 12 das mit roter Tinte eingeschriebene Poem „De profundis clamavi" aus Baudelaires Gedichtband Les Fleurs du Mal.

Bergs Hand, die Töne und Wörter aufs Papier kritzelt, die weder komponieren kann ohne zu schreiben, noch schreiben ohne zu komponieren, die jedoch auch weder Töne noch Wörter schreiben kann, ohne nicht auch zu singen, diese Hand bedarf der Ergänzung, die die Stimme gibt. Das in das Streichquartett eingeflochtene Poem Baudelaires bedarf des Durchgangs durch die Stimme. Das Ich, das um seine zunichte gewordenen Liebeshoffnungen trauert, kann nur noch singen.

Ein Taschenkalender des Komponisten aus dem Jahre 1935/36 zeigt am 4. Februar 1936 die Eintragung „Lyr. Suite, New York”. Alban Berg vermerkte mit stupender Genauigkeit während der Jahre 1926-1935 den Weg der Lyrischen Suite durch die Konzertsäle der Welt. Die Notate mit Bleistift oder mit Tinte ausgeführt, sind immer wieder grell mit Buntstiften eingekreist: Schöne, hypnotisierende Bilder des Begehrens und seiner unendlichen Beharrlichkeit.

Die handschriftliche Notation der Quartettsuite erfolgte in der Einsiedelei in Trahhütten, gelegen in 1000 Metern Seehöhe am Fuße der Koralpe. Den ersten Satz beendet Berg im Herbst des Jahres 1925, den sechsten Satz führt er Ende September 1926 zu Ende.

Den Farbstoff , den Berg ein Jahr am Notenpapier angehäuft hat, das Grau-Schwarz des Bleistifts, wird mit all der Magie, die Buntstifte ausüben können, immer wieder vermengt. Nahe einer Kohlezeichnung ist der 57 - seitige Autograph der Partitur der Lyrischen Suite ein Schlingwerk: Es sind die Tonfolgen , die an der ästhetischen Besonderheit der Komposition imponieren, und es sind die von der Hand Bergs hinterlassenen Graphen. Da ist ein gewisser Zug zur Kalligraphie , die auch andere Partituren auszeichnet.

Die Miene des Bleistifts entstammt der Erde, Farbe führt zuallererst nach unten, weit unter das Sichtbare . Mit all dieser Alchemie ist der Schreibakt verknüpft

Der Atem formt den Rhythmus der Suite, das Tempo der lebhaften Sätze wird im I., III, und V. Satz zunehmend schneller, das Tempo der getragenen Sätze, II, IV. und VI. immer langsamer.

Die Lyrische Suite hält eine Komplizenschaft mit der Kurzatmigkeit. Bergs Atem schwillt an, wölbt sich , mutierende Bewegungen wechseln einander ab, die ganze Musik des Streichquartetts dehnt sich zwischen Beschleunigung und Verlangsamung des Atems. Marcel Proust und Alban Maria Johannes Berg waren Asthmatiker.

Widmungspartitur – Bild 1
Widmungspartitur – Bild 2
Widmungspartitur – Bild 3
Widmungspartitur – Bild 4
Widmungspartitur – Bild 5
Widmungspartitur – Bild 6

Alban Berg Widmungspartitur Lyrische Suite. Abschrift des VI.Satzes von Gerhard Fischer. Mit Baudelaire Gedicht De profundis clamavi. Aus der Tiefe habe ich geschrien.


Motive zur Austellung Lyrische Suite


Gerhard Fischer

Alban Berg Lyrische Suite. Gültiges und Getilgtes.

Die Hand schreibt etwas auf dem Papier, sie zieht Linien und Kurven, sie hebt sich und senkt sich, sie setzt ab, setzt wieder an. So bedeckt die Schrift zunächst die Leere der Seite, so entwirft sie ein ornamentales Bild, gliedert sich in Kolonnen und Absätze, formt sich zu Blöcken.

Die Autographen (manus scriptum = von der Hand geschrieben) sind in verschieden farbigen Tinten, mit Filzstift, Fineliner, Bleistift und sehr selten mit Kugelschreiber ausgeführt. Es sind kolorierte Schriften. (Wer weiss ob der Sinn der Wörter nicht dadurch verändert würde).

Farbe ist gewöhnlich der Ort des Triebes, denn Farben wollen die Erregung unterbringen. Wie auf Unterwasser- oder Vulkankarten die Angabe glühend heisser Zonen, kalter oder warmer Strömungen ausgezeichnet ist, so setzt die Hand des Autors auf das Lieblingspapier an einem gewissen Ort , zu einer bestimmten Zeit eine Reihe von Buchstaben. Noch im feinsten bunten Federstrich, der übers Blatt tanzt, pulsiert die Lust des Schriftstellers, der seinen Körper und seine Geschichte nicht verleugnen kann.

Hinzufügen könnte man noch, dass die Anhäufung von Farbtinten am Papier ( deren Auftrag im Lauf eines Tages, einer Nacht eine Art erotischen Rausch hervorruft) subtile Schreibakte des Autors erfordert.

Anhand der hier situierten Schriftstücke zu Alban Bergs Streichquartett Lyrische Suite, wird das Konzept der Schreibspur dargelegt. Es sind dies durch den Autor Gerhard Fischer in den Vorstufen vorgenommenen Textinterventionen wie endlos vorbereitende Entwürfe, Korrekturen, Streichungen, Überschreibungen bilden die Grundlage für die Textgenese und die Analyse des Schreibaktes. Die vorgelegten Text-Materialien, ausgeführt im Jahr 2001, machen das langsame, oft langjährige Heranwachsen von Werken sowie den komplexen Zusammenhang von Schreibprojekten nachvollziehbar.

"Man streut beim Schreiben Keime aus: Man mag sich vorstellen, dass man so etwas wie Samen ausstreut und folglich in den allgemeinen Kreislauf der Samen eintritt. Nicht im Schreiben liegt die Schwierigkeit, sondern darin, so zu leben, dass das zu Schreibende ganz natürlich entsteht. Schreiben als Entfaltung, Blüte, sonst nichts." Roland Barthes



Gerhard Fischer

AMOUR FOU

HANNA FUCHS, ALBAN BERG UND EIN STREICHQUARTETT, GENANNT LYRISCHE SUITE

Man sagt, Liebe macht blind;[1] sie macht mehr als das, sie macht taub, sie macht lahm; der, der daran leidet, der ist die Pflanze Mimosa, die sich schließt, und kein Dietrich öffnet sie, je mehr man Gewalt braucht, desto mehr schließt sie sich.

Søren Kierkegaard. Erstes Berliner Tagebuch 1841/42 [2]

Typoskript Herbst 2001, Winter 2008

Folgt man den Verlaufspuren der Liebesbeziehung Alban Bergs[3] zu Hanna Werfel Fuchs-Robettin,[4] die im Jahre 1925 beginnen und 10 Jahre bis zu seinem Tod andauern sollte, stößt man auf ein verbliebenes Briefkonvolut,[5] 14 Schriftstücke umfassend. Berg liebt Hanna Fuchs wegen dem, was sie in ihm auslösen wird, an Echos eines Anderswo, an Faszinationskräften, an Gefahren, die eine solche Leidenschaft mit sich bringen kann. Die Briefe stellen kleine brüchige Liebesutopien dar, dabei steht das Aufbrechen der Ich-Grenzen nach und nach im Zeichen der Katastrophe. In diesem Verlust seines Selbst verharrt Berg auf der Schwelle zur Sprache, der Körper begibt sich in den Zustand der Sprache. Die Melodie, der Sog dieser durch scheinbar nichts aus dem Fluss zu bringenden Sprache beeindruckt. Komponieren,[6] Schreiben.[7] Berg begehrt un ablässig bald das eine, bald das andere, eben deshalb verdient die schriftstellerische[8] Dimension eine höhere Beachtung als ihr bislang zuteil geworden ist. Der Schreib prozess ist immens, es wimmelt von Briefen an Arnold Schönberg,[9] Anton Webern,[10] Soma Morgenstern[11] und an Helene,[12] die Ehefrau Bergs.

Die künstlerische Praxis ist immer an den Körper, an dessen erotische Dimension, also von der Hand hervorgebrachte Musik, Graphie oder Schrift gebunden. Das Hin und Her der Hand bedarf der Blei- und Buntstifte, des Radiergummis und immer wieder des Bleistiftspitzers.[13] Die flattrigen Zeilen, die der Betrachter vor Augen hat, entfalten sich wie japanische Wasserblumen aus Papier. Die gelb-weißen Papierstücke - verfaßt im Zeitraum 1925-1934 - sind durchgehend mit Bleistift, einmal ein Notenblatt und einmal ein Papierbogen mit Tinte beschrieben: Einfügungen, Durchgestrichenes, Unterstriche nes, an den Rand Geschriebenes, Hervorgehobenes, Gedankenstriche skandieren die kleinformatigen Papiere. Die Berg'sche Zwiegesichtigkeit - manische Emphase und melancholische Entrückung - durchzieht wechselweise das Briefkonvolut. Die Schreiben an Hanna Fuchs sind fast ganz in diesem wie verhalten pathetisch schwingenden Stil geschrieben, noch im Kleinsten mit dieser wunderbar großen Gebärde eines Fiebernden. Stakkatohaft blitzt Liebessehnen auf, vibriert allein wie der aus einer Melodie herausgelöste Ton - oder wiederholt sich bis zum Überdruß wie das Motiv einer in sich kreisenden Musik. (Keine Logik hält das Begehren zusammen, die Stimmen ereifern sich, sie prallen aufeinander, beruhigen sich, kehren wieder, entfernen sich ohne größere Ordnung als die eines Mückenschwarms.)

Das dauernde Hinübergezogenwerden zu diesem bewunderten Geschöpf Hanna, die zu besitzen Berg mit dem unmöglichen Glück des einsamen Kindes begehrte, hatte weder einen Halt, noch gab es in jahrelanger Ausbreitung der Verführung einen beglückenden Fortschritt. In seiner Suche nach dem immer sich Entziehenden, Entfliehenden, ist Berg nach und nach einem Taumel nahe gekommen, und nur folgerichtig liegen auf dem Weg dorthin überall die Splitter der Begierde verstreut. Der Schreibakt an Hanna konstituiert dieses konstante Netz der Leidenschaft, in der Schreibzeit tauchen die Tumulte des Körpers auf und unter. Bergs Liebes-Leiden ist ausufernd wie der Nil, und die innere Unruhe ließ ihn nicht lange am Leben. Nicht ganz zu Unrecht fürchtete er, ohne ein Leben mit Hanna lebendig begraben zu sein.[14]

Im Mai des Jahres 1925[15] sind Alban Berg und Hanna Fuchs einander in Prag begeg net. Im Rahmen des Festivals der internationalen Gesellschaft für neue Musik wird der Komponist in der Stadt an der Moldau „Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester aus der Oper Wozzeck"[16] unter der Leitung von Alexander Zemlinsky[17] zur Aufführung brin gen. Einer Einladung [18] folgend, nimmt Alban Berg in der noblen Villa der Familie Fuchs Robettin Quartier. Hell und warm ist der Lichteinfall im Haus Prag Bubenec No. 593, als es Alban Berg am 14. Mai betreten und am 21 Mai wieder verlassen[19] wird. Alles Sehen, Hören, Fühlen ist verwandelt. Die Ereignisse überfielen ihn und er stand unter dem Zauber der gleichzeitig unschuldigen und wollüstigen Halluzination. In acht Tagen lebte er ein ganzes Leben: ,,Keinen Moment kann ich vergessen, daß das Glück dieser acht Tage das Unglück der folgenden acht Jahre aufwiegt, und daß diese acht Tage erlebt zu haben mein ganzes Menschenleben wert ist."[20] Mit nachtwandlerischer Benommenheit wird Alban Berg im Juli 1925 den ersten 23 Seiten[21] langen Liebesbrief an Hanna Fuchs übermitteln, in dem die Erinnerungsschatten an den Prager Besuch herumgeistern; über einen Zeitraum von neun Jahren werden weitere Briefe als „Lebens- und Liebeszeichen"[22] an Hanna folgen - die letzten Passagen im Winter 1934, sind der zu Papier sublimierte Schrei.

Während die Eisenbahn oder die Elektrische mit bestimmten wackeligen Schriftzeilen in Beziehung gebracht werden kann, verfaßt Berg in aller Eile an Hanna Briefe in seiner Wiener Wohnung, im Cafehaus oder im Hotelzimmer in Prag: [6. 7. Nov. 1926]:[23] „Jetzt gegen 3 Uhr selbst heimgekehrt sitz' ich im Elend des einsamen Hotelzimmers, trinke den Cognac (... ) und wandere weiter - weiter durch diese Nacht - - - - welche Nacht - welche Nacht des Wahnsinns". [Nach dem 11. und vor dem 23 Juli 1925]. ,,ich schreibe diese Zeilen in einem Eisenbahnzug (daher die wacklige Schrift!) und sehe draußen wogende Felder im Sonnenglast vorbeifliegen, die eingerahmt sind von breiten Streifen wilden Mohnes - - aber wie verblaßt dieses liebliche Bild, wenn ich an Deinen himmlischen Mund denke." ,,[7].6. [1928] im Zug, wo ich Dir, Hanna, wie nirgends sonst, ungestört schreiben kann". ,,Natürlich:[23].1O." [1926]: ,,Zwei Stunden hab' ich Zeit für diesen Brief, den ich Dir, meine Hanna, durch einen Glücksfall übermitteln kann. Durch den Glücksfall: Alma, der ja immer einer ist und für alle, die mit ihr zu tun haben, wie erst für uns beide (... ) Gestern hörte ich von ihr, dass sie nach Prag fährt (... ), es ist also gerade noch Zeit ein wenig zu schreiben und hoffentlich Gelegenheit Alma [Mahler Werfel] oder Franz [Wertei] den Brief zuzustecken."[24] „11.5. [1928]: Freitag abends, ich sitze in einem Ringstraßenkaffee und blicke auf die Fenster Deines Hotels. Sie sind finster. Ihr seid also schon abgereist. Um meine letzte Hoffnung, einen von niemand gesehenem Blick mit Dir zu wechseln, wenn Ihr ins Auto steigt, mißlang. Mißlang wie der letzte Versuch, telefonisch ein von niemand gehörtes Wort Dir zu sagen." Er liebte mit solcher Kraft und solcher Naivität, dass er all die unschuldigen Zweifel erlitt, die uns bestürmen, wenn wir zum erstenmal lieben. ,,Wie dank' ich Dir, daß Du es doch immer wieder ermöglichst, daß wir uns sehen, und wie bitte ich Dich darum, es immer wieder zu ermöglichen, indem Du nach Wien kommst."[25]

Alban Berg bezeichnete die Schreiben an Hanna einmal als „lose, hingeworfene Blätter",[26] ohne Zusammenhang, wie es gerade die Stunde der Verzweiflung ergab: ,,Ich bin ein in stetem Herzklopfen dahintorkelnder Wahnsinniger geworden, dem alles, alles, was ihn früher bewegte (Freude oder Schmerz bereitete): von den materiellsten Dingen bis zu den Geistigen vollständig gleichgültig, unerklärlich, ja verhasst geworden ist. Der Gedanke an meine Musik ist mir eben so lästig und lächerlich, als jeder Bissen Nah rung, den ich gezwungen bin hinunterzuwürgen. Nur ein Gedanke, nur ein Trieb, nur eine Sehnsucht beseelt mich: das bist Du!"[27] Man spürt das Blut hämmern, das Herz schwimmt auf und ab. Das Zusammenprallen zweier Körper, die nicht hätten ange nähert werden dürfen, jeder ist durch den Anderen wie umgewendet.

Da ist im Mai 1925 das Verschmelzen der beiden am „Wald-Weg im Stern-Park"[28] „die Fahrten im Auto"[29] in der Prager Umgebung, ,,das Konzert im Smetana-Saal",[30] „dieWozzeck -Generalprobe im verdunkelten Theater"[31], „die heiligsten - die ganz ganz großen Ewigkeitsmomente in der Bibliothek"[32] im Hause Fuchs-Robettin: ,,die Seligkeit, in die Du mich versetztest als Du Deine Hände - diese, diese Hände - - an meine Wangen legtest - - - Oder, als Du sagtest: ,Nun kann ich Dich wenigstens ruhig anschauen."'[33] langsame Gebärdenspiele, die kurzen, ungreifbaren Augenblicke. Da ist der lange Abschiedsblick im Schatten des Haustores in Prag-Bubenec No. 593: ,,diese Augen, dieser Blick - - wer könnte Worte dafür finden: dieser Dichter ist noch nicht geboren - - Ja, können Töne dies ausdrücken??"[34] Die Reglosigkeit eines Augenpaares. Augenkollision, Augenflimmern. Minutenlang mit angehaltenem Atem sieht er Hannas Augen mit Wimpernkrone: ,,Blicke, in denen Liebeslust und -Leid eingefangen ist, wie sie noch nie auf Erden erlebt wurde."[35]

Berg begehrt Hannas „himmlischen Mund",[36] Hannas Gang, ,,in dem neben den geruhigen Rhythmus des Schreitens, ein zweiter, ein himmlischer mitschwingt."[37] Berg verlangt nach Hannas „plötzlich wie eine kleine Welle aufspritzenden Lachens (in ganz kurzen Tönen eines aufsteigenden Vierklangs)."[38] Berg beschwört das „Plissee"[39] eines „zuletzt angehabten Kleides"[40] und das unvollkommen Bedeckte, Hannas Achselhöhlen: „der Gedanke an die Möglichkeit, daß Dir andere Männer den ,Hof machen' könnten (... ), versetzt mich in wildeste Raserei. Und gar erst - - daß Du mit anderen tanzen könntest (... ) Und - wenn Du in Abendkleidern bist - -, gebe nie die Arme und gönne niemandem anderen den wahnsinnig berauschenden Blick in die schwüle und süße Heimlichkeit Deiner Achselhöhlen."[41] Berg bejubelt Hannas bourgeoise Stofflichkeit und der Schock einer solchen Erfüllung wirft ihn nach vor: ,,Wie sehr ich an Dir die Art liebe Deiner Lebensführung: die Leichtigkeit darin, ohne alle Pedanterie, die Beweglichkeit in der Lebensweise des Alltags, die natürliche Eleganz und Anmuth in Deiner Kleidung, die ohne jede Ziererei die höchste Stufe der Vornehmheit erreicht; die Art, wie Du diese erotische, laszive Mode in dezente Noblesse umsetzt - ohne dabei auch nur etwas von ihren Schönheitsmöglichkeiten zu opfern."[42] Hanna zu lieben und sich über ihre Natur in die Ausschweifung führen zu lassen: Bergs Hartnäckigkeit ist nichts anderes, als die Verteidigung des lmaginariums: ,,(... ) (o, laß mir den Wahn, daß wir uns trotz Getrennt sein bis an unser Ende, ,besitzen'!) (... ) Wie es auch sei und was noch Scheußliches kommen möge - - : eins steht unverrückbar fest für alle Ewigkeit: die Treue, die mehr noch ist als alles Liebesglück und alles Liebesleid, so doch nicht ohne Glück verlaufen wäre: ohne das Glück nämlich, das ich bis gestern noch mit mir herumtrug: von Dir rückhaltlos geliebt zu werden, wenn dieses Glück auch nie in Erscheinung träte, sondern nur unsichtbar zwischen uns schwebte - - -"[43]

Bergs sprachlich inszenierte Erotik streift immer wieder den Blick: es ist das Auge, das triumphiert. Das Auge ist dort, wo die Liebe ist. ,,Ubi amor, ibi oculus" (Albert der Große): ,,(... ) daß wir uns immer wieder einmal sehen, und uns auch physisch vergewissern dürfen, von unserem untrennbaren Verbundensein - - und sei es auch nur durch einen um einen Grad stärkeren Händedruck - - durch ein Berühren - - des Randes - - unserer -- - Schuh - - - Sohlen. Denn auf den einen Blick der Augen, der mehr sagen könnte als alle Berührungen, mußten wir ja diesmal verzichten."[44]

(Am schönsten und seltensten sind violette Augen in Moscheen, weiß die arabische Literatur). ,,L'oeil ecoute" (,,das Auge lauscht") hatte schon Paul Claudel[45] seine Aufsätze zur Kunst überschrieben. Marcel Proust sprach von „einem Blick, der Leib und Seele dessen, was er anschaut, berühren, einfangen, mit sich forttragen möchte"[46] und im Paris der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gerät der Akt des Sehens zu besessenen Versuchsreihen in den Künsten.[47] Halten wir einen Moment inne um dem Akt des Sehens einige Ausführungen zu widmen. Schriftsteller wie Michel Leiris,[48] Georges Bataille,[49] Robert Desnos, Ethnologen und Analytiker wie Marcel Griaule und Jacques Lacan[50] und Maler wie Max Ernst,[51] Pablo Picasso,[52] Victor Brauner,[53] Andre Masson und Alberto Giacometti[54] erkundeten in den Dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahr hunderts den in der „Augenhöhle des Schädels eingefassten Edelstein."[55] Im Jahre 1929 erschien jene legendäre Nummer von „Documents",[56] die um den Mythos des Auges kreist. Stiche von Jean lsidore Grandville stehen neben der Bilderwelt des Kinos und zeitgenössischen Dreigroschenromanen; Desnos, Griaule und Bataille stellen erhellende Aufsätze vor. Batailles[57] Text führt das Auge als „kannibalischen Lecker bissen" an. ,,Das Auge", schrieb er, ist eines der Dinge, ,,deren extreme Verlockung vermutlich an der Grenze zum Schrecken liegt". In dieser Hinsicht könnte das Auge in die Nähe von „scharfe Klinge" gerückt werden, deren Anblick ebenfalls heftige und widersprüchliche Reaktionen hervorruft. Zur Illustration dieser Ausführungen führt er die berühmte Szene des Films von Louis Bunuel „Un chien andalou"[58] (1929) vor, in der ein Rasiermesser in das strahlende Auge einer jungen und bezaubernden Frau schneidet. Bataille erläutert einerseits eine mögliche, drohende Organverletzung,[59] andererseits beschreibt er das Auge als Lanze, die sobald sie gezückt, zum Blick geworden ist, den durchbohrt, der einen seinerseits anblickt. In der Erzählung „Geschichte des Auges" wird Bataille das Bild des Auges und das Bild eines weiblichen Geschlechtsteiles vermengen. Hans Bellmer[60] illustrierte diese als lange anstößig geltende Schrift und zeichnete die Vulva als nach innen gestülpte und gefaltete Form eines Phallus, der sich jederseits nach außen wenden und sich aufrichten kann und darin der Struktur des umgekehrten Handschuhfingers gleicht, den Merleau-Ponty im Zusammenhang mit dem Blick erwähnt. Als passiver, weiblicher Behälter des Sichtbaren, als hohle Form, in der sich das Reale abbildet, ist das Sehen auch phallusartig und kann sich aus seinem Hohlraum nach außen entfalten, erheben und auf das Sichtbare[61] hinweisen. Der Blick ist die Erektion des Auges.

Berg macht aus jedem morphologischen Zug Hannas einen Gegenstand der Lust. Auf dem langen Weg der Annäherung an Hanna Fuchs spielt die Photographie in jedem Abschnitt eine bedeutende Rolle. Man betrachtet also so, wie man begehrt oder wie man phantasiert. Bergs Augen waren so empfindlich wie photographische Platten, und er wünscht sich Augen im Zustand der Lust, er möchte mit den Augen in Photographien von Hanna spazieren gehen, so kann er ungesehen seine Lippen auf die ihren legen:

,,Dann versprachst Du mir ja ganz offizielle Amateurphotographien von Euch Vieren ... Die muß ich kriegen. Ach ich bin ja so wahnsinnig gewesen, daß ich mir keine von Dir mitnahm. Jetzt erst sehe ich, was das für mich bedeutete!!! Und wie ich unsagbar leide, dass ich keine (und sei es die schlechteste!) von Dir habe!!".[62]

Hanna Fuchs drängt Alban Berg ins Maßlose, in ein maßloses Begehren, in eine maßlose Musik- und Spracharbeit: ,,Könnte ich Dir wenigstens alle Tage schreiben! Wie viel leichter wäre es, diese unbeschreiblich harte Trennung zu ertragen, wenn wir voneinander durch eine Art Tagebuch wüßten, das jeder von uns führte und das wir uns alle Wochen oder wenigstens alle Monate einmal zukommenlassen könnten. Denn was bedeutet schließlich das, was wir durch die offizielle Korrespondenz zwischen Dir und Helene (und wofür ich ja gewiss nicht undankbar bin) voneinander erfahren, im Vergleich zu dem, was wir wirklich erleben - im Vergleich (laß mich nur von mir schreiben:) zu der bis zum Wahnsinn erhitzten Phantasie, auf die ich in meinem Liebesleben - und das ist ja das einzige Leben, das ich noch lebe - angewiesen bin. Ja die Qual dieses auf allen Linien Entsagen-Müssens ist manchmal so fürchterlich, daß ich mich fast ängstige, Dich mir auch körperlich vorzustellen oder gar das einzige Bildchen, das ich von Dir geraubt habe, anzusehen. Und wenn ich mir vorstelle, daß ich Dich in ein paar Wochen vielleicht sehen werde, Dich schauen darf, Deine Hand küssen und drücken werde dürfen - - - so kann ich eigentlich nichts anderes glauben, als daß ich in diesem Augenblick vom Schlag gerührt umsinke."[63]

Doch wie begrenzt und doch unbegrenzt sind die Möglichkeiten, einander zu begegnen. Berg schmiedet „alle möglichen und unmöglichen Pläne[64]", um mit Hanna in Verbindung zu treten. Beim Telefonieren mit der Geliebten gerät Bergs „Herz, das zum Zerspringen Unruhige"[65] in Zuckungen. Was ist er anders als ein Klangsüchtiger, völlig berauscht von der Überwindung des Raumes und der Übermittlung von Hannas Stimme. Stimme ist wie Fett, das alles durchdringt, Stimme vermag den lauschenden in eine Verzückung oder wie Guillaume Apollinaire sagt, in eine akustische Halluzination[66] zu versetzen. Konstantin Kavafis (1863-1933) aus Alexandria verdanken wir ein meisterhaftes Poem über die Verzauberung, die Stimmen auszulösen vermögen.

Stimmen (1904)

Ideale und geliebte Stimmen derer

Die gestorben sind, oder derer

Die für uns verloren sind wie die Toten.

Oft sprechen sie in unseren Träumen,

Oft, im Gedanken versunken, hört sie der Geist.

Und mit ihrem Echo kehren für einen

                                                    Augenblick

Die Geräusche der Urdichtung

                                                 Unseres Lebens zurück

Wie Musik in der Nacht, die in der Ferne

                                                   Verklingt.[67]
  

Die Schreiben an Hanna werden der Raum des Triebs[68] und es sieht ganz so aus, als würde die silberne Bleistiftmine[69] Bergs jedesmal zwischen dem wunderbaren Leben und dem schrecklichen Tod zaudern. Die ganze Schreibfläche des einen bedeckt die ganze Körperfläche des anderen. Hanna genießt Bergs Gebärde des Verstreuens. Die Wonne läßt ihr Gesicht aufleuchten. Wie sollte man nicht Dankbarkeit empfinden, wenn man dergleichen Gaben erhält. Aber die Gabe darf den gierigen Augen der Welt nicht dargeboten werden. Annehmen bedeutet, dass die Begierde nicht enden wird. Um diese entfesseln zu können, schenkt Hanna Alban einen goldenen Füllhalter.[70] Berg hält bei seiner Arbeit das Instrument, das Linien und Farben setzt, das vom Raum und Material Besitz ergreift, so fest und so zart wie möglich in der Hand. Die königliche Eleganz des Füllhalters beschwört die Gefahr, sich im Nichts zu verlieren. ,,(... ) Daß ich in dem Moment, wo ich arbeitend Deine Füllfeder ergreife, bei mir, also bei Dir bin, ebenso wie ich, wenn ich im Gedanken bei Dir bin, bei mir bin."[71] Hat sich also Hanna Fuchs, indem sie Alban Berg verwandelte, selbst einen Gegenstand des Erstaunens schaffen wollen?

Bergs Ausweitung der Korrespondenz bis ins Jahr 1934 verknüpft sich früh mit der Demonstration einer musikalischen Textur für Hanna, gedacht als ein Bekenntnis eines „Liebe-Erlebens".[72] Die melancholische Selbstversunkenheit des Liebenden erschließt sich in einem Brief an Hanna vom Juli 1925, in dem Berg musikalische lntensitätsfiguren eines obsessiven lnneseins mit der Geliebten zu artikulieren beginnt, denn zu überleben hat das Werk, ein anderes Mittel hat er nicht.

„Wird es mir vergönnt sein, die Ruhe zu finden, in Tönen das auszudrücken, was ich in und seit diesen Tagen in P.B. [Prag Bubenec] erlebt habe? Heute könnte ich's noch nicht: ich kann keine Taste berühren, keine Notenzeile aufschreiben - so blutet ununterbrochen diese schwerste Wunde, die ich mit mir wohl zeitlebens herumtragen werde. Am liebsten schriebe ich Lieder. Aber wie könnte ich!: die Worte der Texte verrieten mich. So müssen es Lieder ohne Worte sein, in denen nur der Wissende - - nur du wirst lesen können. Vielleicht wird's ein Streichquartett.

Im Rahmen dieser vier Sätze soll sich alles abspielen, was ich seit dem Moment, wo ich euer Haus betrat, durchmachte. Von den, 1.- im matten, edlen Glanz der Beschau lichkeit in Eurer Mitte verlebten ersten Stunden und Tage und Abende, 2.- über die still und immer süßer keimende Liebe zu Dir 3.- über die beseligendste halbe Stunde und ganze Ewigkeit jenes Vormittags 4.- bis zu der dumpfen eisigen Nacht der Trennung des Alleinseins, der völligen Hoffnungslosigkeit, Entsagung und Öde. - Das wären vier Sätze! Wenn mir Gott die Kraft gibt, sie zu schreiben, so ist das ja auch nichts anderes, als ein Mittel, mich mit Dir in Verbindung zu setzen. Dann hätte meine Musik wenigstens einen Sinn.

Ich fand heute im Baudelaire[73] ein Gedicht, das so recht den Inhalt des letzten Satzes wiedergebe:

Zu Dir, Du einzig Teure, dringt mein Schrei
Aus tiefster Schlucht, darin mein Herz gefallen
Dort ist die Gegend tot, die Luft wie Blei
Und in dem Finstern Fluch und Schrecken wallen.

Sechs Monde steht die Sonne ohne Warm.
Im sechsten lagert Dunkel auf der Erde,
Sogar nicht das Polarland ist so arm
Nicht einmal Bach und Baum, noch Feld und Herde

Erreicht doch keine Schreckgeburt des Hirnes
Das kalte Grausen dieses Eis - - Gestirnes
Und dieser Nacht, ein Chaos riesengroß!

Ich neide des gemeinsten Tieres Los
Das tauchen kann in stumpfes Schlafes Schwindel! - -
So langsam rollt sich ab der Zeiten Spindel! -

(... ) Wenn Du diesen Brief (womöglich mehrmals) gelesen hast, verbrenne ihn und vernichte die Asche! Aber denke immer so an ihn, als stünden seine Worte vor Dir u. alles, was ich hineinlegen wollte, als schwaches Symbol meiner ewigen, unsterblichen Liebe. -"[74]

Am 13. Juli 1926 berichtet Berg schließlich seinem Lehrer Arnold Schönberg, daß er „mit großer Hast, ja Nervosität, an einem Streichquartett arbeite, an mehreren Sätzen zugleich."[75] Wer in den Briefen Bergs weiterblättert, findet im Brief an Hanna Fuchs vom 23. Oktober 1926 die Darlegung des Konstruktionsprinzips des Streichquartetts; in dem magnetischen, streng organisierten Zwölfton-Stück, das nur unter geheim zu haltenden Qualen zustande kam, konnte Berg Hanna sein Eigentliches enthüllen:
„Eine andere vague [sic] Hoffnung für die Zukunft: die 10. Aufführung des Wozzeckin Prag, wenn es zu der überhaupt kommt!
Noch eine andere: die Aufführung des Quartetts in Prag, das ich (noch darf es niemand wissen!) Zemlinsky ,widme'. (Obwohl es Dir gehört!). Aber die Aussicht, daß ich zu so einer Kleinigkeit nach Prag reise, ist eigentlich gleich Null. Und so bliebe davon nur meine geistige Gegenwart, wenn es zum ersten Mal Deinen Ohren erklingt. Wird die Musik, trotz aller Modernität so stark sein, daß sie zu Dir dennoch spricht und so stark und eindeutig spricht als sie gedacht ist. Gedacht als ein Bekenntnis (das aber niemand was angeht, als Dich!) unseren Liebe-Erlebens! Vom Beginn meines im Mai 1925 nach Prag Kommens: dem ersten Satz, einem Allegretto gioviale mit seinem fast unverbindlichen, freundlichen Einleitungscharakter. Freilich ist dieser Satz schon, wie das ganze Werk (ich nenne es Lyrische suite, da von all dem noch niemand etwas weiß, darfst Du das natürlich offiziell auch nicht wissen. Um Gottes willen ,versprich' Dich daher diesbezüglich nicht! Nicht einmal der Titel ist bekannt!) voll von geheimen Beziehungen unserer Zahlen 10 und 23 und unserer Anfangsbuchstaben H F A B (die ja, verschlungen, auch die Anfangs- und Endtöne des Tristan[76]-Themas sind.)

Aber schon der II. Satz spricht eine andere Sprache, das Andante amoroso (eine Musik, die, glaube ich, die schönste ist, die ich je schrieb) zeigt Dich und Deine süßen Kinder in drei Themen, die rondoartig immer wiederkehren. Wenn gegen Schluß das Deine, das Schönste, Wärmste und Innigste, über den zwei andern, dem etwas slawisch angehauchten Munzos und dem ostinaten zum letzten Mal erstrahlt, muß, glaub' ich, auch ein ahnungsloser Hörer etwas von der Lieblichkeit verspüren, die mir vorschwebte und mir immer vorschwebt, wenn ich an Dich, Lieblichste, denke.

Der III. Satz, Allegro misterioso, schildert das anfangs Ahnungslose, Geheimnisvolle, das Flüsternde unseres Beisammenseins, in das, als Trio extatico der erste kurze Liebesausbruch eingebettet ist, das dann auch im IV. Satz, dem Adagio affettuoso, zugrundeliegt. Hier erst entfaltet sich das dort und wie ein Blitz einschlagende Liebesbewußtsein zur großen unendlichen Liebesleidenschaft. Die zuerst von mir überschwänglich gesprochenen Worte, Du bist mein Eigen, mein Eigen!' (aus Zemlinskys ,Lyrischer Symphonie'[77] notengetreu zitiert) wiederholst Du in süßer, ganz verhaltener Verträumtheit.

Aus diesem, kurzen, Glück reißt Einen das Presto delirando des folgenden Satzes (V.) mit seinen jagenden Pulsen, seinem in die schale Dumpfheit der Nächte immer wieder hineinplatzenden Delirium, um schließlich im letzten Satz, Largo desolato (VI.), den Höhepunkt der Verzweiflung und Trostlosigkeit zu finden.

Ja bei Gott:
,Erreicht doch keine Schreckgeburt des Hirnes
das kalte Grauen dieses Eis-Gestirns
und diese(r) Nacht - ein Chaos riesengroß !'

Wird jemand außer Dir ahnen, was diese Töne, welche vier einfache Instrumente so vor sich hin spielen, zu sagen haben? Wird man, wenn sie am Schluß nacheinander aussetzen und ganz verlöschen, die unendliche Traurigkeit verspüren, die jenem kurzen Glück gefolgt ist, das , - - - so Iangsam rollt sich ab der Zeiten Spindel ' ? Wenn Du es, meine Hanna, nur spürst! Dann ist es nicht umsonst geschrieben. Wenn Du nur, meine Hanna, spürst wie ich Dich liebe; dann hat nicht umsonst geliebt Dein Alban."

Nach der im Januar des Jahres 1927 erfolgten Uraufführung[78] der „Lyrischen Suite"[79] durch das Wiener Streichquartett Rudolf Kolisch,[80] folgt ein Reigen von weiteren Aufführungen[81] in europäischen Städten in den Jahren 1927 bis 1931. Der rapide Erfolg erregt den Komponisten, ein narzisstischer Wunsch nach Ruhm ist unverkennbar. Beglückt empfängt Alban Berg am 13. Dezember 1927 aus der Feder Soma Morgen sterns einen Bericht über die Aufführung der „Lyrischen Suite" in Berlin durch das Kolisch Quartett.[82] Blicken wir in das Jahr 1928. Um ein „paar Stunden im Jahr"[83] mit Alban zusammen zu kommen trifft Hanna Fuchs im Wonnemonat Mai in Wien ein, um in Gegenwart des Geliebten einer Aufführung der „Lyrischen Suite" beizuwohnen. Wie beglückend können Konzertabende im Dunkel sein! Berg dankt in einem Brief für das Beisammensein, wo er sich mit Hanna „eins wähnte wie nur Menschen eins sein können (... )Man sagt, man könne sich Liebe und Leid von der Seele wegschreiben. Mir scheint: mit der Lyrischen Suite (die Du nun gottlob, gottlob! gehört hast und in meiner Gegenwart!) hab' ich diese Gefühle Dir von der Seele weggeschrieben."[84]

Als gelte es, dieser Musik den schmerzlich widerständigen Puls zu fühlen, lässt Alban Berg Hanna im Juni 1928 den „einzigen Brief, der Sinn hat"[85] übermitteln, denn er weiß, dass ein Brief „nur ein Tropfen im Meer"[86] der „Liebe ist." Dem Brief vom 7. Juni 1928 ist eine kostbareGabebeigefügt: die mit Eintragungen Bergs versehene Taschen partitur der „Lyrischen Suite": ,,Der Glücksfall, dass ich Dir durch A [Alma] oder Franz [Werfel] schreibe, tritt ja immer seltener ein. Ja du bist noch nicht einmal im Besitz des einzigen Briefs, der Sinn hat, des dir geweihten Exemplars der Lyrischen Suite. Aber jetzt wird es Dir Franz wohl mitbringen, zugleich mit diesem Brief und einem Dir in der Stunde Deiner Abreise von Wien geschriebenen."[87] In der Qual und der Freude seiner Arbeit an dem Ton- und Buchstabenkunstwerk hielt er immer wieder inne, am liebsten hätte er vielleicht auf Gazellenleder geschrieben und die Gabe in einer Bambusrolle übersandt. Von einer Art Rausch erfasst, wird Hanna Fuchs das Liebes objekt bis an ihr Ende hüten, allein darum besorgt, die Gabe wachsen zu lassen.

Die Widmungspartitur,[88] dieser schmale Noten-Band, dokumentiert das ,desir d'ecrire',das Begehren zu schreiben' (Roland Barthes). Aus den Abgründen des Begehrens bringt Berg ganz kleine oder große Textinseln, Buchstaben und Satzsplitter mit. Die Fläche, auf der sich Bergs Sprache entfaltet, ist die Partitur des Erstdruckes[89] (1927) der „Lyrischen Suite". Der Band besteht inklusive des Porträtfotos, der Titelseite, der Vorrede von Erwin Stein und der Widmung ,FÜR MEINE HANNA', aus [90] Seiten. Die Sorgfalt, die Berg darauf verwendet, der Geliebten die Konfiguration der ,Lyrischen Suite' zu erklären, zeigt den Eifer eines Besessenen. Berg benutzte drei verschiedene Stifte und Tinten, hauptsächlich rot, manchmal blau, und nur im II. und VI. Satz wird auch grün verwendet. Berg verfügt über die beneidenswerte Gabe des koloristischen Ausdrucks und erhebt die Taschenpartitur zum bunt schillernden Paradiesvogel. Der Band wird über weite Strecken zu einem Seherlebnis, das Geist, Emotion und ästhetische Empfindungen zu gleichen Teilen anregt. Auch in den Skizzengruppen[90] der „Lyrischen Suite" verwendete Berg stupend eine Vielzahl von Stiften und Tinten, um die verschiedenen Variationen der Ton-Reihe zu verdeutlichen.

Der vollständige Autograph[91] - ausgeführt mit Bleistift auf 14-linigen Notenpapieren - ist die früheste Niederschrift der Quartettsuite. Polychrome Explosionen in grün, rot und blau sind unter das Graphit des Bleistifts gemischt und markieren den Wuchs des Zwölfton-Werkes. Rot explodiert und verzehrt sich selbst. Blau ist unendlich. Grün kleidet die Erde in Stille, verebbt und flutet mit den Jahreszeiten. In ihm liegt die Hoffnung auf Auferstehung.

Bergs Partiturblätter der „Lyrischen Suite" sind auslotende und ausfällige Vorstöße in alle Richtungen der Zwölftonreihe.[92] Bergs Bleistift, der sich reiben, schärfen, feilen und verschleifen läßt, besiedelt die Papiere: Noten neben Noten mit langen Notenhälsen. Hälse voller Liebesgeflüster wie auf Köpfen veronesischer Meister: Silbergraue Ellipsen beginnen sich auf sandfarbigen Notenbögen niederzulassen. Beim Durchblättern des Notenhaufens fallen die Wechselbeziehungen sich überlagernder, divergierender und kohärenter Strukturen ins Auge. Berg setzt bei der genialen Bastelei an der „Lyrischen Suite"[93] suggestive Graphen aufs Papier. Verworfenes geht in Flammen auf, denn das Reich der Leidenschaft kümmert sich wenig um Konventionen. Die Strichführung scheint mit verbundenen Augen ausgeführt - einzig das Begehren treibt die Hand, die Hannas und Albans Geschichte in Ton-Tropfen verwandelt.

Die Lyrische Suite empfing ihre Nahrung auch aus der geographischen und kosmischen Position, in die Berg aufgebrochen war. Die Notation der Quartettsuite erfolgte in der Einsiedelei, in Trahütten[94] gelegen in 1000 m Seehöhe am Fuße der Koralpe. Den ersten Satz beendet Alban Berg im Herbst des Jahres 1925, und der Schreibtrieb wuchs über den Winter in das Sommergrün hinein - der zweite Satz ist mit 12. Juni 1926 datiert. Lehmgrün ist die Luft, als Berg Ende September 1926 den sechsten Satz des Quartettes zu Ende führt.

Das Auge des Betrachters genießt das Gewimmel der Farbstifttupfer im Bleistiftgebiet. Farbe[95] ist gewöhnlich der Ort des Triebs, denn Farben wollen die Erregung unterbrin gen. Wie in Atlanten auf den Vulkankarten die Angabe glühendheißer Zonen fasziniert, taucht inmitten der Wellenbewegung ein Geschmier auf. Das Auge entziffert[96] das eingeschriebene Baudelaire Gedicht „De profundis clamavi" nur allmählich. Vers und Ton: Baudelaire und Berg, der Dichter und der Musiker, sie waren wie zwei Bäche, die zusammentrafen, um einen dritten zu bilden.

Der Farbstoff, den Berg ein Jahr am Notenpapier aufgehäuft hat, das Grau-Schwarz des Bleistifts, wird mit all der Magie, die Buntstifte ausüben, immer wieder vermengt. Nahe einer Kohlezeichnung ist der 57-seitige Autograph der Partitur der „Lyrischen Suite" ein Schlingwerk; es sind nicht so sehr die Tonfolgen, die an der ästhetischen Besonderheit der Komposition imponieren, als die von der Hand Bergs hinterlassenen Graphen: Da ist ein gewisser Zug zur Kalligraphie, die auch andere Partituren auszeichnet.

Die Mine des Bleistifts entstammt der Erde, Farbe führt zu allererst nach unten, weit unter das Sichtbare. Mit all dieser Alchimie der Tiefe[97] ist der Schreibakt Bergs verknüpft.

In der Widmungspartitur begibt sich Bergs Körper in den Zustand der Sprache, quasi parlando. Eine Rede, die strömt, eingeschlossen in visuelle Kontraste, damit sie aufgrund der ihr eigenen Leuchtkraft das Werk erschließt. Notizen und Partitur bilden somit eine einzigartige, gedrängte, kohärente Figur. Worte werden an die Noten direkt angeheftet oder eher noch gehen sie aus ihnen hervor, im Gleiten der Worte, die die Noten anstecken, oder einen Stoß auslösen, erreicht Schreiben eine Schneeflocken bewegung. Bergs Worte tauchen in die kleinsten musikalischen Vibrationen. Schreiben ist da, um ein paar Spuren dessen aufzusammeln, was sich unerbittlich zersetzt, halb verwischte Abdrücke dessen, was war und was so niemals mehr in der Vollständigkeit derabsoIuten Liebewiederherstellbar sein wird.

Der Band, dieses lange Gedicht des Begehrens und der Verzweiflung, tragisch und fröhlich in seinem Raunen und in seinem Murmeln, durchsetzt von Schmerz wie auf manchen Bildern von Nicolas de Stael,[98] wenn die Farben verlöschen und von unbe stimmten Abgründen angezogen zu werden scheinen. Der Künstler als exemplarisch Fallender. Eine verschlüsselte Suche nach der Liebe, wo der Körper die Hauptrolle spielt, die er anschließend der Seele zurückgibt, und wo alles sich nur im stummen Lauf der Zeichen und in diesem Zirkulieren des Begehrens erklärt, auf diese Weise eine wahrhaftige Metaphysik der Liebe begründet. Bergs polyphoner Text, in feingliedriger Schrift verfaßt, läßt sich als eine Vielzahl von Subtexten lesen, die sich gleichsam über die musikalische Textur stülpen; der Einsatz der Farbtinten wirkt melodiös, die graphischen Pole haben die Länge und den Elan der Linie und lassen die thematischen Netze und Obsessionen besser modellieren.

Wie ein Stoffgewebe aus Ketten- und Einschlagfäden besteht, so besteht die Wid mungspartitur aus horizontalen und vertikalen Linien; vermengt mit verbalen Flecken und Adern, so daß alles zusammengehört und einem weichen Gewebe gleicht, bei dem alle Fäden an ihrem Platz sind wie bei feiner Seide. Die Farbtusche ist ein Fluß durch Schwarz-Weiß und für Stimmung und Atmosphäre geeignet, auch hinterläßt sie eine mildernde Wirkung des Gedruckten. Wenn die Feder das Papier berührt, gibt es nur noch Unterschiede des Druckes, der Geschwindigkeit, des Winkels und der Richtung. Beim Schreiben wird die Feder vom Daumen und von den Fingern gelenkt, die Schreib bewegung hängt von der Tusche und ihrer dünnen, dicken oder verhältnismäßig feuchten Beschaffenheit und von der Art der Papieroberfläche ab. Somit ist es das Zusammentreffen zweier verschiedenartiger Faktoren, das die Schnelligkeit und Flüssig keit der Bewegung bestimmt oder ihr genaues Gegenteil. Zwischen Schrifttext und musikalischem Text entsteht eine optische wie akustische Brechung, die vielfache Echoeffekte und damit ein textiles Geflecht erzeugt. Die Sprache ist einer Syntax unterworfen, die Töne mathematischen Zusammenhängen, die Farben chromatischen Zusammensetzungen. Denn die Kunst ist ja nichts anderes als das Ausnützen der Stofflichkeit der Mittel, um Ausdruck herauszuholen.

Wenn Berg aus freien Stücken gesagt hat, daß es etwas Geheimes (und von der Forschung lange Ungedeutetes) in der Partitur gäbe, so waren es die Initialen der Namen Hanna Fuchs (H + F) und Alban Berg (A + B), um die die Lyrische Suite in den Haupttönen zentrifugal kreist. Es galt, ,,in dieser Musik immer wieder unsere Buchstaben H, F und A, B hineinzugeheimnissen; jeden Satz und Satzteil in Beziehung zu unseren Zahlen 10 + 23 zu bringen. Ich habe dies und vieles andere Beziehungsvolle für Dich (für die allein - trotz anstähender (sic) offizieller Widmung - ja jede Note dieses Werks geschrieben ist) in diese Partitur hineingeschrieben. Möge sie so ein kleines Denkmal sein einer großen Liebe".[99] Behutsam beginnt Berg die Lektüre der „Lyrischen Suite" anzuleiten, um die tiefer liegenden, verborgenen thematischen Netze zu erhellen. Mit der Anstiftung zur Lektüre muß Hannas Enthusiasmus entfacht werden, ohne den die Kunst nichts wert ist. Nicht in erster, naiver schneller Lektüre, sondern nur in innehaltender kann Hanna die Tonfolge des Werkes studieren, um die Polyphonie zu durchschauen. Lesen reizt zum Vor und Zurücktasten, zum Auffalten der Mehrdimen sionalität, der Zeichenhaftigkeit von Sprache und Musik. Derart ist tendenziell in der Lektüre eine Punktualität der Vertiefungen angelegt.

Auch der eigene Körper - der unentwegt zwischen Schwingungen der Lust und des Schmerzes schwankt - wird ausgelotet. Eine Beziehung zu dem Es seines Körpers wählt Berg mit dem Porträtfoto, den gedruckten Namen in der Widmungspartitur überdeckend, schrieb Berg mit roter Tinte „Alban". Gegenüber dem Foto, auf der Titelseite setzt er oben die Widmung „FÜR MEINE HANNA" - jeder Buchstabe ist hier ein kleines Wesen, das graphische Spiel der Buchstaben - ausgestreut im Partiturraum - kann beginnen.

Für die Taschenpartitur benötigt Berg ein Foto, aber nicht irgendeines, sondern ein ganz ideales.[100] In einem verbliebenen, umfangreichen Fotokonvolut[101] findet sich dieses Foto, das er am meisten geschätzt haben muß, und das er als Stichvorlage für die Taschenpartitur herangezogen hatte, damit dieses Hannas Auge stimulieren könne.

Jede individuelle Geschichte wird durch ihre photographische Geschichte verdoppelt. Man erkennt auf Fotos das Größerwerden des Körpers. Von Kinderphotos [102] bis zu einem Photo in unmittelbarer Nähe knapp vor seinem Tod[103] im Jahre 1935 spannt sich der Bogen der Berg-Portraits.

Berg war ein begehrtes Objekt von Photographen.[104] Die Beschlagnahme des Körpers durch die Kunst-Fotographie passiert in monochromen Farben. Die Aufnahmen - zumeist in der Wohnung, Wien XIII., Trauttmansdorffgasse 27[105]oder auf den Land sitzen ausgeführt - sind einerseits durch die Suche der photographischen Vollendung der Position gekennzeichnet, andererseits dokumentieren sie das Momentane in der Haltung des Portraitierten und die Physiognomie der anwesenden Gegenstände der Zeit. Dem meist Sitzenden dienen Fauteuille, Schreibtisch und das Bösendorfer Klavier als Stützfläche. Ins Auge fallen der Bleistiftspitzerapparat und die mondäne Füllfeder Hannas.

Bemerkenswert sind die extravaganten Mäntel[106] und Anzüge[107] Bergs, die perlweißen Hemden, die Stecktüchlein,[108] der straffe Kravattenknoten, die Verschlaufungen der Fliege.[109] Das Haar ist gescheitelt, manchmal schmückt den Schüchternen eine dunkle Hornbrille. Manche Fotos decken auch bestimmte intime Stellen des Körpers auf: Da ist die unverkennbare Luke zwischen den Schneidezähnen.[110] Immer wieder fällt die brennende Zigarette auf, die zwischen den Fingern oder auch im Mund balanciert wird. Betont eine Vielzahl der Fotos in rotbraun und gelbgrau die melancholische Eleganz des Komponisten, so geben die spontanen Stimmungsfotos in schwarz-weiß Alltagsbilder wieder. Fasziniert bestaunt man die Schnappschüsse vom Leben auf dem lande. Es war die Zeit der Sommerfrische, in der sich die Elite während der heißen Sommer monate in ein großzügiges, schattiges Landhaus[111] zurückzog. Speck, Gans mit Rot kraut, Zeller mit Sauce hollandaise, Erdäpfelpürree und Milchrahmstrudel waren die Gaumenfreuden, die das Land bescherte. Berg entwickelte über die Jahre eine intensive Beziehung zu den Landschaften Kärntens und der Steiermark, alles tönende und farbige der Natur wirkte ganz direkt auf ihn ein. Für die Präzisionsbesessenheit waren Zurückgezogenheit und Stille nachgerade lebenswichtig. Auf seinen Wanderungen[112] streift er Blütentrauben und erinnert sich an die ätherischen Festen der Alpen bei Giovanni Segantini,[113] dessen Aufzeichnungen den jungen Komponisten beflügelten, betonen sie doch die metaphorischen Verbindungen von Blüten[114] und Liebe.

Blüten und Pflanzen versetzten Alban Berg immer wieder in Taumel und Wollust, im Duft der Hyazinthen wird sein Herz am Ostersonntag 1923 schnell trunken: ,,(... ) Im Zimmer stand ein Riesen-Blumenkorb mit ca. 20-30 der herrlichsten Hyazinthen. (... ) Für mich war dieser Korb ein Labsal. Du ahnst nicht, wie es in dem Zimmer roch. Ich liebe diese Blumen so ungemein. Vielleicht, weil es die ersten richtigen Blumen sind, die das Frühjahr bringt."[115] In Träumen erblickt er „langgestreckt wellige Almwiesen mit dunkelblauen Vergißmeinnicht und schwarzen Kohlröschen und brennend roten Alpenrosen und Felsenabhängen mit grauen, zersplitterten Baumruinen und schwarzem Alpensalamander in weißem Geröll und Rudeln von Schneehühnern unter verkrüppelten Zwergkiefern. (... )"[116]

Wie Claude Monet seinen Seerosen-Teichen[117] nicht widerstehen konnte, wird Alban Berg in den letzten, einsamen Lebensjahren im „Waldhaus" in Auen am Wörther-See die Begierden eines Alpen-Gärtners entfalten. Und da gibt es noch einen Blumentraum, der die Neigung von Bergs Körper an der homoerotischen[118] Lust verrät. Ein Liebespaar ist auf einem blumenbestreuten Pfad unterwegs zu einem „Luftschiff", das „weit in den Himmel hinauf- ins Unendliche" stieg: ,,Heute nacht hatt' ich einen schönen Traum!! Ich besaß einen herrlich schönen, riesengroßen Hund, der aber so gefürchtet war, daß niemand sich an ihn herantraute; seine Augen hatten etwas so Rätselhaftes, sein Blick war so menschlich magnetisch, daß ich mich ganz in diesen Blick verliebte! Einst, als ich wieder allein mit ihm war und sich alle anderen Mitmenschen entfernt hatten, verwandelte sich dieser Hund in einen berückend liebreizenden Jüngling, der mich voll Zärtlichkeit umschlang und aufforderte, ihm zu folgen. So schritten wir denn, ver schlungen, er in göttlicher Nacktheit, ich in weitwallender, schwarzer Gewandung, den Menschen entgegen, die uns früher geflohen waren und die uns jetzt voll Freude und Begeisterung erwarteten. Als wir ihnen nahten, begannen sie zu jubeln und schwangen Palmenwedel und wiesen uns einen Weg, der sich blumenbestreut vor unseren Augen öffnete: Da kamen wir, am Ziele angelangt, dicht an eine Gondel, die wir bestiegen und die sich unter lautloser Stille zu heben begann. Wir waren in einem Luftschiff, das immer höher und höher stieg, über der Stadt noch einige Kreise beschrieb und dann sich zu entfernen begann, weit in den Himmel hinauf - - ins Unbegrenzte, Unendliche - - Undefinierbare! - - - ."[119]

Daß der Wunsch fliegen zu können, im Traum nichts anderes bedeutet als die Sehn sucht, geschlechtlicher Leistungen fähig zu sein, zeigte Freud auf. Es ist dies ein früh infantiler Wunsch.

Alban Bergs Lust am Verführen und Entführtwerden, teilte auch Thomas Mann, denn der Garten der Lüste kennt keine Grenzen. Die knabenbegehrende Glut befällt Gustav Aschenbach in Manns Erzählung „Der Tod in Venedig"[120] (1911). Die Liebe des Schriftstellers zu dem „bleichen und lieblichen" Tadzio wird in Choleralüften am Meer der Lagunenstadt ein tödliches Ende finden. Luchino Viscontis große filmische Komposition der Novelle „Morte a Venezia"[121] (,,Tod in Venedig", 1970) zitiert das Adagietto von Gustav Mahlers 5. Symphonie und mit dem Lied für Alt und Orchester aus der 3. Symphonie,[4]. Satz, ließ Visconti die Ephebophilie ausklingen. Das Meer wird zu Sterbelandschaft Gustav Aschenbachs werden, ,,er saß dort, sein Kopf brannte, sein Körper war mit klebrigem Schweiß bedeckt: Tadzio ging schräg hinunter zum Wasser. Er war barfuß und trug seinen gestreiften Leinenanzug mit roter Schleife (... ) Vom Festlande geschieden durch breite Wasser (... )wandelte er, eine höchst abgesonderte und verbindungslose Erscheinung, mit flatterndem Haar dort draußen im Meere, im Winde, vorm Nebelhaft-Grenzenlosen. Abermals blieb er zur Ausschau stehen. Und plötzlich, wie unter einer Erinnerung, einem Impuls, wandte er den Oberkörper, eine Hand in der Hüfte, in schöner Drehung aus seiner Grundpositur und blickte über die Schulter zum Ufer. Der Schauende dort saß wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blicke entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz dem schlaffen, innig versunkenem Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und wie so oft machte er sich auf, ihm zu folgen. Minuten vergingen, bis man dem seitlich im Stuhle Hinabgesunkenen zur Hilfe eilte. Man brachte ihn auf sein Zimmer. Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode."[122]

Seit der Jahrhundertwende und bis in die Dreißiger Jahre hinein entzogen sich Künstler der Unwirtlichkeit der Städte, sie alle einte eine pietistische Naturschwärmerei und Nietzsches Gedichttitel „Aus hohen Bergen"[123] ist auch für Anton Webern, [124] der begeisterte Alpinist liest Goethes „Metamorphose der Pflanze", rühmt „Wurzel, Stengel, Blatt, Blüte". Mit Sonnenaufgang erhebt er sich und ist in dünner Luft unterwegs, umgeben vom Eisblau der Gletscher. Am liebsten möchte er an den Rändern des Himmels arbeiten, dort, wo die unschein bare Edelraute wächst. Mit seinem Wanderstab streift er auf unwegsamen Pfaden den Blütenkelch des Kohlröschens, beugt sich sinnend über das seltene Edelweiß und schläft ein im betäubenden Duft der Alpenwiesen.

Anton Webern schreibt am 6. November 1904, im Anschluß an ein Konzert der Wiener Philharmoniker mit Werken von Mozart, Pfitzner und Beethoven fast programmatisch in sein Tagebuch. ,,Immer klarer offenbart sich mir der Genius Beethovens, gibt mir eine hohe Kraft, die Erfahrung, die letztliche Erfahrung, wo ein Schleier nach dem anderen zerreißt und immer strahlender sein Genie mir leuchtet - und eines Tags wird der Augenblick da sein, wo ich seine Göttlichkeit unmittelbar in hellster Reinheit empfange -- - Er ist der Trost meiner Seele, die nach Wahrheit sucht, schreit. Ich sehne mich nach einem Künstler in der Musik, wie's Segantini in der Malerei war, das müßte eine Musik sein, die der Mann einsam fern allen Weltgetriebes, im Anblick der Gletscher, des ewigen Eises und Schnees, der finsteren Bergriesen schreibt, so müßte sie sein wie Segantinis Bilder.[125] Das Brechen des Alpensturmes, die Wucht der Berge, das Leuch ten der Sommersonne auf den Blumenwiesen, das alles müßte in der Musik sein - eine unmittelbare Geburt der Alpeneinsamkeit. Der Mann wäre dann der Beethoven unserer Tage. Es müßte wieder eine Eroica kommen, eine die um 100 Jahre jünger ist." Anton Webern wird eine solche Musik schreiben, von der Adorno sagte: ,,Vor der Hütte seiner Musik äsen friedvoll miteinander der Wolf der Schuld und das Reh der Sanftmut. Denn der ländlichste Musiker dieser Tage ist der artistischste zugleich; seine Sprache ist der Dialekt der Berge oder das himmlische Latein."[126]

Die menschliche Stimme wird durch den Hauch (,,spiritus") des Menschen gebildet und Paul Klee ist es gelungen mit Farben den Hauch sichtbar zu machen: ,,Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber" (1922) kann als eines der subtilsten Monogramm Bilder der Modeme gelten - die zierlichen Buchstaben scheinen wie mit Nadel und Zwirn in die gobelinartige Fläche gestickt. Die Handhabung feinster Pinsel, spitzer Bleistifte und Federn zeichnet die Werksgruppen der zwanziger Jahre aus. Paul Klee, ein Künstler, der für Denkweisen und Motive des Orients offen ist, legt Herbarien nach Sitte der Naturalienkabinette an und erkundet mit lianenhaften Linien die Strukturen von Blatt und Blütenformen; er komponiert die „Wasserpflanzenschrift" (1924) und erfindet Blumen, die im Linee-Katalog nicht zu finden sind. ,,Dynamoradiolaren" oder „Windmühlenblüten" nennt er die Bleistiftzeichnungen, die 1926 entstehen. ,,Seltsam fruchtbar" (1925) sind Klees "Mikrokosmographien" und die „Zeiten der Pflanzen" (1927) werden in Öl und Wasserfarben vorgeführt. Von „kleinen libellenhaften Bildern" hat Adolf Behne so schön gesprochen und fasziniert läßt man den Blick über das „Botanische Theater" schweifen, das Klee 1924 begonnen, aber erst zehn Jahre später vollendet hat. Der Stoß der Zeichnungen der letzten Lebensjahre zeigt den Absprung in die ungeschickte Hand des Kindes- der Maxime Plinius folgend, die da lautet: ,,nulla dies sine linea", läßt Klee ins terrain vague des Bleistiftgebietes geraten. Klees Kunst sucht ein „Nicht mehr", ein „noch nicht", ein ,,fast".

Einhundertzwanzig Pflanzen wird Karl Bloßfeldt, ein Pionier der Lichtbildnerei, in einem Tafelwerk mit dem Titel „Urformen der Kunst"[127] (1928) in Großaufnahmen erblühen lassen: Die Tiefdrucktafeln begeisterten schon Walter Benjamin, der unter diesen „Riesenpflanzen wie Liliputaner"[128] wandelte, und das „weibliche und vegetabilische Lebensprinzip"[129] darin erblickte. Der Fotograf Bloßfeldt, Inhaber einer Professur für plastisches Gestalten nach Pflanzen in Berlin, schrieb für den zweiten Pflanzenband „Wundergärten der Natur" ein Vorwort - der zweite Pflanzenatlas war wieder mit einhundertzwanzig Tafeln ausgestattet, und zuletzt hat man einundsechzig ,,Arbeitscollagen" entdeckt und publiziert.

Die Zeit, als das neunzehnte Jahrhundert ins zwanzigste kippte, ist die Zeit Bergs. In Wien am Alsergrund, Berggase 19, wagte sich Sigmund Freud in die Tiefen des Unbe wußten und deutet die Träume; hoch in den Bergen, nahe dem Schnee, nahe dem Adler, prophezeite Friedrich Nietzsche: ,,Man muß das All zersplittern, den Respekt vor dem All verlernen." Tausend Meter unter dem Meeresspiegel und auf dem Mond tauchte Jules Verne auf, Bühnenzauber und echte Magie erblühten im Gaslicht des neunzehn ten Jahrhunderts, und es ereigneten sich zu Hauf sexuelle Peitschenspielchen in den Stallungen der Superreichen und schmuddelige Orgien in den stickigen Quartieren des Lumpenproletariats.

Die gerichtete, beschleunigte Zeit hat sich nach und nach in der Moderne flächenförmig über den gesamten Gesellschaftskörper ausgebreitet. Aeroplan, Eisenbahn, Automobil, Telefon, Radio und Grammophon spielen extensive Rollen. Siegfried Kracauers „Schriften zur Massenkultur" bezeugten das „Tohuwabohu verdinglichter Seelen". Die futuristischen Apparate der modernen Zeit hat der Bauhauskünstler Otto Umbehr in der Montage „Der rasende Reporter" im Jahre 1926 ins Blickfeld gerückt, das Maschinen labor explodiert und man hat nie zuvor die Inkunabeln der Geschwindigkeit so fokussiert gesehen wie auf diesem Bild.

Dem Erlebnis der modernen Kommunikations- und Transportmittel[130] verschloß sich Alban Berg keineswegs - in seinem Leben spielen Film, Radio[131] und Telefon extensive Rollen. Auf seiner Visitenkarte funkelt die Telefonnummer „Telefon: Automat 84.8.31"[132] Über das Telefon ist er mit Hanna Fuchs, wie an einer Nabelschnur hängend, stets verbunden, Hannas Prager Telefonnummer ist in seinem Gedächtnis gespeichert:[87].3.2 Vl.[133] Sicherlich haben die Eisenbahn[134] und das Automobil - indem sie den Beobachter auf Reisen rasche Veränderungen der Gesichtspunkte ermöglichen und den Blick auf das wahrgenommene Sujet verändern - bei der Entwicklung der Musik Bergs eine Rolle gespielt. Im Autolärm der Großstädte gerät Alban Bergs Trommelfell in Schwingungen: ,,Jetzt bei der Autofahrt konnte ich ganz gut im Kopf arbeiten",[135] notiert er euphorisch.

Alban Berg und Franz Kafka teilen die Liebe zum Kino.[136] Diesem immer auf der Spur begeistert sich Berg für Pudowkins Film „MA" (,,Die Mutter", 1926) und Eisensteins „Bronenosec Potemkin"[137] (,,Panzerkreuzer Potemkin", 1926). Worum Theater und Oper des Westens sich vergeblich mühten, gelang Eisenstein in Filmen, die das Subjekt Werden der Massen erschließen. In den Filmen Eisensteins ereignen sich unge heuerliche Disproportionen wie sie auch in Romanen Tolstois aufblitzen, die Eisenstein bewunderte: etwa die „kriminellen"[138] Umarmungen von Anna Karenina und Wronski. Im Theater kam es bei Erwin Piscator und Max Reinhardt[139] zu einer architektonischen und geometrischen Behandlung der Menge, die später im expressionistischen Film und insbesondere in Fritz Langs „Metropolis" zum Dekoratismus der Masse führen wird, während Eisenstein die Individuation der Masse ins Mythische drängt.

Die Ästhetik Eisensteins hat die Revolution[140] im Auge. Die neurasthenische Stimmung kurz vor der ersten russischen Revolution von 1905 gibt Andrej Belyj in einem expressiven Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog wieder. In Belyjs „Petersburg"[141] (1913/14) ist die Irrealität des Moloch Großstadt - wie sie der Philosoph Georg Simmel beschrieben hat - Drehscheibe der Romanhandlung. Nebel und Nacht nisten im Asphaltdschungel von Sankt Petersburg, dessen tönendes Denkmal die Peter und-Paul Kathedrale ist: ,,Die Trottoirs flüsterten und schlürften unter der Rotte steinerner Riesen-Häuser"; ,,am anderen Ufer der Newa erhoben sich die riesigen Gebäude und warfen in den Nebel feurig entzündete Augen."[142] Bizarre Großstadt darstellungen und das Lebensgefühl der Menschheitsdämmerung[143] durchziehen wie ein schwarzer Strahl Malerei, Literatur, Film[144] und Theater der Modeme. Die Grund erfahrung der Moderne - in Hofmannsthals Brief an Lord Chandos durch die Metapher erfaßt, daß die Worte im Mund zerfallen wie modrige Pilze - haben entstehende Künst lerkollektive (Expressionisten, Dadaisten, Futuristen, Kubisten und Surrealisten) geteilt: Das Aas am Notenschlüssel verankerte die Schönberg-Schule.

Die experimentelle Kühnheit des russischen Stummfilms zwischen 1925 und 1930 scheint mit der leisen Formel der lkonenmalerei signiert, die da lautet, der Maler habe das Bild: ,,gemacht". Der Mensch, der aufgenommen wird, erklärt der Filmkünstler Pudowkin, ist nur Rohmaterial für die zukünftige Komposition seiner Gestalt im Film, bewirkt durch Montage. Wsewolod Pudowkin[145] und Sergej Eisenstein inszenierten die Gebärden des Schmerzes und der Revolte der Arbeiterklasse, Charles Baudelaire sprach von der emphatischen Wahrheit bei den großen Ereignissen des Lebens und in „Potemkin" ist es die Wahrheit der geballten Proletarierfaust, die Eisenstein auf der Leinwand installierte.

Wsewold Mejerhold rief die Massenschauspiele in Moskau unter freiem Himmel ins Leben und ließ Flugzeuge, Schiffe und Motorräder zirkulieren, begleitet von Geschütz donner und gellendem Sirenengeheul. Mit Maschinengewehren bewaffnete Männer und Frauen sangen vom „Reich des Friedens": Im Juli des Jahres 1920, zum Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationale führten 4000 Akteure das Stück „Zur Weltkommune" auf, das die Geschichte der Arbeiterbewegung von 1848 bis zur russi schen Revolution in pathetischen Bildern behandelte.

Die kinematographische Kunst Sergej Eisensteins nimmt den Bildausschnitt, das Einzelbild als Molekularfall der Montage: ,,Wenn Montage mit irgend etwas verglichen werden kann, dann wäre eine Serie von Montagestücken, von Aufnahmen, mit den Verbrennungsperioden eines Explosionsmotors vergleichbar, der das Automobil oder den Trakor antreibt: denn die Montage-Dynamik gibt die Impulse, die den ganzen Film vorantreiben."[146] In dem Essay „Hinter der Leinwand"[147] (1929) zeigte Sergej Eisenstein die filmeigenen Züge der japanischen Kultur auf und erinnerte daran, daß die darstel lende Kunst der Japaner auf dem Montageprinzip begründet sei und weiter lesen wir über die „filmeigene Methode im Zeichenunterricht": ,,Nach welcher Methode geht man bei uns im Zeichenunterricht vor? Du nimmst irgendein weißes Blatt Papier, das vier Ecken aufweist. Dann füllst du es - meist ohne die Ecken nur zu benutzen (... ) mit irgendeiner dösenden Karyatide, irgendeinem hochgestochenen Kapitell oder einem Gips-Dante (... ). Die Japaner gehen die Sache völlig anders an. Hier der Zweig eines Kirschbaums. Und der Schüler schneidet aus diesem Ganzen mit einem Quadrat, einem Kreis und einem Rechteck kompositionelle Einheiten heraus. Er schafft einen Bildaus schnitt."[148] Das Eisenstein-Kino gliedert mit der Kamera: ,,Das Heraushacken von einem Block Wirklichkeit mit der Axt des Objektivs"[149] ist die Maxime, denn das sowjetische Kino will das Auge spalten.

Im Sommer 1930 bestand Berg die Autolenkerprüfung. Mit Kinderaugen blättert der Autofetischist in Automobilprospekten,[150] ventiliert die Preise, gustiert Karosserieformen und -farben und umkreist die Objekte seiner Begierde mit braunen und blauen Farb stiften. Auf vielen Fotos begegnet er uns in der mondänen Sportkleidung [151] der 30er Jahre, sein heißgeliebtes englisches Kabriolett trägt die Autonummer A 30576.[152]

Zu Hauf gibt es Fotos aus dem Sommerfrischeleben[153] mit Helene Berg. Die Berge und die Seen verleiten zum Wandern und zum Schwimmen. Der Hausgarten lädt zum Verweilen unter Obstbäumen ein; der passionierte Raucher, [154] in weißen, kurzärmeligen Hemden tippt unbekümmert an der „Royal- Schreibmaschine",[155] kurvt im Alpenvorland mit der eleganten Ehefrau oder faulenzt im Dorfgasthaus - ein Hauch von Sommer frische-Glück durchzieht das umfangreiche Fotokonvolut.

Ein schöner Fotobeleg des jungen Alban Berg ist ein Paßbilderstreifen:[156] diese Be wegung des Mundes zum Lächeln, das sich der Kamera entgegenstreckt, ist über raschend. Bis zu seinem Tod hat Alban Berg ein leidenschaftliches Interesse für die Photographie bewahrt. Die letzte Aufnahme des Schwärmers gerät zum Dokument einer alternden Existenzschicht: Die Fragilität des Sensualisten, die brüchige Gesundheit tritt hervor - auf diesem Foto schaut man sich die Wunden[157] an, die irgendetwas hinter lassen hat.

Die Lyrische Suite hält eine Komplizenschaft mit der Kurzatmigkeit.[158] Marcel Proust und Alban Maria Johannes Berg waren Astmathiker.[159] Man merkt es der „Recherche"[160] an, daß sie aus den stockenden Atemzügen des Autors ihr ästhetisches Kapital schlägt. So zittert auch die bedrängte Luftsäule Bergs in der „Lyrischen Suite".
Bergs Atem schwillt an und ab, wölbt sich, mutierende Bewegungen wechseln einander ab, die ganze Musik des Streichquartetts dehnt sich zwischen Beschleunigung und Ver langsamung des Atems. Berg hält die wilde Lunge im Zaum wie den Phallus.

Der Atem formt den Rhythmus der „Lyrischen Suite". Das Tempo der lebhaften Sätze wird im 1., III. und V. Satz zunehmend schneller, das Tempo der getragenen Sätze[11], IV. und VI. Satz, immer langsamer.

In einem seiner „Brevier"-Gedichte, bittet der von schwerem Asthma gequälte Dichter Zbigniew Herbert: ,,Herr, II leih mir die gabe, lange sätze zu bilden, derenIlinie von atemzug zu atemzug sich spanntIwie hängebrücken, wie regenbogen, wie das alpha und omegaIdes ozeans II Herr, II leih mir kraft und geschick derer, die lange sätze bilden, I ausladend wie die eiche, geräumig wie ein weites tal, I damit in ihnen platz finden weiten, weltenschatten, I weiten aus dem traum."[161]

Auch Robert Louis Stevenson kennen wir nur als Kranken. Sein Lungenleiden, vermutlich eine chronische Bronchitis, die in den feuchtkalten Häusern Edinburghs kaum zu bekämpfen war, bestimmte unerbittlich den Rhythmus seiner Tage und Nächte. Schon als Kind verbrachte er ganze Monate im Bett, litt unter Fieberanfällen und spuckte Blut. Seine Kinderfrau Allison Cunningham, genannt „Cummy", blieb auf, wenn er nicht schlafen konnte, und vertrieb ihm die Zeit mit Vorlesen. Sein autobiographischer Gedichtband „A Child's Garden of Verses" (1885) ist ihr gewidmet.

Da ist eine Röntgenaufnahme Bergs aufgenommen am 7. Februar 1916. Das Bild zeigt ein bläuliches Gewirr knochiger Linien und verschwommener Organe. Es stellt das intimste Bild Alban Bergs zur Schau, weit mehr als ein Nacktfoto, nämlich das, was das Rätsel in sich birgt und das der Arzt Dr. Isaak Robinson leicht zu entschlüsseln vermag:

„Knöcherner Thorax von paralytischem Habitus. Verdichtung beider Spitzen, besonders links und beider Hillus von adenitischem Typus mit Einlagerung deutlich differenzierter, vergrößerter Drüsenknoten. Typisch tropfenförmiges, hypoplastisches Herz von labilem Durchmesser. Der ortho-diagr. Durchmesser schwankt nicht nur bei In- und Expiration, sondern an verschiedenen Tagen zwischen 10 und 11,[5] cm. Der Körpergröße des Patienten würde ein Herz von 13 cm entsprechen."[162]

Erkrankungen der Lunge machen Fieber und müde. Im Pariser Atelier liegt der schwerkranke Amedeo Modigliani[163] mit seiner Geliebten Jeanne Hebuterne auf einem schmutzigen Schragen. Wir sehen ihn auf einem der letzten Fotos[164] (1916) in einem verbeulten Cord-Anzug vor uns in seinem Atelier sitzen, fünfunddreißig ist er nun. Er hat ein Bein über das andere geschlagen, die linke, lockere Faust erschöpft auf sein Knie gelegt und hält in der Rechten eine glimmende Zigarette. Die Tuberkulose,[165] der Amedeo Modigliani seit neunzehn Jahren sein Werk abgetrotzt hat, hat die Gesichtszüge noch männlicher werden lassen. Mit „schauderhaften Asthma-Anfällen, oft 20 Stunden lang"[166] ringt Alban Berg. Erschlaffungen des Körpers sind die Folge, die Musik schreibt er langsamer, die Lunge bändigt den Schaffungsdrang.

Alles beginnt mit der Haut, mit dem Fleisch. Hinter Modiglianis Kunst beginnt die schwindelerregende Zärtlichkeit, so auch in der Kunst Bergs. Modiglianis Köpfe haben den langen „Schwanenhals voller Liebesgeflüster",[167] die überlangen Notenhälse Bergs ragen in die Höhe, um auf dem kürzesten Weg den Liebessehnsüchten zu folgen.

Da ist Modiglianis Vision einesTempeIs der Liebe ; alle Bildhauereien waren als Säulen zu diesem Tempel gedacht, die Karyatidenskizzen[168] sind Entwürfe dazu, eine große Rolle spielten in diesem Plan alle Zeichnungen, die er rot aquarellierte. Er nannte die Säulen, die er nach ihnen ausführen wollte, ,,colonnes de tendresse", SäuIenderZärtIichkeit , ,,sie hätten zu Hunderten diesen Tempel umgeben."[169] Die Lyrische Suite läßt Berg mit 931 Takten zu einem „kleinen Denkmal einer großen Liebe"[170] emporwachsen. Alle diese Töne, die zwei Geigen, eine Bratsche und ein Violoncello erzeugen, vernimmt man als eine erektile Bewegung, als leiden schaftliches Crescendo, das schließlich Abschied von aller Tiefe des Begehrens zu nehmen beginnt.

Das zartgliedrige Musikkunstwerk ist unweit der Morgenröte, in Atemangst und in einer vibrierenden Überspanntheit zum Abschluß gekommen: ,,30. Sept. 1926,[1] Uhr nachts (Morgen einer Asthmanacht)"[171] lautet die lakonische Eintragung am Ende des VI. Satzes der Partitur, doch dahinter verbirgt sich ein bewegender Schmerzensausbruch. Der Preis dieses Projektes existentieller Selbstverkunstung ist der körperliche Zusammenbruch Bergs: ,,(... ) Die letzten drei Wochen in Trahütten (halben Sept. bis 5. Oktober) [1926] waren die aufwühlendsten Tage dieses Jahres. Nichts mehr hörte ich von Dir - ach, ich wußte ja auch nicht mehr, ob Du mich noch liebst - - und ich weiß es heute ja auch nicht ...... Ich stürzte mich in die Arbeit. Das Quartett mußte fertig werden. Der letzte Satz, das de profundis clamavi: ,zu Dir, Du einzig Teure dringt mein Schrei ... ' mußte endlich niedergeschrieben werden. In fieberhafter Eile (ich wollte ja möglichst schnell nach Wien zurück, da Du Deine Ankunft in Wien für Oktober an kündigtest, wollte ich am 1. Oktober in Wien sein und eigentlich die ganze Zeit krank, komponierte ich an diesem Lied ohne Worte (denn niemand außer Dir darf wissen, daß diese Töne des letzten Satzes den Worten Baudelaires unterlegt sind!) Und beendete in der Nacht vom letzten September den Satz und damit das ganze Quartett. Die Aufregung dieses Erlebnisses (wovon die Komposition nur ein schwacher Abklatsch ist) war aber zuviel: Tags darauf brach ich völlig nieder."[172]

Er wird von dem traumatisierenden Liebeserlebnis mit Hanna nicht mehr loskommen. Von nun an will der Zug der Schatten kein Ende mehr nehmen, Tränen und Trost warten in der Selbstzerfleischung. In einen trostlosen Strom zwanghaften Dahinschreibens wird auch der knapp fünfundsechzigjährige Arthur Schnitzler in seiner Döblinger Villa geraten. Der Dichter des „Reigen" und der „Traumnovelle" ist einsam bis zur Verzweif lung, ,,jede Nacht ein tiefrer Abgrund"[173], verrät das Tagebuch aus dem Jahre 1930. Neunzehntausend Tage auf knapp achttausend Manuskriptseiten vermisst Schnitzler im Zeitraum 1879-1931. Ein schwermütiger Schatten liegt auf leisen Aufzeichnungen, das Tagebuch könnte „mich von aller quälenden Einsamkeit befreien, wenn ich jenseits meines Grabes Freunde wüßte".[174]

Kafkas Lunge zerbricht wie ein Stück Porzellan. Bergs Bronchien scheinen sich jeden Augenblick aufzublähen. Die „Keucherei" übersteht er dank „Codein-Pulver, Morphium, Brom und Nasenpinselungen".[175] Der Dauergast von Bergs Körper, das Asthma und sein hypnotischer Zusammenschluss mit der Musik findet in der Korrespondenz [176] mit Anton Webern immer wieder Erwähnung. Es ist wohl dieses Geräusch, das auf dem Grunde der Musik das zum Klingen bringt, was man nicht zu hören vermag.

Wien,18.11.1911: ,,Trotz größter Schonung u. aller Mittel ist die Athemnot noch nicht dauernd geschwunden."

Wien,19.11.1911: ,,Ich muss eben immer mit meiner elenden Gesundheit rechnen. Ich bin auch jetzt nicht wohl. Ich leide an Gerstenkörnern, gleich 4 an einem Auge. Das Wort ,leiden' ist nicht zu übertrieben, nachdem dieses lächerlich blödsinnige Uebel eine äusserst schmerzhafte Entzündung des Auges u. der ganzen linken Gesichtshälfte nach sich zieht."

Trahütten, 12.10.1925: ,,(... ) drum kann ich Dir vorderhand auch noch nicht viel berichten über meine derzeitige Arbeit am Streichquartett.+ Es geht mir nicht recht von der Hand. Aber ich bin vielleicht auch sehr müd, gesundheitlich nicht auf der Höhe (... ) Es soll übrigens eine Suite f. Streichquartett werden. 6 kürzere Sätze mehr lyrischen als symphonischen Charakters."

Wien,31.10.1925: ,,Mein Lieber, ich bin wieder hier. Leider asthmatisch. Sobald ich Luft habe, hörst Du von mir."

Wien,9.11.1925: ,,Nun haben wir uns, mein lieber Toni, noch immer nicht ausgeplauscht und dabei hätte ich Dir so viel zu sagen (... ) dann kam meine Mutter, die ich 9 Monate nicht sah, u. schliesslich jetzt, wo ich endlich wieder Luft hätte (in jedem Sinn) erhalte ich eben ein Telegramm von Kleiber,[177] ich möge nach Berlin kommen."

Trahütten, 7.6.1926: ,,Tausend Dank, mein Liebster, f. D. Karte (... ) Nach zwei Wochen Hiersein ist es mir endlich geglückt den eingerosteten Arbeitskarren wieder in Bewe gung zu setzen. Ich schreibe am Quartett. Leider daneben auch wieder Korrekturlesen! die ,Wozzeck-Partitur' u. in Kürze den ,Konzert-Klavier-Auszug'. Sehr zeitraubend, wenn ich es auch nur nachprüfe u. kontrolliere."

Trahütten, 28.6.1926: ,,Ich arbeite unentwegt, leider etwas mit nervöser Hast (... ) Ich möchte diese kurze Zeit hier wenigstens soviel skizzieren, um in Wien daran arbeiten zu können."

Trahütten, 26.7.1926: ,,Die Beschwerden meiner Frau sind die gleichen wie immer. Kein Wunder bei diesem Sommer. Ich selbst leide an den nun über 1 Jahr alten Magen (oder Gedärm) schmerzen. Ich muss zu einem Arzt."

Wien,4.9.1926: ,,(... ) ich bin bei meiner Arbeit am Quartett, das ich noch vor Saison beginn fertig kriegen möchte (... ) Dann bin ich auch nicht ganz gesund. Ischias? Sehr schmerzhaft! Ua wir werden alt!)"

Trahütten, 27.9.1926: ,,Mein Lieber, nun bin ich schon da, ohne dass wir uns getroffen haben. Ich war zu all der Arbeit die letzte Zeit noch krank, ein schwerer Katharrh u. entschloss mich - als sich die Gelegenheit dazu ergab - schnell herauf zu fahren, in der Hoffnung schneller gesund und Arbeitsfähig zu werden. Etwas was leider eine Täuschung war die irritierten Asthmaorgane erzeugten fürs erste besonders starkes Asthma u. an Arbeit ist dabei nicht zu denken. Ich lege alles darauf an, bald gesund zu werden, was ja bei diesem herrlichsten Herbst u. dazu da heroben möglich sein muss (... ) Verzeih diesen Brief! Aber ich schreib in schwerer Athemnot!"

Wien,8.10.1926: ,,Mein Liebster, ich bin seit 3 Tagen zurück. Ich war sehr krank u. scheinbar lange nicht wirklich wohl, was augenblicklich sehr peinlich ist, da ich ja wegen des Konzerts am 13. (die unvermeidlichen ,Bruchstücke') bei vielen Proben sein muss (... ) Mein Quartett ist fertig; jetzt geht's an die Reinschrift, bei der noch die letzte Feile angelegt wird u. die Spuren der Werkstatt getilgt werden. Dann kommt endlich für mich der Freudenaugenblick Dir das Ganze zu zeigen. Dank Dir tausendmal für Deinen lieben prachtvollen Brief, der mir ein Labsal in schwerer Krankenzeit war."

Wien,31.12.1926: ,,Ich stecke mitten in den Proben meines Quartetts u. bin in großer Not. Es ist doch wiederrum sehr schwer, jedenfalls viel zu schwer, als dass in der kurzen Zeit (bei so viel Probenentfall an Feiertagen) eine gute Aufführung zustande kommen kann (dies bitte diskret zu behandeln). - Wir sind noch nicht einmal durch das Ganze mit dem ersten (Noten-)studium durch, zwei Sätz werden soviel wie überhaupt noch nicht gespielt. Am Sonntag oder Montag hoffe ich ein Stadium erreicht zu haben, in welchem ein über die gröbsten Züge hinausgehendes feineres Studium einsetzen kann u. da möchte ich Dich vielmals bitten Dir die Sache einmal anzuhören."

Trahütten, 8.7.1927: ,,Ich habe Dir, mein Lieber, lange nicht geschrieben; ich war sehr krank u. bin erst am Weg der Besserung. Ausser Asthma, das diesmal besonders schwer war, bin ich auch sonst ganz herunten und - was das ,Aergste ist: arbeits unfähig."'

Trahütten, 13.7.1927: ,,Wenn es mir jetzt auch etwas besser geht (von kleinen Rück fällen abgesehen), so fühle ich mich dennoch so elend (- als wäre ich plötzlich um 20 Jahre älter -) dass ich zur Arbeit weder Lust noch Fähigkeit habe. (Nur die Qual, arbeiten zu müssen u. nicht zu können!) Nur liegen und - Warten."

Trahütten, 21.7.1927: ,,Neben dem Asthma u. der Qual mit den Schleimhäuten der Asthmaorgane (Heuschnupfen (?), Augenthränen, Niesskrämpfe etz) derzufolge man wochenlang wie besoffen herumgeht, versagten auch die Verdauungsorgane, an denen ich seit über 2 Jahren leide, völlig. Ich durfte tagelang überhaupt nichts essen, um damit wieder halbwegs auf gleich zu kommen. Allerdings, dass es so weit kommen konnte, u. so mit einem Schlag über mich herfallen konnte, sind mehr die Nerven schuld, die eben plötzlich versagten u. keinen Widerstand boten. Und daran ist wohl schuld - da hast Du sehr recht - dass ich mir ,in der letzten Zeit allzuviel zugemutet habe'. Die letzte Saison war wirklich zu strapaziös für mich. Ich habe sie schon als Kranker begonnen. Die 14 Tage im Sept. in Trahütten war ich ja schon so miserabel, dass ich nur mit Aufbietung der letzten Kräfte die ,lyr. Suite' fertig schreiben konnte. Dann kam die Saison mit ihren laufenden Saisonarbeiten. Dazu die vielen Premieren, die Reisen mit ihren unvermeid lichen Aufregungen (2mal Berlin, Prag(!), Zürich, Leningrad)[178] Und zu all dem die rein persönlichen Erlebnisse dieses letzten Halbjahres - - vom Tod meiner Mutter[179] bis zur Operation[180] meiner Frau. Solange es Not tut, ist man diesen Dingen unbegreiflicher weise gewachsen; dann aber klappt man plötzlich zusammen. Und das hab' ich halt jetzt wieder einmal erlebt, wie vor 7Jahren nach Kriegsschluß."

Wenn man seinen Kopf auf die Brust eines lungenkranken legt, hört man Wasserfälle rauschen. ,,Gib mir eine Augenblick die Hand auf die Stirn, damit ich Mut bekomme", wird Franz Kafka am Sterbebett zu Dora sagen. Während seines Aufenthaltes in Muritz an der Ostsee trifft Franz Kafka im Jahre 1923 auf die aus Brzezen stammende junge Polin, Dora Diamant (Dymant). Der Dichter liebt „ein dunkles, ahnungsvolles Etwas, wie aus seinem Dostojewskijbuch[181] entlaufen" und zieht mit Dora nach Berlin-Steglitz. Manchmal träumen sie davon, verheiratet zu sein. Sie würden ein Lokal eröffnen. In Berlin oder in Palästina. Dora würde kochen, Franz wäre der Kellner. Nach einem halben Jahr nimmt der Berliner Aufenthalt ein bitteres Ende, von Tag zu Tag wird Kafkas Zustand schlechter, er ist von ständiger Atemnot, Husten und Stimmstörungen geplagt, für alles unfähig, außer für Schmerzen.

Am 5. April 1924 begibt sich Kafka in Begleitung der Geliebten in das Sanatorium Wienerwald,75 km südlich von Wien gelegen. Er kann nur noch flüstern und wiegt 49 Kilogramm. Gegen das Fieber bekommt er drei mal täglich flüssiges Pyramidon, gegen den Husten Demopon, das nicht hilft. Innerhalb weniger Tage schwillt der Kehlkopf so sehr an, dass Kafka große Schwierigkeiten beim Essen hat und weiter abmagert. Eine Übersiedlung in das Wiener Allgemeine Krankenhaus ist vonnöten und bei der Unter suchung in der Larynkologischen Klinik werden Verdickungsherde an der Hinterwand des Kehlkopfes und von Ödemen befallene Aryknorpel diagnostiziert. Man hat Kafka ein Mehrbettzimmer in der StationBim ersten Stock des westöstlichen Traktes zugewiesen. Die Düsternis des Krankenhauses und der Tod des kehlkopftuberkulosekranken Zimmernachbars Josef Schramme! bedrücken Kafka so sehr, daß er am 19. April 1924 ins Privatsanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg wechselt. Hier sitzt Dora Diamant zusammen mit dem jungen Medizinstudenten Robert Klopstock Tag und Nacht an Kafkas Krankenbett. ,,Ich bin sehr schwach", schreibt er nach einer Woche. Kafka befindet sich im letzten, unheilbaren Stadium der Tuberkulose, allgemein als Schwindsucht bekannt. Die Nahrungsaufnahme fällt ihm immer schwerer, er kann nur breiige oder leicht gleitende Speisen wie Joghurt, Teigwaren, Getränke, bei nach vorn geneigtem Kopf zu sich nehmen. Der Todgeweihte soll den Freund beschworen haben, die Geliebte zu gegebener Zeit unter irgendeinem Vorwand wegzuschicken, damit ihr der Anblick seines Endes erspart bliebe. Dann kam der 3. Juni und sie wurde mit dem

Auftrag fortgeschickt, einen Brief einzuwerfen - so berichtet eine Krankenschwester. Kafka soll es sich darauf aber anders überlegt haben, ein Zimmermädchen musste sie zurückbringen. Atemlos sei Dora Diamant zurückgekommen, einen Blumenstrauß in der Hand. Kafka soll sich ein letztes Mal aufgerichtet haben, um die Blumen zu riechen. Sein besonderes Interesse gilt den Blumen, die ihm umgeben. Er wünscht sich Goldregen und möchte sich besonders der Pfingstrosen annehmen, ,,weil sie so gebrechlich sind". Als „Das Schloss"[182] zwei Jahre nach Kafkas Tod veröffentlich wurde, signiert eine junge Frau Exemplare des Buches mit Dora Diamant-Kafka. Ihr einziges Kind, aus der Ehe mit Lutz Larsk, 1934 in Berlin geboren, nannte sie Franziska Marianne. Wohin sie auch ging, sie trug ein Foto von Kafka mit sich.[183]

Kafkas Schreibakte, die sich in direktem Verhältnis zur unendlichen Potenz seines Begehrens beschleunigten, mündeten in ausufernde Liebeskorrespondenzen. Die „Lust an Briefen"[184] gerichtet an Felice Bauer,[185] Milena Jesenska und Grete Bloch[186] geriet zur blutsaugenden [187] Obsession. Der Briefsüchtige „trinkt die Briefe und weiß nichts als daß man nicht aufhören will zu trinken".[188] Felice Bauer himmelt er als „auf das Blut gequältes, liebstes Mädchen"[189] an und attackiert sie „wie ein Indianer seinen Feind";[190] Milena verrät er schließlich, daß „diese Briefe, so wie sie sind", zu nichts helfen, ,,als zu quälen und quälen sie nicht, ist es noch schlimmer" .[191] Nie sieht er einen Grund innezuhalten: ,,Liebes Fräulein, nun raube ich Ihnen Ihre Nächte, sehe Ihr alle meine Vorstellungen und Fähigkeiten übersteigendes Mitgefühl, wärme mich daran ganze Tage und antworte nicht."[192]

Atemlos, stumm und bloßgelegt bis auf die Knochen stirbt der pensionierte Versiche rungsangestellte Dr. Franz Kafka, einundvierzig Jahre alt, am 3. Juni 1924 an Kehlkopf Tuberkulose im Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling.[193] In der Luft liegt ein kindlicher Zauber, den Dora Diamant erzeugt. Der Sterbende streift mit der Feder noch einige Papierbögen, die in die Literaturgeschichte als „Gesprächsblätter"[194] eingegangen sind.

Schlagen wir in dem Hanna Fuchs gewidmeten Noten-Band einzelne Seiten nach, um das feinnervige Tongebilde der „Lyrischen Suite" besser vor Augen zu führen. Rote Tintenmarkierungen, Klammern und Randtexte durchziehen die deutsch/englisch/ französische Vorrede von Erwin Stein.[195] Die Passagen des V. und VI. Satzes sind von Alban Berg am Rande angestrichen, ,,die Komposition mit zwölf Tönen wird als „lyrisch dramatische" hervorgehoben: ,,Die Entwicklung im großen ist keine symphonisch epische, sondern eine lyrisch-dramatische: eine Steigerung der Stimmungs- und Ausdrucksintensität. Schon die Tempobezeichnungen der sechs Sätze weisen darauf hin. Dem heiteren Gleichmut des Allegretto gioviale folgt ein liebliches Andante amoroso; hierauf ein im Charakter prononciertes, im Ausdruck zunächst verhaltenes Allegro misterioso mit heftigen Ausbrüchen im Mittelsatz, dem Trio estatico, in dem voll strömendem Gesang des Adagio appassionato ist die Klimax der lyrischen Steigerung erreicht, das Presto delirando mit dem Mittelsatz Tenebroso bildet die Peripetie; das Largo desolato schließlich verklingt in trostloser Verzweiflung (... )"[196] In der Einleitung betont Erwin Stein, dass im Finale des Streichquartettes „die scheinbar so gebundene, Komposition mit zwölf Tönen' hier dem Komponisten die Freiheit gelassen hat, die Anfangstakte des ,Tristan' zu zitieren."

Alban Berg, der Meister des Quartetts,[197] verknüpft in der „Lyrischen Suite" Reihen Technik und Tonalität. Mit der Reihen-Technik ist die Zahl als Ordnungszahl eines Reihentons Bestandteil der Komposition. Jeder Satz und Satzteil sei „in Beziehung zu" Alban Bergs und Hanna Fuchs „Zahlen 10 und 23 zu bringen."[198] Berg sah die Zahl 23 als seine persönliche Schicksalszahl[199] an. Willi Reich berichtet, daß Berg am 23. Juli 1908 im Alter von 23 Jahren den ersten Anfang von Bronchialasthma[200] erlitt. Berg starb[201] am 23. Dezember 1935 an einem Darmabszeß. So steht die Zugreise - in Begleitung von „Doktor Wiesengrund" - von Prag nach Wien im Mai 1925 „im Zeichen" der „Zahl 23. Der Waggon hatte die Nummer 946, die Fahrkarte [gleichfalls]".[202]

In der Quartettsuite[203] spielt neben der Zahl 23 auch Hannas Schicksalszahl 10 eine dominierende Rolle. Der Name Hannas zählt 10 Buchstaben, sie wurde am 10. Juli 1894 geboren. Die Zahl 10 findet man in der Metronomangabe ¼ = 100. Fünf Buch staben des Vornamens werden ebenso variiert: ,,Die Zahlen sprechen. Kannst Du glauben, daß es ein Zufall ist, daß uns das Schicksal, das uns auseinanderriß, in glei cher Stunde noch (hier kann man es wirklich einmal aussprechen: ,ausgerechnet'!) in unseren Zahlen 10 und 23 verband, der Nummer, der Fahrkarte 1023, die nur unsere leibliche Entfernung voneinander vergrößern konnte! Wäre es nicht Verbrechen (ich sagte schon einmal: ,Verbrechen wider den heiligen Geist') solchen Schicksalszahlen nicht zu gehorchen?!"[204]

Wie subtil Musik über Zeit und Vergänglichkeit in gänzlicher Abstraktion zu meditieren im Stande ist, zeigt Alban Berg Hanna Fuchs in der Widmungspartitur auf. Berg gibt Einsicht in das Taktgefüge der Komposition, das in mathematisch klügster Überlegung erfolgt ist. Notenbücher werden schwarz gedruckt. Katsushika Hokusai, ein Meister der drucktechnischen Verfahren sagt: ,,Es gibt ein Schwarz, das alt ist, und ein Schwarz, das frisch ist."[205] In den glänzend schwarzen, scharfgestochenen Taktzahlen der Wid mungspartitur bilden alle jene roten Tintenringe, die sie umschließen einen flimmernden Kontrast: Die magisch-absolute Zahlenwelt Bergs rollt auf 931 Takten wie ein Räder werk ab, und die Stetigkeit der Zahlen 10 und 23 fließt in Farben eines sanften roten Feuers.

69 Takte lang ist der 1. Satz: ,,[3] x 23 Takte", der 80. Takt im II. Satz ist mit „8 x 10" und das Satzende mit „15 x 1O" Takten rot markiert. Im III. Satz pulsiert das Vielfache der Zahl 23 im 69. Takt: ,,[3] x 23 Takte", im 92. Takt: ,,[4] x 23 Takte" und im 138 Takt: ,,[6] x 23 Takte". Der IV. Satz ist wie der 1. Satz 69 Takte lang: ,,[3] x 23 Takte". Voller Überraschungen ist der V. Satz, es zirkuliert die Zahl 10. Takt 120: ,,[12] x 10", Takt 210: „21 x 10", Takt 320: ,,32 x 10", Schlußtakt 460: ,,[2] x 23 x 10". Die Rotation der Takte des VI. Satzes endet wie in den Sätzen I und IV in Takt 69: ,,[3] x 23 Takte". Welch numerologische Geheimniskrämerei entzückt das Auge und beglückt das Ohr. Was für eine Zahlenkombination: nur übertroffen von der „Melancholie"[206] Radierung Dürers: 1514 ist der Stich datiert.

Die Tonkonstruktion des ersten Satzes der „Lyrischen Suite" registriert die infinitesi malen Augenblicke des Empfangs im Hause Fuchs-Robettin. Die 69 Takte wirken wie lange Schwenks auf die ersten Stunden, die Berg mit Hanna verbrachte.

Elfenbeinfarben ist die Musik des 1. Satzes, Allegretto gioviale, der die Tonarten F-Dur und H-Dur streift, wobei F-Dur nach Taktzahlen überwiegt: ,,Dieser erste Satz, dessen fast belanglose Stimmung die folgende Tragödie nicht ahnen läßt, streift immerwährend die Tonarten H- und F-Dur. Auch das Hauptthema (die dem ganzen Quartett zugrunde liegende 12-Tonreihe) wird von Deinen Buchstaben F... H umschlossen".[207] Unter den ersten Akkord pinselt Berg mit Tintenblau den BuchstabenFund über dem letzten Akkord in Takt 69 leuchtet der blaue BuchstabeHwieder auf. Der „blaue Himmel"[208] von Hannas Augen blitzt auf. ,,Blau ist die universelle Liebe, in welcher der Mensch badet - es ist das irdische Paradies ... Das Blut der Empfindsamkeit ist blau", sagt so schön der Farbenmystiker Derek Jarman,[209] der seinen letzten Film „Blue" (1993) nannte.

In die Grundfläche des Notenwerkes des 1. Satzes sind F-Dur und H-Dur wie vorbei sausende Asteroiden mit roter Tusche gekennzeichnet. So aufgeregt perlend die Noten, so mathematisch berechnet die kompositorische Form, die sie ordnet. Die Takte 2-4,[42]-44 werden als „Hauptthema" gekennzeichnet. Berg schreibt das Hauptsatzthema mit Allegretto gioviale, Viertel = 100 (Tempo 1) und das Seitensatzthema mit Poco piu tranquillo (Tempo II) an, dazwischen blitzen öfter ein accelerando und ein allergando auf. Berg gibt den ersten Hinweis auf F-Dur im Hauptsatz der Exposition unter Takt 2 in Klammern, dann unter der Bratschenstimme des 5. Taktes sowie unter Takt 13, in der Reprise unter Takt 49 und über der ersten Violine des Seitenthemas Takt 53. Die Tonart H-Dur ist in der Exposition in Takt 23 und Takt 36 eingetragen, in Takt 65 mit einer gestrichelten Linie gekennzeichnet, die bis in die Mitte von Takt 66 führt, wo sie F-Dur begegnet und unter dem abschließenden Hanna-Akkord in Takt 69 endet. Jedes eingetragene, farbige Detail mag eine Antwort sein auf die Fragen, die Hanna stellen könnte.

Berg führt Hanna in der Art eines Don Juan von Takt zu Takt. Das Bimbam von H-Dur und F-Dur ist die großartige Utopie einer Reihen-Extase, die Doppeltonalität F-H und deren Explosion auf dem Papier bedeuten anhaltende Zeit, Verewigung des Augen blicks, sie geben dem Abwesenden und dem Imaginativen eine vermittelnde Weise der Anwesenheit, dem Abstrakten Vorstellbarkeit.

Extrovertiert, gesellig, glücklich musiziert Berg im zweiten Satz. Der 11. Satz des Streichquartettes wird Andante amorosa genannt. Zartrot ist amorosa im Widmungs exemplar unterstrichen. Die Seite 11 der Taschenpartitur sprenkelt Berg mit graziler roter Handschrift:[210] „Dir und Deinen Kindern ist dieses ,Rondo' gewidmet. Eine musikalische Form, in der die Themen, (namentlich Deines) - den lieblichen Kreis schließend - immer wiederkehren."[211] Berg, der Mann zwischen den zwei Frauen, den zwei Müttern. Das Davonfliegen des Mutterbodens hinterläßt Muttermale. Der ersten widmet Berg ver trauliche Briefe und seine erste Komposition: ,,Mein erster Walzer Op. 1. Meiner lieben Mama[212] gewidmet" und die zweite, Hanna Fuchs, entgrenzt sichtlich seinen Musik- und Redefluß.

Hanna Fuchs, die den Kosenamen „Moppinka" trägt, ist Mutter von Dorothea, gerufen Dodo und von Frantisek, gerufen Munzo. Sie ist verheiratet mit Herbert Fuchs-Robettin, dem Eigentümer von Papiermühlen in Prag und Oberösterreich. Die wohlhabende jüdische Familie wohnte im Haus Nr. 593 in Bubenec-Prag und residierte auch in Kamnitz.[213]

Berg gleitet mit Hilfe von Tönen so wundervoll erregt durch Zeiten und Räume, die er mit Hanna teilte und so gerät das Streichquartett zu einer Echolalie von Myriaden sinn licher Augenblicke, der sich die Liebenden aussetzten. Hanna, die Madonna, als wäre sie aus Raffaels[214] Hand, es riecht nach weißen Lilien. Sein Auge fällt auf sie, ihre hochgelben Haarlockenlinien,[215] die flamingofarbene Halslinie, die „rosigen Fersen".[216] Er geht fortwährend dem Echo nach, dem Echo dieses Blühens: ,,Was sind das für Momente unendlichen Glücks, das ich mit Dir (... ) verlebe. Diese Deine Anwesenheit gestern Nachmittag in der Bibliothek, dieses Wunder einer rosa Blüte, das sich da vor meinen zum Bersten vollen Sinnen auftat - - - - diese, unsere Blicke in denen Liebeslust und - Leid eingefangen ist, wie sie noch nie auf Erden erlebt wurden".[217]

Mit lyrischer Emphase inszeniert Alban Berg den Diskurs des Liebenden. Einzig daran hangelt sich die Musik entlang, von Satz zu Satz in grelleren Farben gezeichnet. Der graphische Wirbel, den Berg mit den ästhetischen Polen von Farben, Linien, Klammern und Satzstücken im II. Satz der Taschenpartitur entfaltet, gerät zu einer Augenweide der wunderbarsten Art. Wie Muscheln an versunkene Schiffe, lagern sich die bunten Farbtuschen an das schwarze Notengerüst.

Hanna, Dodo und Munzo werden in der Widmungspartitur im 11. Satz in eine farbige Stofflichkeit getaucht. Ein Geäder von roten, blauen und grünen Linien, die jeweils mit Pfeilspitze und gefiedertem Anfang versehen sind, durchzieht die Notation- wie ein Pfeil, der von der Bogensehne fortschnellt, können die Linien nicht aufgehalten werden: sie gleichen Pfeilen Amors. Von einem Punkt zum anderen eröffnet sich auf 150 Takten ein Dreieck, dessen Grundfläche Hanna, Munzo und Dodo abgeben. Berg macht aus Hanna eine gefühlvolle, überschwengliche, leidenschaftliche Mutter-Seele und empfin det tiefste Beglückung über deren Kinder: ,,Dodo natürlich obenan. (... ) Halt ich doch, wenn ich Dodo umarme fast Dich in meinen Armen, spüre ich Dein geliebtes, wider spenstiges Haar, wenn ich ihren Lockenkopf streichle."[218]

Bei Bergs erstem Besuch im Hause Fuchs-Robettin im Mai 1925 waren eine Spielzeugtrompete und ein Windrad die Geschenke[219] an Hannas Kinder Dorothea und Frantisek. Nicht irgendein Mensch war gekommen, nein - ein berühmter Komponist. Er spricht schön von Musik in einem vornehmen Hause und während langanhaltender, verschie denartiger Unterhaltungen in denkbar bester Gesellschaft trinkt er limonengrünen Wein. Jeder Winkel, jede Stelle, jedes bisschen Raum ist Licht. Farben von Fayancen, Teppi chen, Tapeten und Vorhängen explodieren auf der Netzhaut. Hannas Schwanenteint bannt ihn und wenn sie ihn in stillen Zimmern ansah, so zerfloß er. Von allen Seiten strömt Lebensfreude auf ihn ein; von Zeit zu Zeit lacht er und er ist gelöst inmitten der lustigen Kinderausgelassenheit, sein feines Ohr vernimmt den leisen slawischen Ein schlag in Munzos Stimmchen - ein Tonfall den er nicht vergessen wird, ebensowenig das seltene Ereignis als den „Kindern die Haare geschnitten wurden".[220] Berg genoss das Bellen der Hunde und den Anblick der Bilder bis zu „dem letzten Abschiedsblick im Schatten"[221] des Haustores, wo Hanna im „schwarzen Kleide"[222] stand. Nach Wien zurückgekehrt bedauert er, daß manche Fotos von den „lieben, lieben Kindern"[223] nicht so gelungen seien: ,,Was für eine große Freude haben Sie mir, verehrte gnädige Frau, mit den Fotographien gemacht! Sind diese sieben Bilder doch mehr als das, sind sie doch nun auch sichtbare Zeichen einer Erinnerung an diese so schönen sieben Mai Tage in Bubenec. Ich finde sie auch fotographisch sehr gelungen; besonders das Bibliothek-Bild. Nur die lieben, lieben Kinder sind auf der Ansicht des Hauses zu klein.

Bekomm' ich nicht doch einmal größere?"[224] Er bekam sie und verliert sie nicht mehr aus den Augen.

Das „Verzücktsein"[225] über Hanna und die ihren und seine bis „an süßeste Schauer grenzende Kinderliebe"[226] zirkuliert im zweiten Satz des Streichquartettes. Den II. Satz überführt Berg in eine erregende Rondo-Atmosphäre und er zeigt in der Widmungs partitur die suggestive Spannkraft der Klangbilder, die in großen Bögen atmen. Die Kinderfarben Blau (,,Munzo"-Thema ) und Grün (,,Dodo"-Thema) schießen immer wieder wie ein opalisierender Strahl im Rot (Hanna-Thema) auf; mit den drei Primärfarben Rot, Blau und Grün, die sich ringsum auf weißem Grund und durch das Schwarz der Notation schlängeln, entsteht ein Tanz der Farben, die nach vorn kommen oder zurück weichen. Grün ist die geheimnisvollste aller Farben und sie beschließt wie ein Hauch das Ende des zweiten und sechsten Satzes.

Das eruptive Rot wogt im II. Satz auf 150 Takten auf und ab, leuchtet und wärmt das Blau und Grün: im Aufstieg dieser kleinen Geschöpfe Munzo (Takt 16 ff) und Dodo (Takt 56 ff) liegt etwas leichtes, Unschuldiges - Berg läßt die Musik schweifen und geht dem Vergnügen der Kindheit mit einer schüchternen Freude entgegen. Wie es hupfelig klingt! Bewegt vom Muttersingsang Hannas ist er für die Zeit einiger Schritte selbst eine Art Kind. Mit der flüchtigen Schwingung von den kaum noch wahrnehmbaren Pizzicato Noten C-C endet nach 150 Takten (,,[15] x 10 Takte") der tastende Griff nach der Mutter Kind-Idylle; zart, hauchdünn setzt Berg ans Ende des 11. Satzes in grüner Tusche die Anmerkung „Wie aus der Ferne: Do-do."[227] Leise und leiseste Töne - Berg: ein Fetischist des Piano.

Der schönen grünen Dorothea wird das Glück zuteil, die dekorative Partitur nach dem Tode der Mutter in Händen zu halten.[228] Grün geht durch alles durch und grünt und blendet: In Takt 77 ist die Vortragsbezeichnung doIce und in Takt 79 doIciss grün unterstrichen: Musik als Zaubertrank wie ihn Shakespeare im Sommernachtstraum mischte, Musik wie der Blumensaft, den Puk und Oberon im Athener Wald verabreichen: ,,Eine Musik, die glaube ich, die schönste ist, die ich je schrieb."[229]

Der Jüngling Alban Berg hat die Bilderwelt Giovanni Segantinis begierig eingesogen: Hier kreisen die Archetypen der Mütter im piktoralen Feld. Segantini endet bei der „Bösen Mutter",[230] als Jugendstilmotiv den „Lesbiennes"[231] Charles Baudelaires eng verwandt. Bergs Werk wird eine Pendelbewegung zwischen der Mutter und der Hure[232] werden. Die eine siedelte er in der „Lyrischen Suite" und in „Wozzeck" an und die andere wird zu „Lulu".

Zu einem „Ziehharmonika-Erbauer"[233] in der Neubaugasse ist Alban Berg im Sommer des Jahres 1921 unterwegs, um hier die Physis des Instrumentes mit der an- und ab schwellenden Luft zu erkunden. Es drängt ihn nach der drolligen Sprache der Wirts hausmusik, die er in „Wozzeck", II. Akt,[4]. Szene mit „Fiedel, süsse Hölzel, Ziehhar monika, Gitarre und Basstuba" pulsieren lassen wird.[234] In den handschriftlichen Frag menten[235] Georg Büchners zu „Woyzeck", mit der oft bis zum Gekritzel sich verkleinern den Schrift und den eingestreuten Zeichnungen, heißt der Held auf zwei Bögen „Louis" und seine Geliebte „Margreth", auf den anderen „Franz" und „Louise". Büchners lose Folge von Szenen gruppierte Alban Berg in der Oper „Wozzeck"[236] zu 15 Szenen in 3 Akten. ,,Friedrich Johann Franz Woyzeck, Wehrmann, Füsilier im 2. Regiment,[2]. Batail lon,[4]. Kompagnie, geboren Mariä Verkündigung", ist „30 Jahr,[7] Monat und 12 Tage"[237] alt. Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche und liebt dessen Mutter „Marie", die die Bibel in höchster Verzweiflung anrufen wird: ,,Heiland! Heiland! ich möchte Dir die Füße salben!"[238]

Der Name „Marie" verleitet uns an die Jungfrau Maria und an die lehrreichen Verkündigungsbilder zu denken. Im Lukasbericht 1,[27] heißt es: ,,Et nomen virginis Maria", ,,und die Jungfrau hieß Maria". Die Exegeten[239] beginnen mit der Etymologie. ,,Maria" bedeu tet auf hebräisch Meerstern (stel/a maris), womit präfiguriert wird, daß die Jungfrau die sündige, aber reumütige Menschheit stets führen wird, so wie der Meerstern dem Steuermann im Sturm den Weg weist. Im Syrischen bedeutet „Maria" sowohl Braut wie Herrin (domina) und in der Tat ist Maria zugleich Braut und Mutter Gottes.[240] Und wenn das Wort „Maria" so sehr dem Wort myrrha gleicht, so offenkundig, um anzudeuten, daß der Körper der Jungfrau denjenigen Christi nicht nur aufs Geborenwerden, sondern auch aufs Sterben vorbereitete, stirbt er doch gesalbt mit Myrrhe, mit bitterer Myrrhe (myrrha amara) auf seiner Haut.[241] Albert der Große hielt sich allein an die Buchstaben aus denen sich der Name der Jungfrau zusammensetzt: So vereint Maria in sich alle virtuellen Qualitäten des M (Mutter, Mittlerin), des A (Alleviatrix-Trösterin, Arche aller Schätze), des R (Regina-Königin, Reparatrix innocentiae - Wiederherstellerin der Un schuld), des 1 (nluminatrix-Erleuchterin, aber auch /aculum - der Speer, der gegen Satan geschleudert wird) und noch einmal des A (Auxiliatrix-Helferin, Advocata nostra - unsere Fürsprecherin bei Gott).[242]

Religiöse Maler wie Fra Angelico, Giotto,[243] Pietro Lorenzetti, Carlo Crivetti und Giovanni Bellini haben aus ihren Werken wahre Exegesefelder gemacht. Die großen Exegeten der Verkündigung waren Theologen der dominikanischen und franziskani schen Tradition, Albert der Große und Thomas von Aquin einerseits und andererseits Bonaventura und Donus Scotus. Unter den vielen tausend Seiten umfassenden theologischen Schriften des Mittelalters, findet sich bei Albert dem Großen ein gelehrtes Werk mit dem Titel „De laudibus Beatae Mariae Virginis"[244]. Albert der Große, der Begründer des christlichen Aristotelismus, hat hier ein ausschweifendes Logbuch geschrieben, in dem sämtliche mögliche Figuren - Orte der Jungfrau Maria dargelegt werden.

Fünfzehn Verkündigungsszenen hat der Dominikanermönch Fra Angelico[245] gemalt. Im Kloster von San Marco in Florenz treffen wir im Nordkorridor auf ein Verkündigungsbild, das zwischen 1438 und 1450 entstanden ist. Der Gläubige genießt in der Abgeschiedenheit des Ortes die schillernde Kalkmalerei des Quattrocento.[246] Wir sehen Maria: Die Horchende, die vom Engel Angesprochene. Der Apostel Paulus verkündete: ,,So kommt der Glaube aus dem Hören, das Hören aber durch das Wort (per verbum), das Wort Christi." ("Römerbrief" 10,[17]). Das Säulen-Haus der Jungfrau ist von Zypressen, Zedern und Myrrhe umgeben und ein Bretterzaun begrenzt einen Blumengarten - hortus conclusus[247] - in dem weiße und rote Blumen blühen, rubea et lactea,[248] rot und milchig - wie die Wangen Marias. Diese Blumen, sagt die Exegese sind Christus und am Tag der Verkündigung, am 25. März, erblüht die Menschheit Christi. Die Verbindung von Rot und Weiß weist auch darauf hin, daß insbesondere die Geburt wie auch der Tod Christi unter dem Zeichen des Wassers und des Blutes, des Reinen und des Befleckten, des Leinentuches und der Wunde stehen. Thomas von Aquin hat die Figur des Blumen-Christus wie folgt beschrieben: ,,Der Blumen-Christus ( fIosChristus ) erblühte in der Geburt, wovon man bei Jesaja (11,[1]) liest: ,Und eine Blume wird hervorgehen aus seiner Wurzel.' Er verblühte in der Passion, als die sichtbare Schönheit von ihm wich (... ). Und er erblühte wieder in der Auferstehung, in der er seine zuvor verblühte menschliche Natur zurückgewann. Deshalb heißt es: ,Und sein Fleisch blühte wieder' (Hiob,33,[25])".[249] Wenn der gefiederte Bote Gottes, der Engel Gabriel, zu Maria „Dominus tecum"[250] sagt, erhebt er die Jungfrau, wie Albert der Große angibt, zur Braut und Mutter Gottes. Für den frommen Menschen hat Frau Angelico in das Verkündigungsbild auch eine Buchstaben-Botschaft eingeschrieben, um das Mysterium der jungfräulichen Mutterschaft zu preisen: VIRGINES INTACTE CUM VENERIS ANTE FIGURAM PRETEREUNDO CAVE NE SILEATUR AVE. ,,Wenn du vor die Figur der unberührten Jungfrau kommst, gib beim Vorbeigehen acht, daß du das AVE nicht stillschweigend übergehst."[251] Der fanatische italienische Marienkult wurde moralpolitisch instrumentalisiert, als Papst Pius IX. 1854 die unbefleckte Empfängnis Mariae zum Dogma erklärte.

Aus gänzlich anderen Worten ist das Büchnerfragment „Woyzeck" gedrechselt. Hier predigt ein Handwerksbursch auf dem Tisch einer Wirtshausbude: ,,Aber alles Irdische ist übel, selbst das Geld geht in Verwesung über. Zum Beschluß, meine geliebten Zuhörer, laßt uns noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt."[252] Alban Bergs Oper „Wozzeck" folgt in Takt 630 nur der ersten Zeile dieser Rede und im Gejohle der Menge wird der Trunkenbold abgeführt. Branntwein ölt die Kehlen der ordinären Burschen und Soldaten, sie greifen im Tanz nach dem erhitzten Gesinde und sie singen mit Courage schlüpfrige Lieder: ,,Ein Jäger aus der Pfalz Ritt einst durch einen grünen Wald! Halli, Hallo! Halli, Hallo! Ja lustig ist die Jägerei, Allhie auf grüner Haid! Halli, Hallo! Halli, Hallo! (Takt 560ft, II Akt,[4]. Szene) (... )0 Tochter, liebe Tochter, Was hast Du gedenkt, Daß Du Dich an die Kutscher Und die Fuhrknecht hast gehängt?!" (Takt 575ft,[11],[4].) Eng an die Stier-Brust des Tambourmajor ist Marie geschmiegt und der Kerl dreht das Weibsbild im Walzertakt „Immer zu, immer zu!" (Takt 505, II,[4].) Wozzeck wird rot vor den Augen: ,,Dreht Euch! Wälzt Euch! Warum löscht Gott die Sonne nicht aus? Alles wälzt sich in Unzucht übereinander: Mann und Weib, Mensch und Vieh! Das Weib ist heiß! ist heiß! heiß! Wie er an ihr herumgreift! An ihrem Leib! Und sie lacht dazu ... " (Takt 514ff, II,[4]).

Auf offener Straße, in der Abenddämmerung ist das Begehren der Kindsmutter Marie erwacht. Die 5. Szene im 1. Akt der Oper „Wozzeck" fokussiert die physische Raserei mit dem Tambourmajor, ,,sie ringen miteinander. Tambourmajor: ,Wildes Tier!' Marie reißt sich los: ,Rühr mich nicht an!' Tambourmajor richtet sich in ganzer Größe auf und tritt ganz nah an Marie heran (eindringlich): ,Sieht Dir der Teufel aus den Augen?!' er umfaßt sie wieder, diesmal mit fast drohender Entschlossenheit. Marie: ,Meinetwegen, es ist Alles eins!' sie stürzt in seine Arme und verschwindet mit ihm in der offenen Haustür".

Intensiv-Werden, Tier-Werden. Es ist hinlänglich bekannt, daß die Literatur des Naturalismus das „Tier im Menschen" (Emile Zola)[253] hervorgehoben hat und seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Projektion der Frau als „schönes Tier"[254] eine bemer kenswerte Konjunktur erfahren und bei Frank Wedekind eine poetische Verdichtung erreicht hat.

Nach Frank Wedekinds Dramen „Erdgeist" und „Die Büchse der Pandora" komponierte Alban Berg „Lulu", er arbeitete daran zwischen 1928 bis zu seinem Tod im Winter 1935.[255] In ein und derselben Bewegung, in der des Dramatischen und Musikalischen reflektieren Wedekind und Berg die Windungen und Drehungen der weiblichen Libido. Lulu,[256] dieses Konstrukt aus Männerphantasien, das mörderisch auf seinen Schöpfer zurückschlägt und der Begradigung des Begehrens zu entgehen vermag, erliegt schließlich dem vor ihr aufgerichteten Todesbild. - In Jack the Ripper findet Lulu ihren erlösenden Schlächter.

Den unbändigen Lust: Todesschrei Lulus setzt Berg in der Oper „Lulu" in Takt 1294, III. Akt,[2]. Szene. Mit der Stimme im Zustand der Erektion schließt die lesbische Gefährtin Lulus, Gräfin Geschwitz, den Todesreigen. Was Marquis de Sade als Prinzip des Zart gefühls bezeichnete, materialisiert Berg in den Takten 1315-1 (III,[2]): ,,Geschwitz:, Lulu mein Engel! Laß dich noch einmal sehn! Ich bin dir nah! Bleibe dir nah, in Ewigkeit' (sie stirbt)" wellenhaft sich biegend wie ein Schwan. Mit einem „tristanisch unaufge lösten Quintsextakkord"[257] endet das Liebesgebet. Den Weg in den Somnambulismus oder die Einsamkeit, den Wahnsinn oder den Tod sind zahlreiche Heroinen der roman tischen Oper gegangen. Die leisen und flötenhaften Töne für jede Empfindung liebender Herzen hat Richard Wagner mit „Tristan und lsolde" etabliert. Das Hohe Lied auf die alles überbordende hyperklassische heterosexuelle Paar-Energie, die die Oper des 19. Jahrhunderts prägt, hat Berg empfindlich relativiert. Wie Meuterer nach tagelanger Verschwörung einen befestigten Platz sich zu eigen machen, so fixiert Alban Berg den lesbischen Eros im Musiktheater des 20. Jahrhunderts.

Berg, der vor den dumpfen Instinkten der Masse zitterte, hat nie an einem ungehobelten Tisch gesessen: So viele Teppiche sind über die Schwelle gelegt und die süßen Aromen der Blüten schwängern die Luft der bürgerlichen Stube. Sein sensibles Ohr verstopft Berg nächtens mit Kügelchen,[258] doch als Horchender mischt er sich in „Wozzeck" unter die Hefe des Proletariats, und in „Lulu" starrt der Libertin in die von Absinth glasig schimmernden Augen der Hure, die die Sinne der Metropolen zur Explosion brachte. In der Opernrevolte Bergs - mit dem betäubenden Orchester[259] und den bezaubernden Stimmen - verschwinden die Kulissen des Elends lautlos im Schnürboden, während die sich ständig vergrößernde Masse der Bedürftigen und Entwurzelten, die die berstenden Städte durchkreuzen, die pechschwarze[260] Seite der Moderne zeigt. Im Juli des Jahres 1927 beginnt die Kaiserstadt Wien Feuer zu fangen, es riecht nach dem blutigen Gräuel eines Bürgerkrieges, der Justizpalast brennt lichterloh. Berg schreibt indessen unter freiem Himmel inmitten von Almrausch die Lyrische Suite zu Ende.

Die Jahreszeit gehört zu den Kondensatoren der Gefühle, aber auch die Geschwin digkeit oder Langsamkeit einer Bewegung. ,,Im wunderschönen Monat Mai,/" jubelt Schumann, ,,als alle Knospen sprangen,/ da ist in meinem Herzen/ die Liebe aufge gangen./ Im wunderschönen Monat Mai,/ als alle Vögel sangen,/ da hab ich ihr gestan den/ mein Sehnen und Verlangen".[261] Mai-Wiese in den Augen, Blumen im Blick,20 Mai 1925: Stündliche Träumereien, Zerstreutheit, nervöse Erwartung - die „Wozzeck" Bruchstücke werden in Prag aufgeführt. Dieser Tag unter tausenden von Tagen, wenn die Luft warm ist wie ein Vogel in der Hand, drängt in höchste Gefühlsstürme.

Das kleine Herz[262] Bergs klopft und pocht, die Adern und der Atem schwellen an, die Adern treten an den Schläfen hervor, die Adern der Scham überfließen. Die Sprache der Liebe ist ein Flüstern, Lispeln, Kichern, Glucksen, Jauchzen. Bergs lauschendes Ohr[263] ist ein Trichter, in der das Helle und Dunkle, Laute und Leise dekodiert werden. Öffnen wir die Widmungspartitur. Im strahlenden Tintenrat leuchtet am Beginn des III. Satzes die Magie des Datums: ,,20.5.1925, denn noch war alles Geheimnis - uns selbst Geheimnis... "[264] In dem aus „3 x 23 Takte" bestehenden Teil des Allegro misterioso ist der Takt 34f. mit der Anmerkung „wie ein Geflüster" sowie der Takt 37f. ,,wieder wie geflüstert" gekennzeichnet. Auf Takt 70 folgt das Trio estatico „plötzlich ausbrechend", das auf Takt 92 (,,[4] x 23 Takte") wieder abbricht, die Wiederholung des Allegro misterioso vermerkt Berg mit „plötzlich wieder wie ein Geflüster".

Im III. Satz erscheint also das Nachbild eines Flüsterns - nichts als dieses Flüstern im reglosen Raum. Es ist das Hineinhorchen in die Stille. Da ist das Subjekt der Lust, das in der Nähe Hannas ein Schwindelgefühl erfährt: Das drängende Flüstern der Hitze der Begehrlichkeit. Es ist spannend, zu erleben, wie Berg immer wieder dort, wo er erotische Motive abhandelt, schnell zu besessen Versuchsreihen gelangt, in denen er ein von Obsessionen zusammengesetzes Tonnetz flicht, das den Hörer süchtig machen kann.

Hannas Haus in Prag-Bubenec Nr. 593 ist der Ort der visuellen und akustischen Phänomene. Es kann hierin zum Schweigen, aber auch zum Gesang oder zum Schrei kommen. Es ist der Ort des Wechsels von Sonne und Mond, Licht und Schatten. Es kann des weiteren das Gedächtnis und das Vergessen, das Leiden und die Hoffnung lenken.

Magie des Datums, Magie des Ortes, Magie der Stunde. Zwei detailreiche Ansichten seines Ateliers[265] hat Alberto Giacometti 1932 für eine junge Dame aus dem römischen Adel gezeichnet. Kugelige, kegelartige Gebilde, Käfige und Gerüstbauten aus Holz, Gips und Eisen bilden das Interieur von Giacomettis Atelier in Paris, Rue Hippolyte Maindron 46. Der Raum war etwa viereinhalb Meter breit und tief, die Doppeltüre mit dem Briefkasten ging auf die Strasse hinaus, doch war sie immer verschlossen und verstellt gewesen. Man trat durch die schmale, hohe Türe - aus einem engen Vorhof kommend - ins Atelier. Im Ganzen waren neunzehn Skulpturen aufgestellt, darunter das Werk „Die Stunde der Spuren". Es besteht aus einem Raumkasten, in dem ein gipser nes Herz pendelt. Darüber spreizt sich - aus Holz, Drahtstäben und Gips modelliert - ein phallisches Objekt, das in die leere stößt.

Auf einem Modellierblock im Zentrum der fragilen Bleistiftzeichnung ist auch ein höchst zerbrechliches Gebilde aus dünnen, mit Gips überzogenen Stäben auszumachen, Giacometti gab der Arbeit, die einer Streichholzbastelei ähnlich sieht, den Titel: ,,Der Palast um vier Uhr früh". Brassai hat die stummen Objekte fotografiert und eine Doku mentation des staubigen Atelierbestandes ist im Jahre 1933 in der Zeitschrift „Documents" erschienen. In einem begleitenden Text hat Giacometti den „Palast" der Morgenfrühe in Beziehung zu sechs glücklichen Monaten mit der Geliebten „Denise" gebracht. Doch der „Palast" entzieht sich einer eindeutigen Entzifferung, einzig die magische Stunde winkt einem. Blicken wir noch in die rechte Ecke der Atelierzeichnung: hier steht zu Füssen der „Löffelfrau" ein Rhomboid-Käfig, in dem eine an Fäden verspreizte Figur in der Luft balanciert. Über den Verbleib der Arbeit wissen wir nichts, doch eine Analogie zu dieser Skulptur weist ein aus dreizehn Flächen bestehender polyedrischer schiefer Stein auf. Im „Minotaure" war die Gipsplastik 1934 unter dem Titel „Pavillon nocturne" abgebildet. Albert Giacometti verwies später auf die Herkunft des Polyeders aus Dürers Kupferstich „Melancolia 1"[266] und im Jahre 1938 begann Giaco metti auf die obere Seite des „Kubus" sein Selbstporträt einzugravieren.

Es ist als schlüpfe Alban Berg in die Hand eines Kalligraphen des fernen Ostens[267] oder in einen Buchmalermönch des Mittelalters, um illuminierte Initialen in den Notenberg des III. Satzes zu pinseln. Der Name, der sowohl Wort als auch Körperlichkeit darstellt, wird zum Ton. Alban Bergs und Hanna Fuchs aneinandergeschmiegte Initialen AB HF durchziehen wie eine Karawane die Seiten 36 bis 45 im 111. Satz der Widmungspartitur. In den Zwölfton-Reihen erlaubt Alban Hanna immer neue Stellungen einzunehmen: in dem herrlichsten Körper, den sie je angenommen hat, ertönt Hanna. Der Ton-Akt erfolgt durch Visualisierung. Die Buchstaben H F im Verbund mit A B sind als fahlrote Flammen unter die Töne h f abgesetzt - Hanna werden Töne einerseits angezeigt, andererseits kann sie buchstabieren, Laute bilden: denn der Raum des Alphabetes ist lautlich und der Buchstabe ist der Ort, an dem alle graphischen Abstraktionen zusammenlaufen.

,,Jede Schrift[268] beginnt mit dem einzelnen Strich" merkt Paul Claude! an, ,,beziehungs weise der einzelnen Linie, die in ihrer Kontinuität das reine Zeichen des Individuums ist. Entweder ist die Linie also horizontal wie alles, was in der Einhaltung eines Prinzips eine hinreichende Daseinsberechtigung findet; oder sie ist vertikal, wie der Baum und der Mensch, zeigt die Tat an und stellt die Behauptung auf; oder sie ist schräg und markiert die Bewegung und den Sinn." Der katholische Dichter Claudel gibt den vertikalen Linien einen optimistischen, voluntaristischen, humanistischen Sinn. H undFsind durch ihre einfache scharfe Vertikale demnach Ausdruck einer „unverletzlichen Geradheit". Der BuchstabeBzeigt die Rundheit des Lebens an. F hat zwei Schenkel und der Buchstabe blickt nach rechts zu A. A stehtBgegenüber. Den BuchstabenAkennzeichnen zwei Schrägstriche die miteinander durch eine kurze Horizontale verstrebt sind: Schrägen markieren die Bewegung.

Berg macht Hanna den reinen anmutigen Buchstaben zum Geschenk - in der „Lyrischen Suite" mutieren Hanna und Alban demzufolge zu Ton-Buchstaben. Das Verknüpft bleiben von HF mit AB simuliert Berg im Ton- und Buchstabenraum der Widmungs partitur. Runde und spitze Buchstaben, einzelne und mehrere Wörter mischen und vermengen sich in Takten mit Tönen. Der Drucklegung[269] der Taschenpartitur der Lyrischen Suite gingen viele Korrekturen voraus. Betrachtet man den langwierigen, ein Jahr dauernden Prozeß mit dem Alban Berg von der anfänglichen Komposition zur vollendeten, pulsierenden Zwölftonreihe gelangte, so stellt sich die Frage, was suchte er, intuitiv in diesem Prozeß? Er suchte eine Gestalt, die die vergängliche, lebendige Form der Liebe, die er vor Augen hatte, auf Dauer eingravieren würde.

Im Blick zurück tauchen andere kolossale Liebesgravuren auf, insbesonders stille Bäume[270] dienten mit ihren Einritzungen als Gedächtnisstelle des Begehrens. Der Topos der Bauminschrift durchzieht schon die hellenistische Spätantike, Kallimachos gebraucht das Bild von der Rindenschrift in seiner Lyrik als erster. Sextus Propertius,[271] der Klassiker der römischen Elegiendichtung aus Umbrien hat es von ihm übernommen und auch Ovid. Vom 16. bis zum 18. Jahrhundert[272] häufen sich die Beispiele in Malerei und Grafik. Berühmte Liebespaare wie Paris und Oenone,[273] Medor und Angelika haben Giovanni Francesco Barbieri,[274] Jacques Blanchard,[275] Julius Schnorr von Carolsfeld[276] oder Claude Lorrain[277] zu Federzeichnungen, Gemälden und Fresken angeregt. Die Inszenierung des Begehrens in der Natur durchzieht auch die Literatur der deutschen Klassik und Romantik.

„Ich war, nach Menschenweise, in meinen Namen verliebt und schrieb ihn, wie junge und ungebildete Leute zu tun pflegen, überall an. Einst hatte ich ihn auch sehr schön und genau in die glatte Rinde eines Lindenbaumes von mäßigem Alter geschnitten. Den Herbst darauf, als meine Neigung zu Annetten in ihrer besten Blüte war, gab ich mir die Mühe, den ihrigen oben darüber zu schneiden. Indessen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein launisch Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um sie zu quälen und ihr Verdruß zu machen. Frühjahrs besuchte ich zufällig die Stelle, und der Saft, der mächtig in die Bäume trat, war durch die Einschnitte, die ihre Namen bezeich neten, und die noch nicht verharscht waren, hervorgequollen und benetzte mit un schuldigen Pflanzentränen die schon hart gewordenen Züge des meinigen. Sie also hier über mich weinen zu sehen, der ich oft ihre Tränen durch meine Unarten hervorgerufen hatte, setzte mich in Bestürzung." (Johann Wolfgang v. Goethe, ,,Dichtung und Wahrheit", zweiter Teil,[7]. Buch)

Der Baum des Duftes, der Lindenbaum und das Schnitzmotiv ist durch Schuberts Liedzyklus „Die Schöne Müllerin"[278] populär geworden. Das siebte „Ungeduld" über schriebene Lied mit der Strophe: ,,Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein", findet eine eisige Entsprechung in der „Winterreise" ,[279] wo es im siebten „Auf dem Flusse" betitelten Lied heißt:

Der du so lustig rauschtest, Du heller, wilder Fluss, Wie still bist du geworden, Gibst keinen Scheidegruß. Mit harter, starrer Rinde, Hast du dich überdeckt, Liegst kalt und unbeweglich Im Sande ausgestreckt.

In deine Decke grab ich Mit einem spitzen Stein

Den Namen meiner Liebsten Und Stund und Tag hinein;

Den Tag des ersten Grußes Den Tag, an dem ich ging:

Um Nam und Zahlen windet Sich ein zerbrochner Ring.

Mein Herz, in diesem Bache
Erkennst du nun dein Bild?
Ob's unter seiner Rinde
Wohl auch so reißend schwind?

Am Schluß einer langen, historischen Nahrungskette stößt Berg die Silben H und F aus. Der Raum in dem seine Hand sie entstehen läßt, ist der Tonraum der „Lyrischen Suite". Dafür zimmert er eigens einen Zwölf-Ton-Raum. Vor der Tonalität scheut er gar nicht zurück, doch vor den Dissonanzen. Sein Es ist angegriffen, Fetzen treiben. In der Komposition wird er sie nach und nach wieder zusammenfügen müssen, da sein Körper an der Grenze seiner Dehnung angelangt ist. Wenn er die Notwendigkeit verspürt in der TonzeichnungHundFeinzugravieren, so unterstützt er damit die serielle Anordnung der Töne und den Rhythmus des inneren Aufbaus des Streichquartetts.

HANNA: dieses fünfsilbige Wort schmilzt im Munde in dem Augenblick, da er es formt. Jeder Buchstabe ist ein kleines Wesen: ,,Du, die in meinen endlosen Träumen wohnt, ... Einzig- und Ewiggeliebte. "[280]

An diesem Punkt sei das Abschweifen in ein anderes Mikrogramm gestattet, das in Gottfried Kellers Schriften zu finden ist. Hinzuweisen ist auf die kolossale Kritzelei, die der grüne Heinrich[281] eines Tages in einer Anwandlung von Schwermut auf einem großen Karton auszuführen beginnt und an der er jeden weiteren Tag mit unzähligen Federstrichen fortzeichnet, bis ein ungeheures graues Spinnennetz fast die ganze Fläche bedeckt. ,,Betrachtete man", schreibt Heinrich Lee, ,,das Wirrsal genauer, so entdeckte man den löblichsten Zusammenhang und Fleiß darin, indem es in einem fort gesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen, welche vielleicht tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkt bis zum Ende zu ver folgen war(...) Nur hier und da zeigten sich kleinere oder größere Stockungen, gewisse Verknotungen in den Irrgängen meiner zerstreuten gramseligen Seele, und die sorg same Art, wie die Feder sich aus der Verlegenheit zu ziehen gesucht, bewies, wie das träumende Bewußtsein in dem Netze gefangen war (... )"[282] Die Beschreibung des hoch gradig melancholischen Kritzelwerkes erinnerte den Schriftsteller W. G. Sebald an die blauen Papierbögen, die Gottfried Keller, als er in Berlin an seinem Bildungsroman saß, zur Unterlage benutzte und auf die er den Namen seiner unerwiderten Liebe in langen verschlungenen Linien, Spiralen, Kolonnen und Schlaufen in vielhundertfacher Variation festgehalten hat - Betty Betty Betty, BBettytybetti, bettibettibetti, Betty bittebetti heißt es da in jeder nur denkbaren kalligraphischen Ausformung.

Was bedeuten solche Überschneidungen und Korrespondenzen? Handelt es sich nur um Vexierbilder der Erinnerung? Alban Berg ist gewiß nicht der erste Komponist, der seine fragile Kunst dem unendlichen Raum der Erinnerung abringt. Berg ist für seine Bewunderer nicht zuletzt der beispielhafte Tonsetzer für ein akribisches Sich-Erinnern, für ein versteckt-offenes autobiographisches Schreiben. Mit der „Lyrischen Suite" ist eine Art Verlustbilanz eines Liebeslebens notiert, Hanna Fuchs-Robettin wirkte an dem Werk gerade durch die Distanz mit, in der sie sich hielt. Entstanden ist so ein hochkomplexes Liebes-Dokument, ein Traum-Büchlein für Hanna: ein glücksbringendes Amulett.

Alban Berg ist es gelungen, eine ästhetische Konstruktion zu schaffen, die sich bestens dafür eignet, biographische und musikalische Strukturen in eins zu blenden. Von Hanna verlangt Berg die Arbeit des Horchens und Sehens vom Zusammenbauen von Klängen und Texten. Berg breitet vorsichtig, aber hartnäckig ausführlich sein Material aus, wie Fußnoten durchzieht Bergs Text und sein graphisches Schlingwerk den Notenhaufen. Die Widmungspartitur der Lyrischen Suite ist ein einmaliges Befestigungswerk, in welchem die kleinsten und unschuldigsten Dinge gerettet werden sollten vor der „Zerlösung der Wirklichkeit" (Jean Amery). Mit seismographischer Präzision verzeichnet Berg die Erschütterungen am Rand seines Bewußtseins, registriert Kräuselungen in seinen Gedanken und Emotionen und entwickelt dafür einen eigenen spröden Tonraum.

Hanna Fuchs und Alban Berg waren so etwas wie eine Doppelgestalt. Einander herziehend, einander nachziehend, einmal er sie, dann wieder sie ihn. Das Glück des Geschehenlassens, das größte Glück. Die schöne Liebe von Alban Berg hat gewonnen, einen wogenden Aufflug nimmt die erotische Energie im IV. Satz, Adagio appassionato. Magnet an Magnet sind die Töne aneinander geschichtet. Musik in der Art eines ver weilenden Streichelns. Der Satz wird mit „Tags darauf"[283] überschrieben. Im strahlenden Purpurrot leuchten ab Takt 24 bis in Takt 62 die Eintragungen des Minnesängers: ,,Ich und Du/ Du u. ich/ Du und ich/ Immer Du/ Ich: ,Du bist mein eigen, mein eigen'/ Nun sagst es auch Du: ,Du bist mein eigen, mein eigen - - - - u. noch einmal - - - und verebbend - - - - - - - ins - ganz Vergeistigte, Seelenvolle, überirdische "

Man sagt, Dante Alighieri stand in einem Lorbeerwalde sechzehn Jahre und wartete auf Beatrice. Es ist die Stärke, die andauert! Ende des 17. Jahrhunderts erhält ein Bild, das wohl 1515 aus der Hand Tizians entstand, den Titel „Amor Divino ed Amor Profano"[284], die himmlische und die irdische Liebe. Auf dem Rand des Brunnens, der einem antiken Sarkophag gleicht, sitze zur Rechten, mit einer Öllampe in der erhobenen Hand, die nackte göttliche Liebe oder die Caritas, in der Mitte schöpft ein Putto Wasser, die bekleidete Figur zur Linken, mit einer verblühenden Rose auf dem Schoß, sei die irdi sche Liebe. Auch Max Ernst betitelte ein Frühwerk „Himmlische und irdische Liebe" (1923/24) und als verliebter Gymnasiast malte er 1907 eine Spätsommerwiese mit Apfelbäumen - in Erinnerung an Hanny Peters kerbte er ein Herz und deren Initialen im vorderen Baum des Gemäldes ein.

Eine der sublimsten Liebesszenen in der Geschichte der abendländischen Malerei hat Correggio, genannt Antonio Allegri (1498-1534) in Szene gesetzt. Das Gemälde, betitelt „Jupiter und lo",[285] um 1530 entstanden, hatte Alban Berg als Reproduktion an seine Zimmerwand geheftet. Im Buch 1, Vers 568-750, ,,Metamorphosen"[286] erzählt Ovid die Geschichte von lo, Geliebte des luppiter.

Aus dem Schatten des Waldhaines lockte der Himmelsgott luppiter die Quellennymphe lo. Aus Wolkenrändern lässt der anarchistischste aller antiken Götter Nebelschwaden auf die Fliehende herabrieseln. Das Feuchte des Nebeldunstes markiert den Beginn einer Schändung, die zum libertinen Vorhaben gehört. Correggio, der geniale Wolken Bildhauer malte eine schockierende Hingabe an die Ausschweifung in Steinblau. Aus der Hand desselben Malers stammt auch eine der schönsten Rötelzeichnungen, ge nannt „Eva reicht den Apfel". Jean Starobinski, der eine detailreiche Rousseau- und Montaigne-Studie sowie eine „Kleine Geschichte des Körpergefühls" vorlegte, hat in der Louvre-Ausstellung „Gute Gaben. Schlechte Gaben" die „Eva"-Zeichnung[287] des Correggio ins Zentrum gerückt: Er schreibt: ,,Der köstliche Geschmack hat den Gaumen überrascht. Der Arm streckt sich aus. Die Hand, die den Apfel gepflückt hat bietet sich schon dar. Die Finger halten den Apfel, werden sich aber bald öffnen (... ) Das Wunder dieser Zeichnung gründet darin, daß der dargereichte Gegenstand sich nicht unter scheidet von den lächelnden Lippen, von der nackten Haut, von dem Arm, die die Gabe anbieten. Die Frucht und die Gestalt gehören so sehr zueinander, daß sie eine einzige Gabe bilden. Die Wonne läßt das Gesicht der Frau aufleuchten, die vom Apfel gekostet hat und die ihn zum Teilen darreicht. Sie schämt sich nicht, noch weiß sie nicht, dass sie sich mit der Gabe selbst gibt."[288] Wessen Schritte nach Parma gelenkt werden, wird der „Eva" in der freskierten Kuppel der Kathedrale wieder begegnen.[289]

So wunderbar weiblich musiziert Berg. Die Musik sprudelt hervor wie etwas, das erfüllt ist von einer Verkündigung. Bergs Musik schwingt im IV. Satz wie Vögel der Venus zwischen Himmel und Erde, Berg malt das „Liebesbewußtsein zur großen unendlichen Liebesleidenschaft"[290] aus. Dank dieser Verzauberung setzt er die Metaphysik der Liebe in Gang und lotet sie mit einer endlos vibrierenden und aufopfernden Behutsamkeit aus. Das, was diese 69 Takte wie nie zuvor in der Tonkunst durchwühlen, endet wie im Prestissimo der Fis-Dur Sonate, der Alexander Scriabin ein eigenes, mystisches Programm-Gedicht[291] beigab. Die Vereinigungsszenen, die Berg im IV. Satz, Adagio appasssionato, mit solcher Hingabe sich ausmalt, sind nicht nur unter den schönsten der Musikliteratur, sie sind einmalig auch, weil in ihnen die imaginierte Vollendung der Liebe gepriesen wird.

Liebe ist ein Rauch, der heute in der Luft kreist und morgen verschwunden ist. Erloschen sind dann die Feuer der Blumen, geschlossen ihre Augen. Wesen Seele dafür gestimmt ist, Bergs Botschaften entgegen zu nehmen, kann im V. Satz ein radiographisches Dokument der Angst erkennen. Ins Auge fällt die Anheftung eines delirierenden Textes an das schwarze Notengewusel und alle Nerven einer wundge riebenen Seele liegen hier blank. Zu Beginn des V. Satzes, Presto delirando auf Seite 57 der Taschenpartitur sinkt von links oben ein rot gepinselter Wortschwall über die ganze rechte Seite nach unten, schlängelt sich durch das Weiss an der Seitenunter kante nach links, um in einem Bogen die Takte 15, 16, 17 und 18 zu durchkreuzen, und um schließlich in Takt 460 zu enden. Das ist Umbra, der Schatten: Finsternis. Der Schatten ist imstande, die friedlich - bisweilen freundlich geschriebenen Töne - zu verdunkeln.

Die Lyrische Suite ist eine Art Waage, auf deren einer Schale das Glück des Lebens liegt, auf der anderen der Schmerz. Die ständig wechselnden Perspektiven der Lust, die in der Quartettsuite eingeschrieben sind, verebben im V. Satz: ,,Dieses Presto delirando kann nur verstehen, wer eine Ahnung hat von den Schrecken und Qualen, die nun folgten. - Von den Schrecken der Tage [Takt 15] mit ihren jagenden Pulsen, [19] [51] von dem qualvollen Tenebroso der Nächte, mit ihrem kaum Schlaf zu nennenden Da hin dämmern - - - - [70] / [121] Und wieder Tag mit seinem [124] wahnsinnig gehetzten Herzschlag [127].( ... ) [201] Als möchte sich das Herz beruhigen [210] - - - - - - [211] di nuovo tenebroso mit ihren, die qualvolle Unruhe kaum verhaltenen schweren Athem [230] zügen [231] - - - - - - [262] als ob sich für Augenblicke der süße Trost eines [274] wirklichen - - - alles vergessenden Schlummers über [283] Einern senkte - - - - - [306] Aber schon meldet sich [311] das [312 ] Herz - und [320] wieder [321] Tag und [324] - - - - - [330] so - - - fort - - - [369] ohne [370] Stillstand [371][409] dieses [41O] Delirium [411] - - - - - - - - - - [445] ohne [446] Ende [447][460]"[292]

Bei Berg bewegt und erregt das Schlafwandlerisch-Sichere, mit dem er über den Abgrund, der sich unter ihm aufgetan hat, auf einem Hochseil aus nichts als Tönen hinwegtanzt. Er weiß, dass die meiste Musik aus der Untröstlichkeit kommt und untröstlich macht.

Bergs Körper kann nicht stillhalten, er ist triebhaft, er stampft, schreit und wütet bis er explodiert. Die Figuren des Körpers gehen in die Musik ein, so auch bei Schumann[293] und seiner Kunst der Schläge. In dem Klavierwerk „Kreisleriana", Op. 16 (1838), hört Marcel Beaufils das im Körper Schlagende, das den Körper Schla gende oder besser: diesen schlagenden Körper. Der stets labile psychische und körperliche Zustand Robert Schumanns nimmt im Tagebuch breiten Raum ein. Beständiges Singen und Brausen registriert der Empfindsame. Was wir im V. Satz der „Lyrischen Suite" wahrnehmen, ist das Gewimmel der Schläge, dringt doch die Musik weiter vor bis ans Ohr: sie dringt durch die Schläge ihres Rhythmus in den Leib, in die Eingeweide. Das Herzschlag - Motiv der Takte 133, 142, 145, 183, 189 und 201 rahmt Berg mit roten Klammern. Auf zwei komplizenhaften Wegen haben sich das Begehren und der Taumel vermengt: ,,Ein in stetem Herzklopfen dahintorkelnder Wahnsinniger"[294] gerät an den Abgrund der Töne.

Die Musik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts endete im reinen, absoluten Klang Körper, bereits Herder und Hegel formulierten die Klangästhethik zu dieser Absolu tion.[295]Die Musik der 2. Wiener Schule - Schönberg, Berg, Webern - wird den radikal neu-konstruierten Tonraum nach und nach ins Geräusch, ins Verstummen drängen; so schreibt Adorno über Weberns Musik, sie sei „die Nachahmung des Geräusches eines Körperlosen."[296] Das Geräusch verhält sich zur Musik wie die Schale zum Weichtier. Siegfried Kracauer hat in einer Reihe von Filmkritiken so etwas wie die filmische Phä nomenologie des Geräusches umkreist. Der legendäre Aufsatz „Tonbildfilm"[297] (1928) endet mit der Passage: ,,Zu seinem eigentlichen Sinn wird der Tonfilm erst gelangen, wenn er das vor ihm nicht gekannte Dasein erschließt, das Tönen und lärmen um uns, das mit den Bildeinheiten noch niemals kommunizierte und stets den Sinnen entging." Eric Satie, Luc Ferrari[298] und John Cage haben den Absprung zu den Erscheinungen des Zufälligen, Ungeformten vollzogen. In dem berühmten „tacet"-Stück „4'33" " lotete John Cage die Geräusche der Stille aus.

Alban Berg hat in der Taschenpartitur im VI. Satz ein Sonett Charles Baudelaires eingeschrieben. Lange, jahrzehntelang wurde nach diesem Gedicht gefahndet, fleißige Detektivarbeit der amerikanischen Musikwissenschaft[299] hat dieses endlich im Jahre 1976 zu Tage gefördert und als Vokaltakte enttarnt - der VI. Satz, Largo desolato, kann nunmehr als textgebundene Musik gelten. In der Widmungspartitur glitzert wie ein Rubin in Takt 12 das mit roter Tinte eingeschriebene Poem „De profundis clamavi" aus Baudelaires Gedichtband „Les Fleurs du Mal".

Bergs Hand, die Töne und Wörter aufs Papier kritzelt, die weder komponieren kann ohne zu schreiben, noch schreiben ohne zu komponieren, die jedoch auch weder Töne noch Wörter schreiben kann, ohne nicht auch zu singen, diese Hand bedarf der Ergänzung, die die Stimme gibt. Das in das Streichquartett eingeflochtene Poem Baudelaires bedarf des Durchgangs durch die Stimme. Das Ich, das um seine zunichte gewordenen Liebeshoffnungen trauert, kann nur noch singen.

Man erinnert sich an die schöne Zeile Goethes: ,,So fallen meine Lieder/gehäuft in deinen Schoß."[300] „Die Menge der Wörter ist begrenzt, die der Akzente unendlich" schreibt Denis Diderot 1767 im „Salon" und weiter lesen wir: ,,Die Intonation, das ist das von dem Tonfall der Stimme wiedergegebene Bild der Seele". Und der Tonfall der Stimme ist „wie ein Regenbogen".[301] Stimme ist Diffusion, sie geht durch das Ohr und auch durch die Haut. Berg hat an der Vokalpassage des VI. Satzes wie an einem Edelstein gearbeitet. Notenhälse, Fähnchen und Querbalken des Notenberges sind in der Widmungspartitur schwelgerisch in rote Tinte getaucht. Es ist als schufte Berg an diesen Vokaltakten 12, 16, 20, 25, 28, 30, 34 und 40 wie ein Bildhauer, der sein Inneres freizu hauen, freizulegen angetreten ist:

,,Zu Dir, Du einzig Teure, dringt mein Schrei,
Aus tiefster Schlucht, darin mein Herz gefallen.
Dort ist die Gegend tot, die Luft wie Blei
Und in dem Finstern Fluch und Schrecken wallen (... )"[302]

Das Gedicht - das ganz einer augustinischen[303] Stimmung der poetischen Selbstaus löschung folgt, läßt das Vernunftland der reinen Töne endgültig ins Wanken geraten. In Takt 26/27 nimmt Berg schließlich Anfang und Ende des Tristan-Motivs ins Visier. Von dort führt kein Pfad mehr zur Welt zurück. Die Liebe Tristans zu lsolde findet nur im Tode ihre Erfüllung. Ihr Mythos ist, wie Denis de Rougemont in seiner Studie über „L'amour et l'occident" (1939) zeigt, die ausführlichste Darstellung mittelalterlicher manichäischer Liebesvorstellung, nach der Liebe als Leidenschaft Liebe ist, die den Tod will.[304] In den letzten Takten der Quartettsuite verstummen die Geigen und das Violon cello. Der Schlußtakt (46 = ,,[2] x 23 Takte") gehört allein der Bratsche. Mit grüner Tinte schließt Berg seine Gabe an Hanna: ,,ersterbend in Liebe, Sehnsucht und Trauer", lautet die lakonische Eintragung auf der letzten Seite der Widmungspartitur.

Nach 83 Seiten sitzt man wie versteinert da. Reaktionen der Körperhaut sind die Folge: genauso wie bei der Motette Claudia Monteverdis „Ego dormio",[305] die in einem Film von Robert Bresson[306] eingespielt wird. Bressons Kinematographenkunst hat Ähnlichkeit mit der Tonkunst Alban Bergs. Beide Künstler teilen die Stille, das Bruchstück- und Balla denhafte. Berg schreibt „Wozzeck" als Passionsspiel und Bresson lässt die Leidensge schichte des Bauermädchens „Mouchette" (1967) auf der Leinwand in Schwarzweiß vorüberziehen, und er erzählt in „Au hasard, Balthazar" (,,Zum Beispiel Balthasar", 1966) die Geschichte eines Esels, dessen Kindheit, Jugend, Leiden und Tod. Balthasar verblutet an einer Schußwunde, die Kamera filmt das niedergesunkene Tier und dessen brechendes Auge. Der lautlose Todeskampf der Kreatur wird nur vom Gebimmel der Schafe und Klaviermusik von Schubert begleitet. Wozzeck, der Wehrlose blutet an seiner Liebe zu Marie aus. Sein Selbstmord vollzieht sich stumm im Schilfteich, begleitet von Unkenrufen.[307] Berg setzt Flöte, Klarinette und Horn im III. Akt, 4. Szene, Takt 302 ein. Man denkt an die Zeile Rilkes „Siehe, deine Seele verfing sich in den Stäben der Syrinx."[308]

Alban Berg, eine an Neuromantik und Ästhetizismus orientierte Existenz, war ein glühender Verehrer der poetes maudits, die sich mit Charles Baudelaire die „wunderbare Macht" teilen, „mit einer eigenartigen Gesundheit des Ausdrucks jeden flüchtigen, jeden verschwommenen morbiden Zustand erschöpfter Geister und trauriger Seelen festzuhalten".[309] Es läßt sich am schrittweisen, zögernden und langsamen Arbeits prozeß der letzten Jahre nachvollziehen wie überzeugend Alban Berg einzelne Gedichte Baudelaires in die eigene Tonsprache übersetzte und wie er sensibel atmosphärische Schwingungen der Modeme registrierte.

Alban Bergs Auge war vollgesogen mit Versen Baudelaires, deren unverwandter, kalter Glanz alle Unreinheit[310] zerstrahlt. Berg muß die Existentialpoetik des französischen Lyrikers (1821-1867) fasziniert haben wie die zahlreichen Anstreichungen und Markierungen in Baudelaire-Bänden seiner Hausbibliothek[311] belegen.

Baudelaire, der dichtende Dandy wanderte unzählige Stunden nächtens in Ruinen Paris des Second Empire[312] umher, streunende Katzen und Huren[313] als Gefährtinnen der Einsamkeit; geneigt dem Müßiggang, dem Spiel und der Prostitution, tastend nach einer Utopie der Schönheit, des Luxus und der Wollust.[314]

Der Dichter hatte einen ausgeprägten Geschmack am Artifiziellen, das Haar trug er grün, was ihn zu einem Vorläufer von Des Esseintes macht, dem hypersensiblen Ästheten in Joris-Karl Huysmans Roman „A rebours"[315] (,,Gegen den Strich"). Baudelaires Text „Lob der Schminke"[316] macht dies deutlich: ,,M. Baudelaire ist künstlich in allem. Er pudert sich, sagen seine nächsten Freunde, und er schminkt sich sogar."[317]

Fünfzehn Jahre lang arbeitete Baudelaire an den „Fleurs du Mal",[318] die zunächst „Les Lesbiennes" (1845) und später „Les Limbes" (1848, ,,Die Vorhölle") heißen sollten. Vom Februar bis Juni des Jahres 1857 korrigierte er die Druckfahnen des 248 Seiten umfas senden Manuskriptes der „Fleurs du Mal", dessen Buchtitel der Kritiker und Romancier Hippolyte Babou gefunden hatte. Wie Balzac und Proust behandelte er die Druckfahnen als eine Art von gedrucktem Manuskript. Kurz bevor er die „Blumen des Bösen" für druckfertig erklärte, antwortet er seinem Verleger und Freund Poulet-Malassis, der ihn drängt, im Mai 1857: ,,Ich kämpfe mit etwa dreißig ungenügenden, unerfreulichen, schlechten und schlecht gereimten Verszeilen."[319] Seine Hauptsorge war, daß der Band zu schmal und unscheinbar aussehen könnte. Baudelaire ließ dem Dichtwerk eine exquisite Ausstattung angedeihen und am 13. Juni 1857 wird er Rezensions- und Widmungsexemplare[320] zu verschicken beginnen. Vier Gedichte der „Fleurs du Mal" ,,Le Reniement de saint Pierre" (,,Die Verleugnung des heiligen Petrus"), ,,Lesbos" und die zwei Gedichte mit dem Titel „Femmes damnees" (,,Verdammte Frauen") werden alsbald die Aufmerksamkeit der Justiz auf sich ziehen und es ist sehr wahrscheinlich, daß der „Figaro" für den Prozeß gegen den Autor der „Fleurs du Mal" mitverantwortlich war.[321]

Claude Pichois und Jean Ziegler erinnern daran, dass die Ausgabe der ,Fleurs du Mal' von 1861 (Auflage 1500 Stück) fast mit demselben Recht als Originalausgabe zu bezeichnen ist, ,,wie die von 1857. Sie enthält nicht nur ein Drittel mehr Gedichte, sondern die Gedichte sind auch in einer anderen Reihenfolge angeordnet, was nicht ohne Einfluß auf ihre Bedeutung ist. Außerdem fügte Baudelaire den ursprünglichen fünf Abschnitten - ,,Spleen et Ideal", ,,Fleurs du Mal", ,,Revolte", ,,Le Vin", ,,La Mort" (auch diese in anderer Reihenfolge) - einen sechsten hinzu: ,,Tableaux parisiennes" (,,Pariser Bilder"). Das Buch endet mit dem langen Gedicht „Le Voyage" (,,Die Reise")." ,,Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich fast zufrieden", schreibt der Dichter am 1. Januar 1861 an seine Mutter, Madame Aupick, ,,das Buch ist beinahe, wohl geraten und es wird bleiben, dieses Buch als Zeugnis meines Ekels und meines Hasses auf alle Dinge."[322]

Nachdem Baudelaire die letzten großen Gedichte der „Fleurs du Mal" geschrieben hatte, konstruierte er eine „poetische Prosa, musikalisch, aber ohne Rhythmus oder Reim, biegsam und kontrastreich genug, um sie den lyrischen Bewegungen der Seele anzupassen, den Wellenlinien der Träumerei, den Erschütterungen des Bewusstseins. Vor allem der Aufenthalt in den riesigen Weltstädten, wo unzählige Beziehungen sich kreuzen, läßt dieses quälende Ideal entstehen".[323] Baudelaire, ein Zeitgenosse des frühen Hochkapitalismus führte die Figur der sexuellen Begierde, die ihre Objekte in der Straße sucht, in die Lyrik ein, ,,Das Kennzeichnendste aber ist," bemerkte Walter Benjamin,[324] daß Baudelaire „das mit der Zeile, ,crispe comme un extravagant' in einem seiner vollkommensten Liebesgedichte tut: ,A une passante':"

Einer Dame
Geheul der Straße dröhnte rings im Raum.
Hoch schlank tiefschwarz, in ungemeinem Leide
Schritt eine Frau vorbei, die Hand am Kleide
Hob majestätisch den gerafften Saum;
Gemessen und belebt, ihr Knie gegossen.
Und ich verfiel in Krampf und Siechtum an
Dies Aug' den fahlen Himmel vorm Orkan
Und habe Lust zum Tode dran genossen.

Ein Blitz, dann Nacht! Die Flüchtige, nicht leiht
Sie sich dem Werdenden an ihrem Schimmer.
Seh ich dich nur noch in der Ewigkeit?

Weit fort von hier! zu spät! vielleicht auch nimmer?
Verborgen dir mein Weg und mir wohin du mußt
O du die mir bestimmt, o du die es gewußt![325]

Baudelaire macht im Sonett „A une passante (XCIII)" einen Verrückten (,,crispe comme un extravagant", Vers 6) und eine Prostituierte (,,souslevant, balancant le feston et l'ourlet", Vers 4) zu Aktanten der Begegnung: ,,Ich sog, wie ein Verstörter hingebogen, aus ihres Auges Himmel, drin Gewitter zogen, Süsse, die fasziniert, und Lust, die tötet ein."[326]

Baudelaire streut die Saat einer neuen Liebeswelt. Aus den Lesbierinnen-Gedichten in den „Fleurs du Mal" darf geschlossen werden, dass diese als radikale erotische Bourgeoisiekritik gedacht waren - die „Leichenbitter der Liebe"[327] werden auch ein Gegenstand des Spottes, der Satire und Karikatur in den Bildwerken Honore Daumiers und Jean lsidore Grandvilles werden. Eine Wahlverwandtschaft zu den erotischen Wunschträumen des Charles Baudelaire zeigen auch die Gemälde Gustave Courbets. Immer wieder begegnen wir weiblichen Körpern, die von Liebesraserei erschlafft, in sanften Schlummer fallen. 1866 setzt Gustave Courbet ein Liebeslager lesbischer Frauen in subtilster Weise ins Bild. Courbets Pinsel handelt hier nicht nach Gesetzen der bürgerlichen Moral, sondern nach dem Wollustrausch der galanten Zeit: Perlen, Düftekissen, Seide, Blumenbund, Vase, Karaffe und Kristallglas schmücken das Boudoir. ,,Der Schlaf" (,,Le sommeil", 1866), ein Bild von kristalliner Schönheit, ist in die Kunst- und Skandalgeschichte des 19. Jahrhunderts eingegangen.[328]

In Baudelaires Sonette CXI „Femmes damnees", ,,Delphine et Hippolyte", sagt die Leh rerin der lesbischen[329] Liebe zu ihrer unerfahrenen Freundin:

„Meine Küsse sind leicht wie jene Eintagsfliegen, deren Abendtanz die großen, bis in die Tiefe klaren Seen liebkosend streift, und die deines Geliebten werden ihre Furchen ziehn wie Ackerkarren oder scharfe Pflugschar. [Vers 29-34]

Geh, wenn du magst, und suche dir einen albernen Verlobten; lauf, und biete seinen grausamen Küssen ein jungfräuliches Herz; voll Reue und Entsetzen, fahlen Ange sichts, wirst du mir wiederkehren und gezeichnet deine Brüste weisen". [Vers 69-72][330]

Die Subversion von Baudelaires (ungeheuren) Gedichten der Liebe insistiert bis heute. Die Liebe „aller Himmelsstriche" in allen ihren Formen kehrt in Baudelaires Traum einesMuseums der Liebewieder, alle erotischen Potentiale ziehen da vorüber: von der unausgesprochenen Zärtlichkeit der heiligen Therese bis zu den großen Wahrheiten der ausschweifenden Liebe: ,,Ist es euch wohl schon ergangen wie mir, daß ihr in großer Melancholie verfallen seid, nachdem ihr Stunden damit verbracht habt, in ausschweifenden Kupferstichen zu blättern? Habt ihr euch danach gefragt, warum ein derartiger Reiz darin liegen kann, in diesen Jahrbüchern der Wollust zu wühlen, die in Bibliotheken vergraben oder in Kisten von Trödlern verloren sind, und manchmal auch nach der schlechten Laune, die sie euch verursachen? Lust vermischt mit Schmerz, Bitterkeit, nach der die Lippen immer dürsten! - Die Lust liegt darin, das wichtigste Gefühl der Natur unter allen seinen Formen dargestellt zu sehen, und der Zorn, es häufig so schlecht imitiert oder so dumm verleugnet zu finden. An endlosen Winter abenden beim Schein des Feuers, im dumpfen Müßiggang der Hundstage oder an der Ecke der Glaserbudiken, immer hat mich der Anblick dieser Zeichnungen in ein Gefälle unermeßlicher Träumerei versetzt - etwa so, wie uns ein obszönes Buch in die geheimnisvoll blauenden Meere stürzt. Vor diesen unzähligen Gefühlsproben jedes einzelnen habe ich oft empfunden, daß sich der Dichter, der Kunstfreund oder der Philosoph den Genuß eines Liebesmuseums schenken sollten, in dem alles seinen Platz hätte, von der unausgesprochenen Zärtlichkeit der heiligen Therese bis zu den mit Bedacht betriebenen Ausschweifungen der übersättigten Jahrhunderte. (... )

Der Moralist möge sich nicht gar zu sehr entsetzen; ich weiß das richtige Maß zu halten, und mein Traum würde sich übrigens darauf beschränken, dieses gewaltige Gedicht der Liebe nur von den reinsten Händen ausgeführt zu wünschen, von lngres, von Watteau, von Rubens und Delacroix! Die mutwilligen und eleganten Prinzessinnen von Watteau neben der nachdenklichen und ruhigen Venus von lngres; die köstlich weißen Leiber von Rubens und Jordaens und die düsteren Schönheiten von Delacroix, wie man sie sich vorstellen mag: große, bleiche Frauen, ertränkt in Satin!

Um die aufgeschreckte Keuschheit des Lesers ebenfalls vollständig zu beruhigen, füge ich hinzu, daß ich nicht nur alle Bilder, die in Sonderheit die Liebe behandeln, in das Liebes-Thema aufnehmen würde, sondern auch alle Bilder, die Liebe atmen, und mag es ein Porträt sein.

In dieser riesigen Ausstellung stelle ich mir die Schönheit und die Liebe aller Himmelsstriche von ersten Künstlern ausgedrückt vor, von den närrischen, flatterhaften und herrlichen Geschöpfen, die Watteau uns in seinen Modestichen hinterlassen hat, bis zu jenen Aphroditen des Rembrandt, die sich wie gewöhnliche Sterbliche die Nägel schnei den und mit groben Buchsbaumkamm sich kämmen lassen.

Die Dinge dieser Natur sind dermaßen wichtig, daß es keinen Künstler, groß oder klein, gibt, von Giulio Romano bis zu Deveria und Gavarni, der sich nicht heimlich oder öffentlich um sie bemüht hätte.

Ihr großer Fehler besteht im Allgemeinen darin, daß es ihnen an Naivität und Aufrichtigkeit fehlt. Ich erinnere jedoch eine Lithographie, die leider ohne allzuviel Feinheit - einer der großen Wahrheiten der ausschweifenden Liebe ausdrückt. Ein junger, als Frau verkleideter Mann und seine als Mann angezogene Geliebte sitzen Seite an Seite auf einem Sofa - dem wohlbekannten Sofa des Hotel Garni und des Cabinett particulier. Die junge Frau will die Röcke ihres Geliebten hochheben. - Diesem wollüstigen Blatte würden in dem idealen Museum, von dem ich sprach, manche anderen gegenüberstehen, auf denen die Liebe nur in der zartsinnigsten Form erschiene.

Zu diesen Betrachtungen regten mich neuerdings zwei Bilder von Tassaert an: ,Erigone' und ,Der Sklavenhändler'. Tassaert ist ein Maler von großem Verdienst, dessen Talent sich aufs glücklichste für die amoureusen Stoffe eignen würde. (... )"[331]

Eine Symmetrie zu Baudelaires dionysischem Lusttempel bilden die Musik-Formeln Alban Bergs. Baudelaires „Erotologie des Verdammten"[332] ist eingekapselt in „Wozzeck", ,,Lulu" und nicht minder in der „Lyrischen Suite". In Baudelaires „Wein-Zyklus"[333] (1850- 1857) wird Berg die Seufzer und Sehnsüchte der „schmächtigen Athleten des Lebens"[334] aufspüren. Die aus dem „Wein-Zyklus" ausgewählten Gedichte „Die Seele des Weines", ,,Der Wein der Liebenden" und „Der Wein des Einsamen" mutieren in der Konzertarie „Der Wein"[335] (1929) zur Zwölfton-Poesie. ,,Man muß immer trunken sein," ruft Baudelaire emphatisch aus, ,,berauscht euch, berauscht euch ohne Unterlass! An Wein, an Poesie, an Tugend, ganz nach Geschmack!"[336]

Eingesponnen in die Quadratur des Kreises, ausgesetzt dem Liebes-Weh schreibt Berg an Hanna am 4. Dezember 1929: ,,Und auch, wenn ich - wie heuer im Sommer - den Wein besang: Wen anders geht es an als Dich, Hanna, wenn ich (im ,Wein der Lieben den') sage: ,Lass Schwester uns Brust an Brust fliehn ohne Rast und Stand In meiner Träume Land' ... und diese Worte im leisesten Zusammenklang von H-und F-Dur verklingen! - - Was dann folgt, kann ja nur noch das Lied sein vom Wein des - Einsamen. Ja der bin ich und bleib ich, aber auch als der: ganz und ewig Dein."[337]

Berg, der exemplarische Zweifler an Sprache, brütet über der Baudelaire-Übertragung Stefan Georges, an Soma Morgenstern schreibt er am 12. Juni 1929 über die „Wein Gedichte": ,,Mein lieber Soma, ich komme mit einer großen Bitte an Dich: ich bin eben beim Komponieren der Wein-Gedichte von Baudelaire-George. Und da kommen mir einige Stellen sprachlich ganz rätselhaft vor. Ich habe die Gedichte abgetippt und alles, was mir - besonders die Synthax betreffend- nicht geheuer vorkommt, mitrotemBleistift angezeichnet. Ich bitte Dich nun die Lösungen daneben hinzuschreiben; vielleicht in der Art, daß Du in Frage kommende Stellen in Prosa übersetzest, oder zumindestens durch Interpunktionen andeutest, ob das als Satz oder als Nebensatz oder nur als Ausruf zu verstehen ist?!"[338]

Als Soma Morgenstern nicht rasch genug die Korrekturen übermittelt, wird auch Otto Jokl, ein Schüler Bergs, der schon zu zahlreichen Korrekturarbeiten an der „Lyrischen Suite" herangezogen wurde, mit der George Übersetzung konfrontiert. Der eifrig ergebene Jokl sucht in der „Zentralbibliothek" Wiens nach einer französischen Ausgabe der „Fleurs du Mal", macht Abschriften der Verse, stellt Vergleiche an und am 21. August 1928 antwortet er Alban Berg. ,,George hat die Gedichte, soweit ich mit meinem armseligen Französisch urteilen kann - wirklich - u[nd] zw[ar] herrlich!! - umgedichtet! Wegen der Notizen Herrn Bergs am Rand der Blätter wage ich nicht, die Gedichte länger zu behalten, gestehe aber, dass ich sie mir (samt Notizen) abgeschrieben habe."[339] Nachdem Berg auch die Stellungnahme Morgensterns erhalten hat, erwidert er dem Freund am 6. August 1929: ,,Mein lieber Soma, mein langes Schweigen soll natürlich keine Revanche dafür sein, dass Du meine dringende Anfrage die Baudelaire-Texte betreffend, fast 5 Wochen unbeantwortet ließest. So lange, bis ich mit der Komposition fast fertig war (... ) Wenn ich jetzt mit den Schreibarbeiten an der Arie, mit der ich recht zufrieden bin, fertig bin (Partitur, Reinschrift, Klavierausdruck etc.) (... ) so plane ich endlich wieder an die ,Lulu' zu gehen."[340]

Alban Berg näherte sich dem „Wein-Zyklus", da dieser die Schnittstelle zwischen imaginären und realen Welten zu artikulieren vermag und die zur Verzweiflung Ver dammten in „holdem Rausche schwelgend"[341] elliptisch aneinanderreiht: Den Lumpen sammler,[342] den Mörder, den Spieler, die Freudenmädchen, die Liebenden und: den frommen Dichter. Baudelaire schrieb ein Requiem für all die „Verdammten, die schwei gend sterben"[343] und Berg gelingt eine musikalische Parallelschöpfung - ,,Musik, dem fernen Klagelaut menschlichen Schmerzes gleich".[344] Mit der Komposition „Der Wein" für Sopranstimme und Orchester, in „herzlichster Ergebenheit" der Sängerin Ruzena Herlinger[345] gewidmet, begann Alban Berg Ende Mai 1929 in Trahütten und er voll endete die Partitur am 23. August. Angelegt ist die Arie wie ein dreiflügeliger Altar - unter eine streicher- und bläserdominante Klangaura mischte Berg Tango-Bruchstücke. Der Griff des Weißen in die Musik der Schwarzen dauerte an der Jazz[346] wird in der Oper „Lulu" wiederkehren.

Berg steht Baudelaires Dolorismus ganz nahe: ,,Im Seelischen wie im Körperlichen habe ich immer die Empfindung des Abgrundes gehabt, nicht allein des Abgrundes des Schlafes, sondern auch des Abgrundes der Tätigkeit, des Traumes, der Erinnerung, der Begierde, des Bedauerns, der Reue, des Schönen, der Zahl u.s.w."[347] Das Quälerische und zugleich Genussreiche dieses Eindringens in den Abgrund des Bewußtseins, das erst in der poetischen Gestalt der Musik zu seiner Klärung und Ablösung von seiner Unmittelbarkeit der Subjektivität kommt, fand seine geniale musikalische Ausdrücklichkeit in der Komposition der „Lyrischen Suite". Durch die Verflechtung der Themen Liebe und Entsagung, durch ihr so besonderes Skandieren, durch diese Folge von Kontra punkten, die ineinander gleiten wie aufeinanderfolgende Wellen, schenkt Berg der Kammermusik des 20. Jahrhunderts neue Ausdrucksmöglichkeiten. Die Lyrische Suite entspringt dem Augenblick einer schmerzlichen Bilanz, in der die umworbene Geliebte sich dem, der seine Lebenszeit in vergeblichem Liebesbegehren aufgezehrt hat, schon in eine unerreichbare Ferne entzogen hat.

Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts geriet Alban Berg in eine bedrohliche Isola tion, sowohl musikalisch durch das Vordringen des Nationalsozialismus[348] in Österreich, der das Musikschaffen der 2. Wiener Schule radikal ausgrenzte, wie existentiell - die wachsenden finanziellen Sorgen engten die bürgerliche Existenz[349] beträchtlich ein.

In einem tristen Dämmerzustand hat Alban Berg die letzten Jahre verbracht, eigentlich nur gespürt wie die Stunden vergehen. Sein Waldhaus[350] in Auen am Wörthersee steht inmitten einer Wildnis, ein Haus von dem es heißen könnte, daß es das letzte aller Häuser ist, in das sich Berg eingeschlossen[351] hat. Aus einem rechteckigen Fenster stürzt das Mittagslicht auf den Arbeitstisch nieder, Notenhaufen schwimmen im Netz, draußen verströmen Erdbeeren ihren süßen Duft, Löwenzahn steht vor der Tür. Im Herbst bildet sich Dampf auf den Glasscheiben, darauf man mit dem Finger schreiben kann. Wein überflutet den Zurückgelassenen.

Bergs höchste ästhetische Aufmerksamkeit gilt im Jahre 1934 der Fertigstellung der „Lulu"-Partitur. ,,Der See, obwohl eislos, in Todesstille verharrend",[352] umgibt ihn am Karfreitag des Jahres 1934. In all den Monaten gerät sein Blick an die geliebten Pflanzen: Da sind die Blüten der Kirschbäume, die Alpenrosen, der hochstielige Enzian unter den Fichten, die Zyklamen und das Edelweiß: ,,Alles, alles in Blüte," schreibt er am 10.7.1934 an Anton Webern, ,,aber fast hab' ich nichts von all der Pracht: ich komm ja nicht weg vom Schreibtisch u. fühle mich gehetzt wie noch nie im Leben. Vielleicht hab ich im August etwas mehr Ruhe: für mich u. meine Arbeit: die Part. der Oper, die ich dann von vorne beginnen werde".[353] Er sitzt am Schreibtisch, man riecht den Zigaretten rauch im Zimmer, in der Hand hält er den Füllhalter Hannas wie ein Schutzschild.

Seitdem Hermann Broch im Jahre 1930/32 mit der Veröffentlichung der „Schlafwandler Trilogie"[354] auf sich als Romancier aufmerksam machte, wird Berg von dem Werk des Freundes angezogen und angeregt werden. Ohne die Erlebnisse und Reflexionen während der Beziehung Brochs zu Ea von Allesch ist die „Schlafwandler-Trilogie" nicht denkbar. Das Erlebnis des mehrjährigen Zusammenseins mit Ea bedeutet eine Lebenswende für Hermann Broch: ,,Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch"[355]wird von Mitte 1920 bis Anfang 1921 geschrieben und in der Figur von Hanna Wendling setzte der Dichter in der „Schlafwandler-Trilogie" der Geliebten ein literarisches Denkmal. Ea war ihm „das lichte Glück", die erste Frau, die er als „absolut heimatlich, nah, unentbehrlich, einzig" empfand; drohe eine Trennung, käme das dem „kompletten Zusammenbruch des ,Ichs' gleich".[356] Am 15.4.1929 wird Hermann Broch den letzten Abend in Ea's Wohnung verbringen und bis zur Emigration im Jahre 1938 nur in loser Verbindung mit Ea verbleiben. Im Sommer 1951 will Broch Ea von Allesch in Wien wieder sehen, der Dichter erliegt jedoch am 30. Mai jenes Jahres in seinem amerikanischen Domizil in New Haven, Connecticut einem Herzschlag.[357] 1958 starb Ea im Alter von 78 Jahren in Wien im Krankenhaus Lainz.

Als Emma Elisabeth Täubele wurde sie am 11. Mai 1875 in Ottakring als 9. von 12 Kindern einer Arbeiterfamilie geboren. Durch Robert Musil wurde sie mit Johannes von Allesch bekannt, den sie am 28. Februar 1916 heiratete. Seit 1917 traf Broch regelmäßig mit der verheirateten Frau zusammen, zunächst in Wiener Kaffeehäusern, dann in ihrer Wohnung in der Salesianergasse. Peter Altenberg[358] legte sich eine Sammlung von Ea-Photos an, die er mit Epigrammen versah; bewundert wurde sie von Egon Friedell, Alfred Polgar,[359] Rainer Maria Rilke und von den Malern Anton Faistauer, Franz Blei und Oskar Kokoschka. Den Lebensunterhalt verdiente die „Königin des Cafe Central"[360] mit hervorragenden Zeitungsartikeln über Damenmode.[361] Aus ihrem Vornamen Emma eliminierte sie die beiden mittleren Buchstaben.

Mit ihren roten Haaren, den hohen Wangenknochen und den grau-grünen Augen weckte Ea von Allesch „Lulu" Assoziationen. ,,Wie Diana,[362] jungfräulich und kühl, schritt sie durch die Reihen ihrer Bewunderer", notierte Helga Malmberg in ihren Memoiren.[363] Für die männlichen Trieb-, Aggressions- und Angstphantasien des Fin de Siècle war Ea eine willkommene Projektionsfigur, denn an ihr konnte sich die Vorstellung der femme fatale[364] bzw. femme fragile entzünden. Gustav Klimt, ein Freund Alban Bergs, hat sich der Exzentrizität der Kind-Frau in „Wasserschlangen 11" (,,Freundinnen")[365] 1904/07 genähert und jeden morphologischen Zug Ea's ins Androgyne getrieben - auf der Leinwand schlängelt sich eine mit Anemonen (Klimts Lieblingsblumen) geschmückte, nackte Nymphe, der man in den „Metamorphosen" Ovids immer auf der Spur ist, ohne sie je zu erreichen.

Da ist Apollons Verfolgung der Nymphe Daphne durch dorniges Gelände in Erinnerung zu rufen: ,,Nymphe, bleib stehn! So flieht das Lamm vor dem Wolf, die Hirschkuh vor dem Löwen, so fliehen vor dem Adler die Tauben mit ängstlich schlagenden Flügeln - ein jedes vor seinem Feind; Liebe ist der Grund, warumichdich verfolge. Weh mir! Stürz nicht vorn über und lass die Dornen nicht deine Schenkel ritzen, die keine Verwundung verdienen. Ich will dir keinen Schmerz zufügen. Die Gegend, durch die du dahineilst, ist rauh. Lauf bitte langsamer und zügle deine Flucht! Auch ich will dich langsamer verfolgen."[366] Ovid umkreist und streift das Fliehende. Ovids Liebeskunst gilt mehr dem Verfolgen, nicht dem Erreichen, denn die Berührung würde das Liebesobjekt in einen Vogel oder eine Blume verwandeln und den Traum verscheuchen.

Ein unwiderstehliches Durchforsten der Lüste oder wie Pascal sagte, ,,die Bindung an vergängliche Geschöpfe", zelebrierte auch Frank Wedekind. Seine ars erotica hat narzißtische, masochistische und sadomasochistische Phantasien massiv freigesetzt und die Erregung der hohen, aufgepeitschten, emporgewachsenen lesbischen Empfin dung auf der muschelförmigen Bühne des Fin de Siècle ausgebreitet. ,,Erdgeist" ist der erste Teil der sogenannten „Lulu"-Tragödie, deren Fortsetzung und Schluß unter dem Titel „Die Büchse der Pandora" 1904 uraufgeführt wurde.[367]

Der ephebenhafte Jüngling Alban Berg - der aussah „wie ein Engel"[368] - und der Buddha und blauen Elefanten nachsinnte, wird den Einführungsvortrag von Karl Kraus anläßlich der Wiener Aufführung von Wedekinds „Büchse der Pandora" am 29. Mai 1905 im Trianon-Theater aufmerksam verfolgen und im Jahre 1928 wird er sein „Lulu"-Libretto[369] mit Hannas goldener Füllfeder zu schreiben beginnen. Bergs furiose Akribie, sein leidenschaftliches Bestreben stets das Äußerste an Ausdrucksdichte zu erreichen verlangte einen Balanceakt, der zwischen Buch und musikalischen Proportionen zu leisten war. Immer wieder hält er inne, Lust und Depressionen wechseln einander ab, nach fünf Jahren Schreibkrämpfen stehen im „Lulu"-Torso Kristallisiertes und Faseriges dicht nebeneinander.

Ein letztes Schreibglück sollte Alban Berg im Jahre 1935 noch beschieden sein. Das von Louis Krasner in Auftrag gegebene „Violinkonzert"[370] wurde von Berg nach zwei monatiger Arbeit mit Hast und Erschöpfung am 15. Juli 1935 beendigt: ,,Ich hatte nämlich an diesem Tage die Komposition des ,Violinkonzertes' soviel wie beendet und saß von sieben Uhr früh bis neun Uhr abends fast ununterbrochen am Klavier und Schreibtisch. Und dann war ich nach einem fast dreizehnstündigen Arbeitstag so todmüd, daß ich unfähig war, noch Musik aufzunehmen u. schlafen ging."[371] Fern gerückt den schillernden Farbnotationen früherer Kompositionen, ist das Particell des „Violinkonzertes" in stumpfem Bleistift-Schwarz ausgeführt. Im Bleistift-Gebiet ist oft radiert, manches verschmiert, manchmal mischt sich blauer Bleistift unter das Grau. Seismographisch zeichnet Berg die feinsten Erschütterungen einer Künstlerexistenz nach. Das Musikstück ist Manon Gropius,[372] der 19-jährigen Tochter Alma Mahler Werfels gewidmet, die am Ostermontag des Jahres 1935 an Kinderlähmung verstarb. Nicht nur Einflüsse von Gustav Mahler,[373] Richard Strauss und Johannes Brahms, auch alles Konstruktivistische, das hinter dem Stück stehen mag, werden hinweggeschwemmt von der somnambulen Klangsinnlichkeit, in der splittrig Folkloristisches und Chorallied-Zitate zittern. Berg deutet ohne jeden Trost auf die Endlichkeit des Lebens. Buchsbaumfarben endet das Musikstück. Am Schluß des zweisätzigen Violinkonzertes steht der Ton H und die der Komposition zugrundeliegende Reihe weist ebenso in der Wahl der Begrenzungstöne auf H und F[374],die Initialen von Hanna Fuchs. Er wird die Abwesende weiter schweigend begehren und die Begierde wird sie aus der Ferne umhüllen, ohne sie anzutasten, ohne daß sie dessen überhaupt gewahr wird. Liest man den letzten Brief vom Winter des Jahres 1934 an Hanna, so wird der Tonfall an den Kreuzweg des Begehrens in Stefan Zweigs[375] Novelle „Brief einer Unbekannten" erinnern: Hier schreibt die todgeweihte, hoffnungslos Liebende: ,,Keine Zeile habe ich von Dir in meinen letzten Stunden, keine Zeile von Dir, dem ich mein Leben gegeben. Ich habe gewartet, ich habe gewartet wie eine Verzweifelte. Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Du mir geschrieben ... keine Zeile (... ) Mein Kind ist gestorben, unser Kind- jetzt habe ich niemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich. Aber wer bist Du mir, Du der Du mich niemals erkennst, der an mir vorübergeht wie an einem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein, der immer geht und weiter geht und mich läßt in ewigem Warten?(... ) Warum soll ich nicht gerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weitergehen, da Du von mir gegangen bist?" Von der Erzählung Stefan Zweigs inspiriert, drehte Max Ophüls in Amerika im Mai und Juni 1948 in 42 Tagen „Letter from an Unknown Woman".[376] Der Exilierte lotet in den Studios Hollywoods das Wien um 1900 aus, und er bedient sich der hochwertigen Technik so, ,,daß sie allein dem Ausdruck dient, transparent wird und jenseits der Reproduktion der Realität ein Instrument des Gedankens, des Spiels, der Zauberei und des Traums wird."[377] Mit Hilfe des Produzenten John Houseman, des Drehbuchautors Howard Koch und des Kameramannes Franz Planer gelingt Ophüls ein Film, der zwischen „Liebelei" (1932), ,,Der Reigen" (1950) und „Lola Montes" (1955) pendelt. Die Dekors von Russel A. Gausman, Ruby R. Levitt und Charles Barker, die Bauten von Alexander Golitzen und die Kostüme von Travis Benton umspielen subtil die ornamentale[378] Erotik des Fin de Siècle. Das Auge des Betrachters genießt Helle und Dunkelheit, Farbe und Substanz, Form und Stellung, Entfernung und Nähe, Bewegung und Stillstand.

Max Ophüls Adaption der Liebesnovelle Stefan Zweigs gleicht einer ausgezirkelten Tuschzeichnung. Ein Reigen von Dingen und Schauplätzen rhythmisiert die elliptische Filmkonstruktion: Das Klavier Stefans - Tinte und Feder Lisas - die weiße Rose - Zimmer, Treppen, Gassen und Plätze Wiens - der Bahnhof - der verschneite nächtliche Prater mit der kleinen Eisenbahn - das Praterkaffee und die Walzerkapelle - die Oper und die Arien der Zauberflöte - die Kutschenfahrten. Hinter den Kulissen wird die Architektur des Unbewussten spürbar.

Nirgends in Filmen schneit es so dicht und unaufhaltsam wie in Ophüls kinetischen Lichtbildern. Eine Archäologie[379] des Begehrens betreibt der Cineast vorzugsweise im Schnee, gleich Arthur Schnitzler, der unglücklich Liebende dem Schneeflockengestöber aussetzt. Im Einakter „Weihnachtseinkäufe" (1898) begegnet Anatol am Weihnachts abend Gabriele bei eiligen Einkäufen in der Vorstadt: es schneit unaufhörlich. Auf der Bühne gab vor rund 50 Jahren Paula Wessely die Rolle der Gabriele und in ihrem feinziselierten Sprechgesang konnte man auch die Silben wie Schneeflocken fallen hören.

In „Letter from an Unknown Woman" tanzen Lisa (Joan Fontaine) und Stefan (Louis Jourdan) Walzer im Schnee. Da ist anfangs die weiße Rose und das schwindel erregende Begehren und nach Jahren des Liebesleides blicken wir in das leichenblasse Gesicht der an Typhus erkrankten Lisa, die am Tisch sitzt und die letzten Zeilen an Stefan, den Herzensgeliebten richtet: ,,Wenn du diesen Brief liest, bin ich vielleicht schon tot ... " Lisa übergibt die Botschaft ohne Absender an den Diener Stefans, und noch in derselben Nacht stirbt sie. Nachdem Stefan den Brief gelesen hat, erkundigt er sich nach der Unbekannten. Auf ein Blatt Papier schreibt der Diener ihren Namen: Lisa Berndle. Stefan erinnert sich nur mehr vage an diese Frau, die Liebe ist verronnen wie Wasser aus einer umgestoßenen Vase.

An dieser Stelle wird der Film langsamer und weißer. Die allmähliche Entstellung der Wahrnehmung, das Verschwimmen der Orte und das Verschwinden des Körpergefühls fokussiert Max Ophüls, ein Virtuose der gleitenden Übergänge. In einer Rückblende zeigt er die Einritzungen, die die Sprache der Liebe im Körper Stefans hinterlassen hat: Das junge Mädchen Lisa öffnet Stefan die Tür, sie tritt ihm im Schnee entgegen, sie tanzen Walzer, sie ziehen Spuren im Weichen, er schmilzt in ihren Armen. Auf die hellen folgen die eisigen, gefrorenen, die letzten Sequenzen des Filmes. Die Abfahrt Stefans mit der Kutsche zum Duell. Sein Gegner ist Lisas Mann. Weiss[380] in allen Abstufungen durchzieht die Brief-Filmelegie.

Briefe werden geschrieben und empfangen, einen Brief anzunehmen heißt, ihn erwidern zu wollen, oder ihn achtlos beiseite zu legen. Nicht nur Hanna Fuchs hat Alban Berg mit Schrift- und Notenblättern überhäuft, auch Helene, seine Ehefrau, ist immer Adressat unzähliger Briefbotschaften geblieben.

Beim schnellen Durchblättern des Briefbündels fällt der ungezwungene Redestrom ins Auge. Begierig wandelt der Verliebte im Jahre 1907 auf den Spuren der Dichter und Musiker und umkreist mit Vorliebe Werke, die die Macht der Liebe als eine eminente, schrankenlose Naturkraft schildern: ,,Verehrte, teure Helene! (... ) Wir müssen an das Wunder der Liebe wohl zeitlebens glauben, so wie wir an das Wunder des Todes glauben müssen, wenn auch ,das Geheimnis der Liebe größer ist, als das des Todes'. O nein, teuerste Helene, die Liebe kommt nicht nur in Märchen, Dichterwerken oder in der Musik vor - - nein, nein: die Liebe wurzelt im Leben, und daraus haben es die Dichter geschöpft. Goethe hat bis in sein spätestes Greißenalter mit jugendlicher Inbrunst geliebt, und so konnte er jene herrliche Reihe von Liebeswerken, von ,Werthers Leiden' aufwärts über ,Tasso' bis zu den ,Wahlverwandtschaften', schreiben und gerade in diesem letzten noch die Macht der Liebe als eine eminente, schrankenlose Naturkraft schildern - denn ihm wurde das Geheimnis, das Wunder der Liebe offenbar! Und glaubst Du, beste Helene, dass man Dinge wie Tristan, Meistersinger oder Parzival nur mit der Phantasie und raffinierter Harmonik und Melodik schreibt oder meinst Du nicht auch, dass der, der einen Tristan schreiben konnte, an die Liebe mit überzeugtestem Vertrauen glauben mußte?!"[381]

Wie hypnotisiert ist Berg von Helenes Photographien, dem Tonfall ihrer Stimme, dem Ausdruck ihrer Augen, er möchte vor Liebe schreien, weinen und lachen wie ein Wahnsinniger [Ohne Datum (Mai 1908)] ,,Ich habe dein Salomebild vor mir und versenke mich in diese göttliche Anmut - - - Ewig und ganz Dein Alban. N.S. Ich sehne mich nach dem lieben Tonfall Deiner zärtlichen Stimme!"[382] „31. Mai 1909, Pfingstmontag (... ) es schreit in mir die Sehnsucht nach Dir, nach Deinen Gedanken, Deinen seelischen und körperlichen Reizen (... ) ich sehne mich plötzlich mit ungeheurer Macht nach Deinem Gesang - - nach Deiner göttlichen Stimme."[383] „15. Juli 1909. 0 lieb mich, Helene, bleib mir treu - - so stark und überzeugt wie ich Dich liebe und ich Dir treu bin! Ich schliesse, der Wagen wartet, und ich gedenke der schönen unvergesslichen Wagenfahrt im Donautal, wo ich derart von Glut und Zärtlichkeit für Dich geschwellt war, dass ich schreien und weinen und lachen hätte können wie ein Wahnsinniger (... ) ich bin ver rückt, irrsinnig vor Liebe und Sehnsucht nach Dir, Helene. Ich küsse Dich unendlich - Dein Alban."[384]

Helene Berg ist die Blumen-Frau, die Alban Feuerlilien und Veilchen schenkt, deren lichtdurchflutetes, wallendes Haar im Spiegel golden glänzt und deren verletzlicher Körper hinter Glas und im Wasser geborgen scheint. Wie kann Alban, der Gefangene seiner Liebe, ohne sie leben. Bringt er doch im Winter „per Schlitten" Liebesbriefe „auf die Post"[385] Wie gerne verweilt er an der Schwelle des Traumes und wie tief graviert er an einem Donnerstag im Frühling des Jahres 1909, Alban und Helenes Namen auf ewig ein ins Holz: ,,Das Fenster (... ) das drum auch unser beider Namen eingraviert trägt (... ) WiekannichohneDichIeben ! - - - ich bin ja ganz Dein."[386] Selbstversunken, seinsenthoben schreitet der Notenmacher - der lebenslang an Furunkeln leidet und dessen Fleisch vor Wespenstichen nicht gefeit war - neben der liebensbrennenden Ehefrau einher, bis am Horizont das himmelblaue Auge Hannas auftauchen wird. Im Unbekannten liegt eine große Versuchung und in der Gefahr eine große Wollust.

In den Briefen an Hanna Fuchs-Robettin hat Alban Berg alle möglichen Posituren des Verführers ausprobiert und eingenommen: eine schmeichelnde, eine verliebte, eine resignierte und eine verrückte. Gleich Pan im Schilf die Haut der Nymphe streift, beschwört Berg schon zu Beginn des Liebesbundes mit Hanna die physische Materialität des Briefes, nichts sucht er mehr als den Schimmer der Tinte: ,,Ahnst Du denn nicht, was das für mich bedeutete, eine Zeile, und sei es die belangloseste von Dir in Händen zu haben?! Ich kenne ja nicht einmal Deine Schrift!!! -."[387] An die Braut wird im Februar 1834 Georg Büchner schreiben: ,,Ich durste nach einem Briefe. Ich bin allein, wie im Grabe; wann erweckt mich Deine Hand."[388]

Buchstaben[389] zu küssen, davon schwärmt Denis Diderot am 31. August 1760 in einem Brief an Sophie Vollard: ,,Ich küsse deine letzten beiden Briefe. Dies sind Buchstaben, die Du geschrieben hast, und als Du schriebst, berührte Deine Hand die zu füllenden Zeilen und die Räume zwischen ihnen. Leb wohl, meine Liebste. Du wirst das Ende dieser Zeile küssen, weil ich es auch geküsst haben werde - hier und hier! Leb wohl."[390]

Alle die Schwüre, die zu Buchstaben gefroren waren und in Kuverts den Weg von Prag nach Wien genommen haben, alle die Zeilen Hannas sind verschwunden, kein einziges Schriftstück an Alban Berg hat sich erhalten: Kein Brief, keine Karte, kein Telegramm, nichts. Umso kostbarer ist ein Brief von Herbert Fuchs-Robettin, dem Ehemann Hannas, gerichtet an Alban Berg, datiert mit „Prag 26. Oktober 1925". Am gelben Briefbogen, links unten steht ein Name, ,,Hanna Fuchs" ist hier mit blauer Tinte geschrieben.[391] Wir tasten mit den Augen die Schwingungen und Schwebungen von Hannas Schriftzug ab und denken daran, was Ludwig Wittgenstein sagt: ,,(... ) Es ist, als ob der Name einEigenschaftswortwäre."[392]

Geht man der Korrespondenz Alban Bergs mit Hanna Fuchs umfassend die Jahre 1925-1934 nach - wird das erotische Fluidum von Zeile zu Zeile nachvollziehbar, die Chronik des „alljährlichen Lebens- und Liebeszeichen-Gebens"[393] ist in stilistischer Hinsicht ein Kabinettstück ergreifender Brief-Literatur. Die Tragik der Liebe, die Sehn sucht nach dem geliebten, fernen Menschen, die als Motiv in jede andere Form der Kunst quasi von Anbeginn an eingegangen ist, findet im letzten Brief geschrieben am weißgefrorenen[394] Wörthersee, zurückgezogen in die Regionen der Eisgebirge - eine beklemmende Intensität:

„14.12.34

Meine Hanna
Nach langer Zeit wieder einmal die Möglichkeit Dir zu schreiben. Almschi ist so lieb, Dir diese Zeilen, die ich in der Elektrischen schreibe (die mich allein zu ihr bringt) zu übergeben.
In diesen 1 1/2 Jahren, die wir uns nicht sprachen, hab' ich Dich - auch wenn Du den Eindruck haben solltest - nicht vergessen. Wie könnte ich auch! Als ich Dir im Mai 1932 im ,Mahler'-Zimmer auf der Hohen Warte zuletzt die Hand drückte, war es so, als wäre es acht Jahre vorher in Bubenec gewesen. Nichts, aber auch gar nichts Trennendes lag in jener Zwischenzeit. Und so auch jetzt. Träfe ich Dich heute, wir sprächen und wären so zueinander, als hätten wir uns erst gestern getrennt. Und doch haben wir uns endlos lange nicht gesehen, haben nichts Direktes voneinander gehört und keine Geste verriet mehr unsere Zusammengehörigkeit. Und wie lange noch??? In ein paar Wochen (am 9.1.) hab' ich eine Erstaufführung (meiner Symphonie) in Prag. Für mich wäre es (da ich ja nicht in Berlin war) sogar eine Uraufführung. Nichts Naheliegenderes also, als in Prag dabei zu sein- - - und damit bei Dir! Aber in unserer Liebe gibt es nichts Naheliegendes. Vom ersten Augenblick an geschah nur das Entlegendste. Und selbst wenn wir einen ganzen Sommer lang fast Haus an Haus wohnten, waren wir uns äußerlich nicht näher, als sonst in diesen - - - - 10 Jahren (Ja 10 Jahre werden es im kommenden Jahr sein.) Und dabei sah ich Dich (in jenem Sommer 33) sogar zweimal, aber die Welt, die jeden von uns umgab, trennte uns unerbittlich, und meine zaghaften Versuche, Dir einmal ganz allein zu begegnen, mißlangen. Später im Winter suchte ich dann auf einem einsamen Spaziergang die Stätten auf, wo Du im Sommer überall geweilt haben mochtest, und da ich die ganze Zeit über hoffte, auch Du würdest einmal - wenigstens vom See aus vorüberfahrend - das ,Waldhaus' gesehen haben und mein großes Fenster, hinter dem mein Schreibtisch steht- so war mir schließlich dieser Platz so wie hunderte in Prag und das Grand Hotel in Wien und das Zimmer auf der Hohen Warte ein Ort, wo sich unsere Zusammengehörigkeit für ewige Zeiten manifestiert hat. Umso stärker manifestiert hat, als ja keine Seele meiner Umgebung damals gewußt hat, daß Du mir so nah bist und umso mehr, als dann (als ich erkennen mußte, daß Du Velden verlassen hast,) eine Einsamkeit für mich anbrach, die nicht nur durch die menschliche Abgeschiedenheit des folgenden ganzen Jahres bedingt war, sondern auch durch eine immer enger und dichter werdende Verkapselung meines tiefsten Inneren, das sich schließlich- anders ist es nicht zu erklären: - Luft machte, indem es sich auf physisch qualvolle Weise bemerkbar machte. (Der Arzt nannte es eine Störung des Herz-Nervs.) Jetzt bin ich wieder so ,gesund', daß ich weiterhin einsam bleiben kann. Aber am 20. Mai 1935 - am unvergeßlichen Jahrestag - mußt Du so stark an mich denken, daß das Gefühl der Einsamkeit für Augenblicke schwindet. Tu dies, meine Hanna".[395]

Die Landschaft rund um den Wörthersee wird zur Hanna-Landschaft. Die ganze Luft der Landschaft ist heilig. Berg hätte alle Schritte Hannas auf einer Karte einzeichnen können. Zwischen Selbstversunkenheit und erregenden Halbschlafphantasien treibt es ihn herum. Vorbei an den welken Rosengärten entlang des hohen Sommergrases, das zu brüchigen Halmen vertrocknet ist. Die Berge leuchten blau, die Luft ist rauh und brennt in den Augen, der See ist granatfarben, die Vögel in den Wolken[396] verborgen. Er glaubt, daß seine Liebe „unheilbar" sei, ,,unheilbar, weil an ihr nichts zu heilen ist":[397] Es ist besser tot zu sein, als ohne Liebe.[398]

Er betrachtet sich als einen Tumult[399] unzusammenhängenden Fleisches. Vom ziellosen Umherlaufen im Herbst 1935 sind die Fußsohlen wundgerieben und seit Monaten leidet er an einem Furunkel, dessen Eiterpfropt[4]°[400] wächst - als seine Temperatur zu steigen beginnt, kehrt er nach Wien zurück, es ist der 18.11.1935 und er wird an den Proben für die Aufführung der „Lulu-Symphonie" teilnehmen. Sein Puls geht schnell und schwach, das Eiter dehnt sich bis zum Platzen. Helene Berg wird den purpurroten Knoten aufstechen.[401] Am 17. Dezember 1935 liefert man den Komponisten ins Erzherzog Rudolph-Spital ein, hier stirbt er in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 1935 im Alter von fünfzig Jahren an Blutvergiftung.[402]

Ein Taschenkalender des Komponisten aus dem Jahre 1935/36 zeigt am 4. Februar 1936 die Eintragung „Lyr. Suite, New York". Alban Berg vermerkte mit stupender Genauigkeit während der Jahre 1926-1935 den Weg der „Lyrischen Suite" durch die Konzertsäle der Welt. Die Notate mit Bleistift oder mit Tinte ausgeführt, sind immer wieder grell mit Buntstiften eingekreist: Schöne, hypnotisierende Bilder des Begehrens und seiner unendlichen Beharrlichkeit.[403]

Wir haben einige Spuren freigelegt, wo Leben und Musik einander berühren, das eine sich zerstört, die andere sich konstruiert. In der Tonmenge der „Lyrischen Suite" sind die Geheimnisse der Liebenden wie in einem Felsen aufbewahrt. So hält, was wir lesen, unerschütterlich eine Mitte zwischen Entblößung und Verschleierung .

Mögen mit diesen Ausführungen einige verborgene Teile des sechssätzigen Streichquartettes erschlossen worden sein: Weder das Geheimnis seines Zaubers noch das Inkommensurable seiner disparaten Geschlossenheit sind damit geringer geworden. Wer sich dahin bewegt auf seiner Ton für Ton vor uns aufgerollten Bahn, spürt mit Erschauern, wie abgrundtief es zu beiden Seiten hinuntergeht. Gerne verbeugt man sich vor der bitteren Schönheit dieses Werkes.

Die Lyrische Suite - ,,Ein kleines Denkmal einer großen Liebe"[404] - mag in Musik, Dichtung und Architektur zahlreiche Entsprechungen finden. Als eines der schönsten Bauwerke der Welt gilt das Taj Mahal, das ein muslimischer Kaiser als Mausoleum für sich und seine Geliebte als Zeichen einer nie erlöschenden Liebe errichten ließ, und von dem ein indischer Dichter sagte, es sei eine Träne auf der Wange der Zeit.

In Friedrich Hölderlins Briefroman „Hyperion"[405] wandelt sich die angebetete Suzette Gontard zu „Diotima", der mantineischen Seherin, die in Platons „Gastmahl" selbst Sokrates belehrt. Sie ist die Priesterin erlösender, rettender Liebe. Hölderlin schuf diese Gestalt 1794, noch bevor er Suzette im Herbst des folgenden Jahres begegnete. Suzette Gontard, die Frankfurter Bankiersgattin und Mutter von vier Kindern, deren Hauslehrer Hölderlin war, ,,ist schön, wie Engel. Ein zartes geistiges himmlisch reizendes Gesicht! Ach! ich könnte ein Jahrtausend lang in seliger Betrachtung mich und alles vergessen, bei ihr, so unerschöpflich reich ist diese anspruchsvolle stille Seele (... ) alles ist in und an ihr zu einem göttlichen Ganzen vereint."[406] Doch die hymnisch gefeierte Liebe sollte an den gesellschaftlichen Schranken zerschellen. Im September 1798 verließ Hölderlin nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Jakob Friedrich Gontard die Frankfurter Kaufmannsfamilie. Der zweiunddreißigjährige Dichter wird in eine schwere Lebenskrise geraten und im Dezember 1801 von Nürtingen zur Winterreise über die französischen Alpen nah Bordeaux aufbrechen, wo ihm eine Hauslehrerstelle angeboten wird. Nach einem Fußmarsch von über 1000 Kilometer, dessen Strapazen die zerstörende Krankheit ausbrechen lassen, berichtet er am 28. Jänner 1802 der Mutter von den „gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildnis, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im Bette". Nach der Rückkehr aus Bordeaux, leichenblaß, abgemagert, von hohlem, wildem Auge, langem Haar und Bart, nach dem Schwindsuchtstod der dreiunddreißig Jahre zählenden Suzette Gontard, inmitten der völligen Aussichtslosigkeit noch irgend Verständnis für das Neue seiner Dichtung zu finden, schrieb der Dichter des „Hyperion" die Strophenfolge „Hälfte des Lebens".[407] Die Verse ziehen die Summe eines Lebensjahres, von dem aus das Dasein Hölderlins über fast vier Jahrzehnte[408] in ein langsames Erlöschen[409] geleitet wird.

HÄLFTE DES LEBENS

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm' ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

    Ergänzende Noten

  1. Zur blinden Liebe (caecusamor, caecalibido , caecacubido, caecusamorsui) sowie zu der so paradoxen Geschichte der „Augen“ Amors, die nicht immer „verbunden“ waren. Siehe: Erwin Panofsky Studien zu Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, dt. von P. Schwarz, Köln 1980, S. 153 ff. „Man muß die Augen schließen und dem Mund entsagen, / stumm bleiben, blind, geblendet:/ Der durch und durch schwingende Raum, der uns berührt, / will von unserm Sein nur das Ohr.“ In: Rainer Maria Rilke, „Poésie, Oeuvres“, Bd. 2; hrsg. von Paul de Man, Paris 1972. Deutsche Übersetzung der Verse von W. Hamacher und P. Krumme. „In einer bestimmten Phase definiert die Psychoanalyse (Lacan, Séminaire I, S. 243) die imaginäre Intersubjektivität als eine dreigliedrige Struktur: 1. ich sehe den anderen; 2. ich sehe, daß er mich sieht; 3. er weiß, daß ich ihn sehe. In der Liebesbezieheung ist nun der Blick, wenn man so sagen kann, nicht so verwickelt; eine Achse fehlt. Einerseits sehe ich in dieser Beziehung den anderen sehr intensiv; ich sehe nur ihn, ich betrachte ihn eingehend, ich will das Geheimnis dieses Körpers, den ich begehre, durchschauen; und andererseits sehe ich , daß er mich sieht: Ich bin eingeschüchtert, fassungslos, passiv von seinem allmächtigen Blick konstituiert; und diese Verwirrung ist so groß, daß ich nicht zugeben kann (oder will), daß er weiß, daß ich ihn sehe – was meine Entfremdung aufhöbe: Ich stehe ihmblindgegenüber.“ Roland Barthes, »Auge in Auge«, in: Ders; Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. Main 1990, S. 318.

  2. Søren Kierkegaard, „Erstes Berliner Tagebuch 1841/42“, Archivnummer 157, in: Ders; „Berliner Tagebücher“, hrsg. von Tim Hagemann, Frankfurt a. Main 2000. „Die Zeitspanne des Sich-Verliebens ist doch die reizvollste Zeit, in der man - nach dem durch den ersten Zauberschlag gegebenen Gesamteindruck- bei jeder Zusammenkunft, jedem Blick (wie rasch sich auch die Seele sozusagen hinter den Augenlidern verbirgt) etwas mit heimbringt, ebenso wie ein Vogel, der in seiner Geschäftigkeit ein Stück nach dem andern in sein Nest holt und sich doch stets überwältigt fühlt von dem großen Reichtum. Den 11.Oktober 1838“. In: Søren Kierkegaard, „Die Tagebücher“. Eine Auswahl, hrsg. und übersetzt von Hayo Gerdes, Düsseldorf 1980, S.83. Zu Kierkegaard: Walter Benjamin, „Kierkegaard. Das Ende des philosophischen Idealismus“, in: „Gesammelte Schriften“, Band III, Frankfurt a. Main, S. 380.

  3. Alban Bergs Ehegattin Helene, geb. Nahowski (Wien 29.Juli 1885-Wien 30. August 1976) überließ im Jahre 1976 den kompletten schriftlichen Nachweis des Komponisten Alban Berg der Musiksammlung der Öst. Nationalbibliothek, und gründete am 23. 7.1967 die Alban Berg Stiftung. Die Berg-Wohnung in Wien 13, Trauttmansdorffgasse 27 (Stiftungsbüro) und das „Waldhaus in Auen“ sind als Gedenkstätte eingerichtet und nach Anmeldung zugänglich. Siehe: Katalog der Musikhandschriften, Schriften und Studien Alban Bergs im Fond Alban Berg und der weiteren handschriftlichen Quellen im Besitz der Öst. Nationalbibliothek. Band 1 (Bearb. Rosemary Hilmar)- Universal-Edition. Wien 1980, weiters: Alban Berg-Studien hrsg. von Franz Grasberger uns Rudolf Stephan. Band 1. Veröffentlichung der Alban Berg-Stiftung. Siehe auch: Alban Berg-Stiftung. Stiftungsurkunde: Fond 21 Berg 1629/56. „Die Familie [Alban Bergs] väterlicherseits läßt sich bis zur einschließlich fünften Ahnengeneration zurückverfolgen. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ließen sich die Vorfahren in Nürnberg nieder. Alban Bergs Großvater, Josef Sebastian (1791-1867), Bierwirt und Brunnenbohrer, kam in Nürnberg zu hohem Ansehen (...). Die Großeltern mütterlicherseits, Franz Xaver Melchior Braun (1820-1896) und Maria Isabella geb. Stöger (1824-1897) lebten in Wien. Franz Braun war k. u. k. Hofjuwelier und hatte sein Geschäft in der Herrengasse 6 (...). Conrad Berg, der Vater Alban Bergs, kam vermutlich 1868 nach Wien. Am 25.Okt. schloß er die Ehe mit Johanna Braun, Tochter des k. u. k. Hofjuweliers Franz Braun. Er war Buchhändler und übernahm im Jahre 1876 L. Wallners Verlagsbuchhandlung. 1890 wandte sich Conrad Berg auch dem Kunsthandel zu und verkaufte Ölbilder, Devotionalien und Heiligenbilder (...). 1872 bezog das Ehepaar Berg die Wohnung im dritten Stock des Hauses Tuchlauben Nr. 8. am 9. Februar 1885 kam Alban Berg hier [als drittes Kind] zur Welt, [Bergs Vater starb am 30. März 1900.]“ Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, Prunksaal. 23.Mai bis 20. Oktober 1985. Zusammenstellung, Katalogtext und englische Kurzfassung: Rosemary Hilmar, Organisatorische und redaktionelle Leitung: Günter Brosche, S. 17, 18. Alban Berg hatte drei Geschwister: Schwester Smaragda (1886-1954), Bruder Hermann (1882- 1921) und Bruder Charly (1881-1952). „Alban hatte eine Schwester, die Smaragda hieß. Wohl kein gewöhnlicher Name für eine Wienerin. Er erklärte mir einmal den Ursprung ihres und seines Namens (...) Sein Vater hatte einen Kompagnon in seinem Kunsthandel, der ein Grieche war. Sie waren eng befreundet und der Kompagnon war der Taufpate von zwei Kindern. Ihm zu Ehren benannte man die beiden Kinder nach seinem Geschmack [Bergs Taufnamen waren Albano Maria Joannes]. Smaragda war eine gute Musikerin. Sie musizierte oft mit Alban. Sie spielte Klavier viel besser als er. Sie war Klavierlehrerin von Beruf. Smaragda war die einzige von den vier Geschwistern, die Alban sehr ähnlich war. Sie hatte seine graublauen Augen, die leicht geschwungene Nase. Boßhafte Freunde fanden ihr Gesicht ‚genau Alban, nur männlicher’. Sie war eine überzeugte und kämpferische Lesbierin. Ihre Freundin war eine Schweizerin, Frau [May] Keller. Sie lebten zusammen und traten als Ehepaar auf. Obwohl in Wien Homosexualität, die weibliche sowohl wie die männliche- wenigstens damals- recht selten war, gehörte Frau Keller geradezu zur Familie, denn beide, Alban und Helene, waren völlig vorurteilslos.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, Lüneburg: zu Klampen 1995, S.290. „Bergs ältere Schwester Smaragda [verehelichte Frau v. Eger] war Schülerin von Theodor Leschetitzky und eine hervorragende Pianistin, die sich später als Korrepetitorin für Solisten der Wiener Staatsoper wie Anna Bahr-Mildenburg und Marie Gutheil-Schoder einen Namen machte.“ Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, a. a. O; S. 21. Drei Photographien zeigen Alban Berg mit seiner Schwester Smaragda auf Urlaub am Ossiachersee. Siehe: F21 Berg 1585/ 65, 67,69. Im Brief an Soma Morgenstein vom 23. 10. 1934 erwähnt Berg die finanzielle Notlage seiner Schwester: „Meine Schwester ist, nachdem nun auch die May Keller, die vor ihren Gläubigern fluchtartig Wien verlassen musste, nicht mehr in Betracht kommt u. ihr (meiner Schwester) Vermögen auf den vollständigen Nullpunkt (bzw. auf ein paar Versatzzettel) gesunken ist, meine Schwester also ist – vollständigverarmt. Seit Juli muss ich u. mein Bruder [Carl B. Christian Berg, Charly genannt, Exportkaufmann] sie vollständig erhalten. Dazu sind wir beide ja gar nicht in der Lage, aber es zwingt uns, doch jeden 5 Schilling Schein, den wir selbst irgendwie u. irgendwo abzwacken können, ihr zukommen zu lassen, und das tu ich natürlich u. werde es wohl auch ad infinitum tun müssen, wenn es auch heute schon in Wien heißen soll – bei sogenannten ‚Freunden‘ -, ‚ich lasse meine Schwester verhungern.‘ Nun, solangeichnicht verhungere wird es auch bei meiner Schwester nicht dazu kommen. Freilich wie esweitergehn soll, wo – wenn kein Wunder geschieht – in ein paar Monaten meine finanzielle Situation noch ungünstiger sein wird als jetzt, wie es weiter mitmiruauchmeinerSchwesternormal gehen wird: das weiß Gott!“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, a. a. O; S. 272. Bedauerlicherweise findet sich keine Erwähnung über Smaragda Berg in der Publikation: Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich, hrsg. von Wolfgang Förster, Tobias G. Natter, Ines Rieder, Wien 2001. Drei Briefe an Smaragda-Eger Berg finden sich in der Handschriften-Sammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek: (1) Undatiert, Inv. Nr. 291, (2) 24. Juni1917, Inv. Nr. 152444, (3) 31. März 1935, Inv. Nr. 152441.

  4. Werner König hat im Bevölkerungsregister des Magistrats der Stadt Prag über die Familie Herbert Fuchs folgende Eintragung gefunden: „Fuchs, Herbert, geboren am 15. 8. 1886 in Prag, Jude, verheiratet. Beruf: Fabrikant. Wohnung am 21. 10.1922 Haus Nr. 846 im Bezirk II, 1930 Haus in Bubenec.“ Ein Zeichen vor dem Namen Fuchs verweist auf die Bemerkung am oberen Rand: „Das Landespräsidium erlaubte mit der Entscheidung vom 10.10.1934, Nr. 1306/5 aus dem Jahre 1934, Teil 9, Herrn Herbert Fuchs die Änderung seines Namens in ‚Fuchsrobetin’.“ Der Bruder Karel (geb. 1889) hatte bereits 1919 den Namen Fuchs gegen den Namen Robetin getauscht. Diese Namensänderungen waren eine Folge der neuen politischen Verhältnisse nach 1918. Die Deutschen fanden sich „nunmehr mit einem Staatswesen (der neuen Tschechoslowakei) konfrontiert, das aus seinem Mißtrauen und seiner Feindseligkeit ihnen gegenüber keinen Hehl machte.“ (Friedrich Prinz, Geschichte Böhmens, S.375). So suchte man mit den Namensänderungen die deutsche Herkunft zu verbergen. „Ehefrau Jana, geborene Werfelová, geboren am 11. 7.1894 in Prag. Jüdin.“ Hanna ist die vier Jahre jüngere Schwester des Dichters Franz Werfel. „Sohn Frantisek, Edwin, geboren am 23.6.1918 in Prag. Jude. Studiert. Im Jahre 1938 nach dem Beschluß des Landrates in Prag vom 31. 3. 1938 aus dem Staat Tschechoslowakei entlassen wegen Erwerbung einer neuen Staatsangehörigkeit.“ „Tochter Dorothea, Marie, geboren am 10. 11. 1921 in Prag. Jüdin. Studiert.“ Zit. nach: Werner König, Der erste Satz der Lyrischen Suite von Alban Berg und seine fast belanglose Stimmung, Tutzing 1999, S. 68. Herbert Fuchs ist am 19. Aug. 1949 in New York u. Hanna Fuchs am 1. Mai 1964 in New York gestorben. Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969 Freitod), das Großbürgerkind, das die Reparatur des spätkapitalistischen Individuums in der ästhetischen Theorie verankerte: Adorno, der Proust- Leser und Hausmusik-Liebhaber, der weder Whysky-Soda noch gar „Musikologen kleinbürgerlicher Herkunft“ mochte, nannte Hanna Fuchs "eine Bourgeoise durch und durch“. Siehe weiter Note 421. Die Begegnung Adornos mit Alban Berg fällt in das Jahr 1925, der zweiundzwanzigjährige Musikenthusiast Wiesengrund ist gewillt bei Alban Berg Komposition zu studieren. In einem Brief vom 5.Februar 1925 schreibt er an Berg: „Vielleicht entsinnen Sie sich meiner: Auf dem Frankfurter Tonkünstlerfest 1924 ließ ich mich Ihnen von Scherchen [Dirigent, 1891-1966, Emigration 1933] vorstellen und sprach Ihnen von meiner Absicht, nach Wien zu ziehen und bei Ihnen zu arbeiten. Der Plan ist nun spruchreif geworden und ich möchte Sie fragen, ob Sie mich noch annehmen möchten. In Kürze etwas über meinen Bildungsgang: ich bin 1903 in Frankfurt geboren, absolvierte 1921 das Gymnasium und promovierte 1924 auf der Universität Frankfurt zum Dr. phil. Auf Grund einer erkenntnistheoretischen Arbeit. Musik habe ich seit Kindheit getrieben, spielte erst Geige, später Klavier. Auch meine ersten Kompositionsversuche habe ich frühzeitig gemacht. Harmonielehre trieb ich autodidaktisch und kam 1919 zu Bernhard Sekles mit Liedern und Kammermusik. Seitdem bin ich sein Schüler; zuletzt habe ich fünf- und achtstimmigen Vokalsatz und Vokaldoppelfugen bei ihm geschrieben. Unabhängig vom Unterricht schrieb ich für mich weiter; 6 Studien für Streichquartett (1920) (...), mein Quintett (1921) (...) Außerdem schrieb ich 2 Streichtrios und Lieder in verschiedenen Besetzungen: die letzten Jahre gehörten wesentlich wissenschaftlicher, pianistischer und technischer Arbeit; es entstanden nur 3 vierstimmige Frauenchöreacapella (1923) und 3 Klavierstücke. Mit alldem bin ich heute unzufrieden und meine neuen Pläne zu verwirklichen, möchte ich mich zunächst Ihrer Leitung und Kontrolle anvertrauen. Es handelt sich um ganz bestimmte technische Probleme, denen ich mich nicht gewachsen fühle (...) Als Nebenergebnis meiner zugleich philosophischen und musikalischen Betätigung fand sich mein kritisches Wirken: 1921/22 war ich Musikkritiker bei einer Frankfurter Zeitschrift; mit 1923 Frankfurter Referent der Zeitschrift für neue Musik, mit 1925 berichte ich auch für die Berliner Musik.“ Siehe: F21 Berg 1535/1. Theodor W. Adorno wird als Kompositionsschüler Bergs sich bis zum Jahr 1933 häufig in der Stadt Wien aufhalten. Seinen ersten Abend in der Stadt hat er in einer kleinen Skizze festgehalten. Siehe: Wiener Memorial, in: Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 20.2, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1986, S. 535. Siehe weiters: Heinz Steinert, Adorno in Wien. Über die (Un)-möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung, Frankfurt a. Main 1993. Adornos erste Kompositionsschritte, Zwei Stücke für Streichquartett, op. 2 (1925/26) waren am 11. September 1926 in Wien vom „Wiener Streichquartett“ uraufgeführt worden. Im Brief an Soma Morgenstern vom 3. 1. 1927 spricht Berg über Adornos „Quartett“, das „eine wirklich famose Arbeit“ wäre und in Frankfurt „grossen Erfolg“ hatte. Am 23. 8. 1928 berichtet Berg Morgenstern über Adornos "Heft neuer Lieder (Däubler, Trakl, Heym) die wirklich famos sind, was mich doppelt freut, weil sie mir gewidmet sind.“ Siehe: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 71, 214. Den Zauber, der von Partituren, farbigen Fahrscheinen und Ortschaften ausgeht, zeigt Adorno in seinem Beethoven-Fragment auf: „Deutlich kann ich mich aus meiner Kindheit an den Zauber erinnern, der von einer Partitur ausging, welche die Namen der Instrumente nennt und von jedem genau zeigt, was es spielt. Flöte, Klarinette, Oboe- das verspricht nicht weniger als farbige Billette oder Namen von Ortschaften. Wenn ich ganz aufrichtig bin, war es dieser Zauber viel eher als etwa der Wunsch, die Musik als solche zu kennen, der mich bewog, schon als Kind transponieren und Partitur lesen zu lernen und der weiterhin mich überhaupt zum Musiker machte. So stark war dieser Zauber, daß ich ihn heute noch fühle, wenn ich die Pastorale [Beethovens] lese, an der er mir wohl zuerst aufging. Aber nicht wenn man siespielt - und das ist wohl ein Argument gegen die musikalische Aufführung überhaupt.“ In: Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1993, S.21. Zu Adornos Kompositionen siehe: Th. W. Adorno, Klavierstücke. Aufführungspartitur, hrsg. von María Luisa López-Vito, Edition Text + Kritik 2001.

  5. Das Briefkonvolut findet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek inventarisiert unter: Fonds 21 Berg 3432/ 1-14; 3433, 3434 (2a, 2b), 3434/3, 3435, 1-2. Im Herbst 1976 entdeckte in New York der amerikanische Komponist und Musikologe George Perle bei Dorothea Fuchs, Tochter von Hanna Fuchs, vierzehn Briefe Alban Bergs und das annotierte Exemplar der Lyrischen Suite. Siehe weiter Note 306. Im Jahre 1995 transkribierte, publizierte und kommentierte der in Hamburg lebende Musikwissenschaftler Constantin Floros die Schriftstücke Alban Bergs an Hanna Fuchs-Robettin. Siehe: Öst. MUSIKZEITschrift, 50.Jg., Wien 1995. Bergs Briefe an Hanna Fuchs umfassen 1-2, 3 Seiten; 8, 12, 16 u. 23-seitige Briefe finden sich in den Jahren 1925, 1926 u. 1928. Aus dem Jahre 1927 ist kein Brief erhalten. Da Alban Berg nicht alle Briefe datierte, schlägt Constantin Floros eine Reihung und Datierung der Schriftstücke vor. Siehe: Öst. MUSIKZEITschrift 50.Jg., S.5-7. Die Datierung von Floros wird in dieser Publikation in Klammer [ ] angezeigt.

  6. Ein chronologisches Verzeichnis der Kompositionen Alban Bergs und Bearbeitung fremder musikalischer Werke. Siehe: Hans Ferdinand Redlich, Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Wien/ Zürich/ London 1957, S. 330 ff.

  7. Man kann sagen, der Text kommt vom Tod und der Tod unterbricht jäh dieses Umherschweifen der Wörter. „Schreiben heißt, den Sinn der Welt erschüttern, eine indirekte Frage in ihr aufwerfen, auf die zu antworten der Schriftsteller wie in einem Aufschub sich untersagt. Die Antwort gibt jeder von uns unter Beibringung seiner eigenen Geschichte, seiner Sprache, seiner Freiheit; da jedoch Geschichte, Sprache und Freiheit sich unablässig ändern, ist die Antwort der Welt auf einen Schriftsteller nie beendet: man hört nie auf eine Antwort auf das zu geben, was außerhalb aller Antwort geschrieben wurde.“ Roland Barthes, Sur Racine. Der junge Alban Berg ist immens lese- und schreibhungrig. Er legt eine 515 blätterumfassende Zitatensammlung mit dem Titel Von der Selbsterkenntnis an. Darin sind Bergs Schlüssellektüren aufgefächert. In den 11 Heften finden sich vorwiegend Abschriften der Dichtung des 19. Jahrhunderts. Das 12. Heft enthält ein nach Dichtern geordnetes Verzeichnis aller Zitate. Siehe: F 21 Berg 100/I-XII. An Helene Berg schreibt er am 15. Aug. 1907: „O das Leben hat Erneuerung in sich, daran laß uns festhalten. Wir kommen früh genug hinaus‘ heißt’s irgendwo bei Ibsen – und den verehrst Du doch so! Vielleicht erscheine ich dir jetzt veraltet, nach dieser langen Verteidigung der Ideale, aber es scheint nur so: Unsere jetzige Welt ist nicht so arm an Idealen, wie es den Anschein haben mag (...) Da starren uns aus weiter Ferne die tiefliegenden Augen Nietzsches und der verkniffene Mund Ibsens entgegen, und von diesen Großen beschattet steht die Schar der erhabenen Letzten. Wozu pocht das Herz bei Nennung von Namen wie Strindberg, Oscar Wilde, Gerhart Hauptmann, und selbst Wedekind, Altenberg, Karl Hauer, Weininger, Wittels, Karl Kraus und Hermann Bahr – wenn wir nicht in uns das gleiche Streben und Verlangen haben, ihre mit der Feder festgehaltenen Ideale in wirkliches, greifbares Leben umzusetzen??!! Ich werde schon wieder lehrhaft. Mir graut!“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, München/ Wien 1965, S.16.

  8. Die sorgfältige Kennerschaft der Musikavantgarden seiner Zeit zeichnet den Musikschriftsteller Alban Berg aus: Thementafel und Analyse zu den Gurreliedern Arnold Schönbergs (1913), Erster und Zweiter Prospekt) des Vereins für musikalische Privataufführungen (1919) , Materialien zu einem Schönberg-Buch (1910-1933), Thematische Analyse und Führer zu Pelleas und Melisande von Arnold Schönberg (1920), Die musikalische Impotenz der ‚neuen Ästhetik’ Hans Pfitzners (1920), Die musikalischen Formen in meiner Oper ‚Wozzeck’ (1924), Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich? (1924), Offener Brief an Arnold Schönberg (1925), Verbindliche Antwort auf eine unverbindliche Rundfrage (1926), Franz Schuberts 100. Todestag (1928), Vorstellung Ernst Kreneks (1928), Wozzeck-Vortrag (1929), Die Stimme in der Oper (1929), Was ist atonal? (1930), An Adolf Loos (1930), Gedenkrede auf Emil Hertzka (1932), Händel und Bach (1935).

  9. Bei dem Briefwechsel Schönberg mit Alban Berg handelt es sich um ein Konvolut von etwa 145 Briefen, 40 Postkarten, 4 Telegrammen und einer Anzahl weiterer handschriftlicher Dokumente, die sich über die Jahre 1912 bis 1935 hin erstrecken. Das Briefkonvolut befindet sich in der Library of Congress in Washington, USA. Siehe: The Berg-Schoenberg Correspondence. Selected Letters. Edited by Juliane Brand, Christopher Hailey and Donald Harris, New York/London 1987. Arnold Schönberg (1854-1951) der Lehrer und Berg der Schüler, das wäre wieder eine ganz eigene Geschichte, eine von wechselseitiger Anziehung, Achtung, Zuneigung und Bindung. Bergs Opern-Torso Lulu (op. 7) ist Schönberg zum 60. Geburtstag gewidmet. Schöbergs Überwindung der bürgerlichen Tonalität ist die innermusikalische Leistung eines isoliert arbeitenden Einzelkünstlers im kaiserlichen Wien des Fin de Siècle. Die Entwicklung des aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden Autodidakten Schönberg geht ruckweise. Die Musik von Mahler, Brahms und Bruckner entkernt Schönberg, um zur Zwölftonmusik (1923- 1933) vorzustoßen. In den Exilkompositionen verknüpft er wieder Tonalität und Zwölftontechnik. Schönbergs Musikkodex Harmonielehre (1911) blüht neben Kandindskys Brevier über das Geistige in der Kunst (1912) Wassily Kandindsky widmete dem Landschafts- und Köpfe-Maler Schönberg schöne Zeilen: „Sein ‚Selbstportrait‘ ist mit dem sogenannten ‚Pallettenschmutz‘ gemalt. Und welches Farbenmaterial könnte er somit wählen, um diesen starken, nüchternen, präzisen, knappen Eindruck zu erreichen? Ein ‚Damenportrait‘ zeigt in der Farbe mehr oder weniger ausgesprochen nur das kränkelnde Rosa des Kleides – sonst keine Farben! Eine Landschaft ist graugrün, nurgraugrün. Die Zeichnung ist einfach und richtig ‚ungeschickt‘ – eine ‚Vision‘ ist auf einer ganz kleinen Leinwand (oder auf einem Stück Verpackungspappe) nurein Kopf. Stark sprechend sind nur die rot umrandeten Augen. Ich möchte die Schönbergsche Malerei am liebsten dieNurmalereinennen.“ Siehe: Arnold Schönberg. Mit Beiträgen von Alban Berg, Paris von Gütersloh, K. Horwitz, Heinrich Jalowetz, W. Kandindsky, Paul Königer, Karl Linke, Robert Neumann, Erwin Stein, Anton v. Webern, Egon Wellesz, München 1912. Mathias Henke hat dem „Halbgott“ Schönberg den „Vollmenschen“ gegenüber gestellt: Wir erfahren weniger bekannte Details über John Cage, dem Schönberg unentgeltlich Unterricht erteilte unter der Bedingung, daß dieser sein Leben der Musik widme“, weiters daß Schönberg die Widmung des Violinkonzertes an Webern davon abhängig machte, daß dieser nicht „Mitglied der Nazi-Partei“ werden wird, und daß Schönberg durchaus auch Wiener Pratermusik schätzte. Darin ergibt sich auch eine Parallele zu Berg, der einer Blasmusikkapelle in Hietzing mit Vergnügen lauschen wird. Siehe: Mathias Henke, Arnold Schönberg, München 2001. Siehe weiter: Ulrich Krämer, Alban Berg als Schüler Arnold Schönbergs, Quellenstudien und Analysen zum Frühwerk, hrsg. von Rudolf Stephan, Veröffentlichung der Alban Berg Stiftung in der Universal Edition, Wien 1996.

  10. Alban Bergs Briefe an Anton Webern aus den Jahren 1910-1935 sind durch Werner Rierschmid (Mödling bei Wien), einem Freund Weberns vor der Vernichtung bewahrt und gesammelt worden. Die Briefe existieren in einer maschinschriftlichen Abschrift von Josef Polnauer. Siehe: F 21 Berg 3270.

  11. Siehe: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, hrsg. und mit einem Nachwort von Ingolf Schulte, Lüneburg zu Klampen 1995. Soma Morgensterns Originalhandschriften an Alban Berg finden sich im Fonds Berg Österr. Nationalbibliothek/ Musiksammlung unter der Signatur F 21 Berg 1106. Soma Morgenstern (geb. zu Ternopol 1890, gest. New York 1976) war Kulturkorrespondent der Frankfurter Zeitung u. a. auch in Wien. Autor der Romane: Der verlorene Sohn (1934), Die Brautprinzessin (1977).

  12. Alban Berg hat sein Leben lang an seine Frau Helene Briefe geschrieben. Die Briefe, umfassend die Jahre 1907-1935, liegen seit 1965 in einer unvollständigen Edition vor. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, München/Wien 1965. Originalhandschriften, siehe: F 21 Berg 1581. Kleine Charakteristik Helene Bergs: Helene Bergs Biographie wird im Katalog (1985) der Österreichischen Nationalbibliothek wie folgt dargestellt: „Helene Bergs Abkunft ist noch ungewiß. Ihre Mutter, [Anna Nahowski 18. 6. 1859-24. 3. 1931] war die Tochter des Direktors der Prag-Rudniker Korbwaren-Industrie, die nach dem Tode ihres Vaters bei Lieferungen in die Gärten von Schönbrunn behilflich war und möglicherweise den Kaiser bei solcher Gelegenheit kennengelernt hat. Sie war Gattin des Eisenbahnbeamten und Obersten Franz Nahowski. Weitere Aufzeichnungen in den Tagebüchern der Mutter Helene Bergs, zur Zeit versiegelt in der Österreichischen Nationalbibliothek, werden Aufschluß geben über die Beziehung des Kaisers zu Helenes Mutter. Anna Nahowski richtete, den Neuvermählten [Alban und Helene Berg] in Wien XIII, Trauttmansdorffgasse 27 eine Wohnung ein, die sie im Herbst 1911 bezogen.“ Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, a. a. O; S. 41. Anna Nahowski war die Geliebte Kaiser Franz Joseph I., Helene Berg ist die Tochter und Franz Josef (Franzl) Nahowski (geb. 10.12 1889, gest. 23. Nov. 1942) der Sohn des Kaisers. Für Franz Nahowski übernimmt Alban Berg im Jahre 1931 die Kuratorenschaft. Siehe weiter Note 363. Alban Berg heiratete Helene Nahowski am 3. Mai des Jahres 1911. Der Trauungsschein ist eine Urkundenfälschung, als Vater Helene Bergs wird Franz Nahowski angeführt: „Trauungsschein vom Jahre 1911. Alban M. Johannes Berg. Eltern Konrad Berg und Johanna Maria geb. Braun; Wien IX, Fuchsthalerg. 2; geb. Wien 1885, 9. Feber. Helene Karoline Nahowski. Eltern Franz Nahowski und Anna geb. Nowak; Wien XIII, Maxingstr. 46; geb. Wien 1885, 29. Juli.“ Siehe: F21 Berg 424/1-2-4?. Das Hochzeitsphoto des Paares siehe: F 21 Berg 3420. Photographien von Helene Berg siehe: F 21 Berg 1585/30-38a. Alban Berg betitelte am 7. Juli 1926 in einem Brief an Soma Morgenstern seine Frau Helene mit „Seine Majestät“: „Meine Frau konstatierte richtig, daß ihr von der mir zugedachten Umarmung, in der Sie sie mit einschließen, nicht allzuviel übrig bleibt. Trotzdem grüßt S. M. S. M. herzlichst!“ Morgenstern schreibt von „Hoheiten“ am 26. Juli 1926 an Berg: „Von T. Mann gibt es noch einen ganz entzückenden Unterhaltungsroman ‚Königliche Hoheit‘, der Ihnen und ganz besonders der gnädigen Frau sehr gefallen wird: es handelt sich hier um Hoheiten.“ Beide Briefzitate in: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 152, 154. Hinsichtlich des bürgerlichen Lebensstils des Ehepaares Berg ist der Dankbrief an Anna Nahowski, die Mutter Helenes, aufschlussreich: „ohne Datum (Herbst 1911) Verehrte, liebe, gute Mama! Nun sitze ich in meinem prächtigen Zimmer vor dem herrlichsten aller Schreibtische. Nebenan höre ich Helene sich ein Bad machen, eine grosse Feierlichkeit geht durch die Wohnung, die durch keinen Laut, keinen Lärm von der Straße her gestört wird (...) [Es] drängt mich seit dem ersten Augenblick, da ich diese Wohnung betrat, Dir zu sagen, welcher Schwall von Gefühlen, welche Dankbarkeit, ja welche Rührung in mir durch diese von Dirsovorbereitete Wohnung hervorgerufen wurde. Obwohl mir am ersten Abend nach unserer Ankunft körperlich doch elend zumute war, mußte ich mich trotz Fieber und Halsschmerzen immer wieder erheben, um in dieser mit Liebe und häuslicher Genialität gestalteten Wohnung herumzuschleichen, dies und jenes zu besehen, Kästen zu öffnen, die Du, liebe Mama, mit so herrlichem Hausrat gefüllt hast, Vorhänge zu betasten, mich an den Farben der Tapeten zu weiden - - - usw. ohne Ende! (...) Es ist jetzt auch nimmer viel zu tun; mein Kram ist ausgepackt, die tausend Bücher und Noten sind am Platz und nehmen sich herrlich aus. Viele, aber nicht allzuviele Nippes verschönern den Eindruck der Zimmer (...) ebenso die Bilder, die aber noch nicht alle hängen, dazu erwarten wir morgen Meister Gebhart (...) Dank, liebe, gute Mama, für alles! Vielen grenzenlosen Dank! Deine Dich innigst liebenden Kinder Alban und Helene.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 216,217. „In unserem im üppigsten Grün wogenden Gärtchen in der Trautt- (wie traut) – mannsdorffgasse blühen die kleinen, meineroten Strauchenrosen." In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 358. Visitenkarten des Ehepaares Alban und Helene Berg. Siehe: F21 Berg 3064. Siehe auch die Rechnung der „Lithogr. Anstalt Arnold Weisshut, 23. Sept. 1919, 100 St. Visitkartendruck, 3- zeilig, KR 8“: F 21 Berg 2677.

  13. Die Untersuchung und Auffindung möglichst kleiner Bestandteile aus Bergs Leben führte zu einer Photographie, die den Bleistiftspitzerapparat auf dem Schreibtisch des Komponisten zeigt. Siehe: F 21 Berg 3377.

  14. „Dezember 28 (...) Und ich fühle immer deutlicher- besonders in der letzten Zeit-, wie es abwärts geht mit mir. In jeder Hinsicht! Oder zumindestens in allen jenen Hinsichten, die für unsereins das Leben noch erträglich erscheinen lassen könnten. Es wäre auch unnatürlich: Wir wissen genau, wann dieses mein Leben eigentlich zu Ende war- eine Fortsetzung zu erzwingen war ja eigentlich nur ein Versuch. Ein Versuch, der mißlingen mußte. Und er mißlang wahrhaftig!! Das soll Dich nicht traurig machen, meine, meine Hanna. Denn nachdem ich nun doch schon jahrelang in der Trauttmansdorffgasse begraben liege" [Berg an Hanna im Dezember 1928].

  15. Die Begegnung mit Hanna Fuchs im Mai 1925 in Prag erachtete Berg für schicksalshaft: „7.6. im Zug. () Oder werden viele junge Burschen, wie ich einer vor 25 Jahren war, in ihren ersten Dichterversuchen ein langes Liebesepos geschrieben haben, das nach der Heldin dieses Epos benannt war, also damals schon – welche Ahnung! – ‚Hanna‘ hieß?!! Also vor 25 Jahren schon die Sehnsucht nach Dir, seither in meiner Musik immer wieder ahnungsvoll Deine Initialen, in meinem jetzigen Quartett schließlich bewußt: F H.“ [Berg an Hanna am 7. Juni 1928]. Siehe: Walburga Litschauer, „HANNA“. Eine Jugenddichtung von Alban Berg, in: Österreichische MUSIKzeitschrift. Zum 50. Jahrgang, Wien 1995, S. 82-86.

  16. Als Berg am 14. 5. 1914 in den Wiener Kammerspielen Georg Büchners Woyzeck sah, beschloß er „ihn in Musik zu setzen.“ Die Arbeit an der Komposition zog sich über die Jahre des ersten Weltkrieges bis Oktober 1921 hin, im Juni 1922 lag die fertige Partitur, im Dezember desselben Jahres der Klavierauszug im Druck vor. Am 15.7. 1924 wurden in Frankfurt am Main unter Hermann Scherchen Bruchstücke aus dem Wozzeck konzertant aufgeführt und machten den Komponisten plötzlich bekannt. Die Oper, ein Schlüsselwerk des 20.Jahrhunderts, im Vorfeld der Zwölftontechnik, bezeichnete Pierre Boulez als das „Ende der Gattung Oper.“ Wozzeck erlebte die nächste konzertante Aufführung in Prag im Mai 1925 und dabei begegnete Alban Berg Hanna Fuchs, das Schicksal nahm seinen Lauf, und die Oper Wozzeck wird in der Zusammenkunft beider zur Drehscheibe werden.

  17. Alexander Zemlinsky (geb. 14.10. 1871, Wien, gest. 15. 3. 1942, New York.) 1911 folgte Zemlinsky dem Ruf des Königlichen Deutschen Landestheaters Prag, als erster Kapellmeister an das Haus zu kommen, er pflegte vor allem das Schaffen Gustav Mahlers und aufgrund seines konsequenten Einsatzes als Dirigent für zeitgenössische Musik vertraute Alban Berg Zemlinsky die Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester aus der Oper Wozzeck zur Aufführung an. Als sich der Dirigent und Komponist Anfang der Dreißiger Jahre- damals als Opernkapellmeister in Berlin tätig- auf den Höhepunkt seiner Karriere hinbewegte, durchkreuzte die politische Entwicklung mit dem Aufstieg der Nazis seine Laufbahn, ja zerstörte geradezu den Lebensweg des Künstlers jüdischer Abstammung. Mit dem Anschluß Österreich an Hitler- Deutschland im Jahre 1938, emigrierte Zemlinsky in die USA, wo er seit seiner Ankunft im September 1939 in New York zurückgezogen lebte und 1942 dort starb. In seiner Heimatstadt Wien dauerte es Jahrzehnte, bis man mit der Aufführung der Lyrischen Symphonie und anderer Werke das Schaffen des Komponisten würdigte. „Kaleidoskopartig bricht sich in den frühen Werken Zemlinskys das reiche Spektrum des Fin de Siècle. Nicht nur Einflüsse von Mahler, Strauss, Tschaikowsky und Dvorak flossen darin zusammen, sondern auch von Wagner und Brahms. Dabei erwies sich besonders die Überbrückung der beiden großen Antipoden als musikhistorisch folgenreich. Zemlinsky selbst wurde durch diese Synthese in musikalische Landschaften geführt, in denen Kunst und Traum besonders intensiv ineinander verschlungen sind. Seine Harmonik schreitet nicht ‚zielgerecht’, sondern kreist zwischen weit voneinander entfernten Regionen. Seine motivischen Figuren bilden labyrinthische Netze, und seine Formen sind stets vieldeutig.“ Zit. nach: Julia Spinola, Auch das Schöne muß sterben. „Maiblumen blühten überall“: Dramatische und symphonische Werke von Alexander Zemlinsky, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 58, 10.März 1998.

  18. „Prag-Bubenec, No. 593, 9. Mai 1925. Sehr geehrter Herr Alban Berg, meine Frau und ich haben erfahren, daß sie dem zwischen 15. und 20. Mai stattfindenden Prager Musikfest beiwohnen werden. Wir würden uns von ganzem Herzen freuen, wenn sie geneigt wären für diese Tage unsere Gesellschaft anzunehmen und in unserem Hause zu wohnen, darf ich sie hiermit vielmals um ihre zustimmende Antwort bitten, sowie um Nachricht, mit welchem Zuge sie in Prag einzutreffen beabsichtigen. Ihrer lieben Frau Gemahlin bitte ich von meiner Frau viele Grüße sowie meine ergebenste Empfehlung auszurichten. Mit den besten Grüssen in aufrichtiger Wertschätzung. Ihr Herbert Fuchs Robettin.“ Siehe: F 21 Berg 753/1. Sublim ist die dem Brief beigelegte Visitenkarte der Familie Fuchs-Robettin. Die InitialenHFsind in goldenem Prägedruck ausgeführt. Siehe: F 21 Berg 7536/6. Eine Abbildung und ein Lageplan der Villa Fuchs-Robettin findet sich in: Werner König, Der erste Satz der Lyrischen Suite von Alban Berg, Tutzing, S. 73, 74. Heute findet man die Villa in Prag in der Straße Romaina Rollanda.

  19. Die Wege von Alban Berg und Hanna Fuchs kreuzen sich immer wieder in Wien und in Prag. Aus wievielen Schauplätzen besteht die Liebesgeschichte? Im letzten Brief an Hanna Fuchs („14. 12. 34“) spricht Berg von hunderten Plätzen in Prag, hevorgehoben werden ebenso das Hôtel Excelsior am Wörther-See nahe seines Landhauses in Auen, das Grand Hôtel in Wien und das "Mahler Zimmer" im Villenviertel Wiens auf der Hohen Warte. Auch vom Kinogehen ist die Rede, denn der Film befriedigt den Trieb sich zu zerstreuen. Alles in allem sind es dunkle und helle, laute und leise Orte. Anläßlich der Uraufführung der Oper Wozzeck in Berlin unter Erich Kleiber, eilt der Komponist dorthin zu Proben, und vom Herzen geleitet, steigt er in Prag aus, um am 11. und 12. Nov. 1925 ein zweites Mal im Hause Fuchs-Robettin Quartier zu nehmen. Sie hören wieder einander zu, sie verstehen nicht immer. Sie gehen einen Weg zusammen. Der Weg geht von der Sicherheit zur Ungewißheit, andere kommen in die Quere. Helene, in Wien zurückgelassen, ist eifersüchtig und will wegen „Moppinka“ (Kosename von Hanna Fuchs) getröstet werden. Im Brief an seine Ehefrau gibt Berg nicht mehr preis als das, was unbedingt notwendig ist: „Prag 11. November 1925 Abends im Bett. Mein Pferscherl! Um Dir nur kurz zu berichten. Am Bahnhof in Prag war Herbert Fuchs. Riesig lieb, mich gleich für die Heimreise von Berlin nach Wien wieder einladend. In seinem Haus angelangt, schickte ich ihn, es war 1/2 3 Uhr, schlafen, ich begab mich in mein Zimmer und ruhte auch aus. Um 1/2 5 Uhr trafen wir uns alle beim Kaffee (...) Also um 1/2 5 Uhr erschien auch Moppinka samt den Kindern. Der Bub macht sich sehr, das Mäderl ist aber sehr schwächlich, sieht auch leidend aus, also nicht einmal hübsch. Aber trotzdem so lieb, daß es Dir sicher gefiele. Überhaupt: wenn Du einmal die Leute kennenlernen wirst, werden sie Dir nicht minder gefallen als mir. (...) Du weißt, Golderl, warum ich das so ausführlich erzählte: Nicht aus Begeisterung (meine Gedanken sind ja längst in Berlin!) sondern um Dich wegen Moppinka zu beruhigen. Nach der Jause spielten wir fast die ganze Zeit mit den Kindern. Dann Nachtmahl: Hummer-Eier, Rebhühner mit Erdäpfel und Kompott, Käs, Obst. – Und ein unerhörter Wein! Herbert und ich tranken zusammen eine Flasche. Und darauf ein unbeschreiblicher Hennessy!“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 540, 541.

  20. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  21. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  22. „November 1932“ [Berg an Hanna im Nov. 1932].

  23. Am 14. November 1926 fand in Prag unter dem Dirigenten Ostrcils die „Wozzeck“ Aufführung in tschechischer Sprache im Nationaltheater statt. Alban Berg kam in Begleitung seiner Frau einige Tage vorher an und nahm in einem Hotel Quartier. Die Stadt an der Moldau ist der Ort, an dem Bergs „totwundes Herz“ in Tumult gerät. Es gibt gute Felder in der Stadt und es gibt Hindernisfelder. Am 6. und 7 November 1926 wird ihm die Stadt zum Labyrinth. Nach Mitternacht unternimmt er – „nach hinuntergegossenem Alkohol“ einen „mehrstündigen Marsch“ durch „die fremde Stadt“ um sich sehnsüchtig Hannas Haus in Bubenec zu nähern: „Als ich das Haus endlich fand und es von allen vier Seiten umging - - endlich, endlich über Wiesen stolpernd Deine Fenster erblickte, die – sogar die Fenster Dich von der Außenwelt hermetisch verschließen sollten - - - da hätt‘ ich aufschreien wollen wie noch kein Schrei der Welt ertönt ist den einen Namen – den Einen, den Einzigen - - HANNA - - - - (...) welche Nacht – welche Nacht des Wahnsinns.“ [Berg an Hanna ohne Datum 6./ 7. November 1926]. Um Hanna in diesen Tagen des Getrenntseins „wenigstens anschauen zu können“ entwirft Berg hastig auf einem Notenblatt ein Szenarium von möglichen Begegnungen: „Morgen Montag [am 8. Nov. 1926] vormittag die [Wozzeck] Probe (...) vielleicht ergibt es sich, daß Du uns für nachmittag einlädst oder zum Nachtmahl? (...) Dann ein Nachtmahl gemeinsam mit Zemlinsky. Schließlich die Première zu viert in der Loge und dann vermutlich bei einer Nachfeier – bei der wir uns am ungestörtesten – wenigstens anschauen könnten.“ [Berg an Hanna ohne Datum 6./ 7. Nov. 1926]. Die beiden ersten Prager Wozzeck-Aufführungen am 11. Und 13. Nov. 1926 waren so erfolgreich, daß der Komponist über 30x vor den Vorhang gerufen wurde, wie er in einem Brief von Soma Morgenstern am 22. 11. 1926 mitteilte. Aufschlußreich ist die Erwähnung der „Singbarkeit“ der Oper: „ich hatte vor allem größte künstlerische Freude an der musikalisch ganz ausgezeichneten Aufführung, die mich auch von in mancher Hinsicht (namentlich in punktoSingbarkeit ) gehegten Zweifel völlig befreite. Meine Oper wurde in diesem doch gewiß nicht allerersten Theater recht oft herrlichgesungen, u. zw. schöngesungen, wodurch eben die Aufführbarkeit, die trotz Berlin immer noch bestritten wurde, endlich bewiesen erscheint.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 159 ff. Bei der dritten Aufführung des „Wozzeck“ am 16. November 1926, der auch Alma Mahler und Franz Werfel beiwohnten, kam es zu einem von tschechischen Nationalisten organisierten Eklat, weitere Aufführungen wurden verboten. Siehe: Vladimir Karbusicky, Der Kreuzweg Otakar Ostrcils: ein soziologischer Beleg zur Wozzeck-Rezeption?, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft Bd.4, Hamburg 1980. Grau und trostlos ist die Stadt Prag im November 1926 als sie Berg in Begleitung seiner Frau Helene hinter sich lassen wird, an Hanna Fuchs schreibt er im Zug von Prag nach Pilsen: „Dies ist - - ein Abschiedsbrief (...) Helene wird (auch von Alma nicht) nicht zu bewegen sein, auch nur einen halben Tag zuzugeben (...) Wie aber soll ein Menschenhirn die Qualen ertragen, die diese 10 Tage und namentlich die letzten 8 - uns brachten? Angewiesen zu sein auf 2, 3 Blicke im Tag, oft nicht ein Wort der Liebe sagen zu können, nicht einmal telefonisch sprechen zu können.“ [Brief an Hanna am 16. November 1926].

  24. Aus diesem Brief geht hervor, dass die persönliche Übergabe der Briefe vor allem der Bruder Hannas, Franz Werfel und dessen Frau Alma besorgten. Es ist die Eigendynamik, die Energie der Personen, die aufeinandertreffen und sich mischen oder die sich trennen, die die Geschichte von Alban und Hanna weitertreibt. Boten verkörpern somit die Triebkraft der Vermittlung. Man nützt die Verbindungsmittel Brief, Telegramm und Telefon, spricht untereinander darüber, man macht sich seinen Reim, darauf. Alma Mahler-Werfel ist der weibliche Bote. Worauf kam es ihr denn eigentlich an? Listig zu sein, Verbindungen zu knüpfen, Botschaften bei Äther und Papier zu übermitteln, manchmal besitzt sie zauberische Fähigkeiten Rendezvous-Orte auszuwählen. Im „Mahler-Zimmer“ auf der Hohen Warte, Ecke Wollergasse und Steinfeldgasse wird Alban Berg im Mai 1932 zärtlich „die Hand [Hannas] drücken.“ Er tut, wonach ihm verlangt. Aber wohin soll das führen? Er sagt: "Zu einer Zusammengehörigkeit für ewige Zeiten“ [Brief an Hanna „14.12. 34“]. Auch Bergs Bergs Schüler Fritz Klein, und Theodor W. Adorno werden in das mathematisch geordnete geheime Leben Bergs eingeweiht. Bei Adorno lesen wir: „In der Zeit, in der ich bei ihm war, spielte die Geschichte mit Hanna, der Schwester Werfels; er hat mich dabei als postillon d’amour benutzt, wobei meine häufigen Prager Besuche bei meinem Freund Hermann Grab den Vorwand abgeben mußten; die Rolle habe ich ungeschickt gespielt, Hanna nie allein gesprochen, dagegen war die ganze Sache doch so auffällig inszeniert, daß ihr Mann Verdacht schöpfte. Die Affaire war hoffnungslos von Anfang an, da sie einerseits mit einem ungeheuren Pathos belastet war, andererseits weder Berg seine Frau noch Hanna ihren Mann und ihre zwei Kinder verlassen wollte. Er betrieb die Angelegenheit mit einer unendlichen Geheimniskrämerei, offiziell, damit seine Frau nichts merke, in Wahrheit wohl, weil die Geheimnisse ihm selbst Freude machten; ich wurde zu allen möglichen Funktionen innerhalb dieses Geheimnissystems von ihm herangezogen; vom ersten Tag an hatte er mir von der ganzen Geschichte gesprochen. Die Widmung, die er mir in die Partitur der drei Wozzeckbruchstücke schrieb, 'die Bruchstücke ihres Alban Berg', bezogen sich darauf, daß er sich durch den Zwang der Entsagung als zerbrochen betrachtete; doch ist er wohl über die Sache gar nicht so schwer hinweggekommen, wie es mir damals schien. Die Lyrische Suite, eine Programmusik mit verschwiegenem Programm, hat mit zahllosen Anspielungen die ganze Geschichte verkomponiert (...)“ Wiesengrund-Adorno an Helene Berg am 16. 4.1936, in: Th. W. Adorno, Alban Berg. Briefwechsel 1925-1935, Bd. 2, Frankfurt a. Main 1997, S. 335. Um Bergs Vertraute, Alma Mahler-Werfel, die Tochter des Malers Emil Jacob Schindler, Stieftochter Carl Molls und Witwe Gustav Mahlers, rankt sich ein Universum aus Geschichten. Ihre Liebschaften gaben immer wieder Anlaß zu Tratsch, weniger ist sie als Komponistin bekannt. Alma Mahler-Werfel war mit Helene und Alban Berg ein Leben lang befreundet, und die Schöne der Belle Epoque liebte Albans Musik, sie überreichte ihm das Particell der 9. Symphonie Mahlers als großzügiges Geschenk und zögerte nicht die Drucklegung von Wozzeck zu finanzieren. 1929 ehelichte sie den Prager Dichter Franz Werfel, aus der vorherigen Ehe mit dem Architekten Walter Gropius, der Paul Klee als Lehrer an das „Bauhaus“ in Weimar holte, stammte ihre Tochter Manon. Diese starb unerwartet an Kinderlähmung am 22. April 1935. Alban Berg schuf für Alma Mahlers Tochter ein Tonereignis: „Das Violinkonzert“ (1935) ist Manon, „dem Andenken eines Engels geweiht.“ In einem Brief an Alma Mahler-Werfel spricht Berg seine tiefe Anteilnahme aus, die „Blumen von ungeahnter Schönheit“ begleiten müßte: „Meine Almschi, ich weiß nicht, wann ich Dich sehen werde und ob ich- auch nur in einer wortlosen Umarmung- das Unsagbare zum Ausdruck werde bringen dürfen. Ich will auch brieflich nicht versuchen, dort Worte zu finden, wo die Sprache versagt; sind mir doch auch sonst alle die Möglichkeiten versagt, die den großen Mächten dieser Welt- selbst in solchen Zeiten- zu Gebote stehen, nämlich die Möglichkeiten eines kleinen äußeren Zeichens (und wären es nur Blumen von ungeahnter Schönheit) für das, was ich fühle. Aber dennoch: eines Tages – noch bevor dieses fürchterliche Jahr zu Ende sein wird- mag Dir und Franz aus einer Partitur, die dem Andenken eines Engels geweiht sein wird, das Erklingen, was ich fühle und wofür ich heute keinen Ausdruck finde“. Siehe: F21 Berg 480/268. Zum Tod Manon Gropius. Siehe weiter Note 387. Zahlreiche Photographien belegen die Zusammenkunft des Ehepaares Berg mit Alma Mahler- Werfel und Franz Werfel. Siehe: F 21 Berg 3096/7, 4; F 21 Berg 1587, 1592/1, F 21 Berg 1594/37. Briefe und Karten Alma Mahler-Werfel an Helene Berg 1914-1939. Siehe: F21 Berg 1931/1-86, 87-119, 120-143.

  25. „7. 6. im Zug“ [ Berg an Hanna am 7. Juni 1928].

  26. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  27. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925]. 28-34 „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  28. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  29. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  30. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  31. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  32. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  33. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  34. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  35. „Welch’ eine Nacht!“ [Berg an Hanna ohne Datum, 6./7.November 1926]. Vgl. Bergs Zitatensammlung Von der Selbsterkenntnis: „Vom ‚Liebesanfang‘! Es gibt gewisse Blicke des Weibes, die ein liebender Mann nicht gegen den vollen Besitz ihres Körper austauschen würde; Wer in einem hellen Auge den Blick der ersten Zärtlichkeit niemals sich hat entzünden sehen, der kennt nicht die höchste menschliche Glückseligkeit. Kein anderer späterer Augenblick der Wonne wird diesem Augenblick gleichkommen. Erster Teil I „Lust“ v. Gabriele d’Annunzio.“ Siehe: F 21 Berg 100/V, fol 10', 11.

  36. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  37. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  38. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  39. „16. Nov. 26 im Zug nach Prag von Pilsen.“ [Berg an Hanna am 16. November 1926].

  40. „16. Nov. 26 im Zug nach Prag von Pilsen.“ [Berg an Hanna am 16. November 1926].

  41. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  42. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  43. „7. 6. im Zug, wo ich Dir Hanna, wie nirgends sonst ungestört schreiben kann“ [Berg an Hanna am 7. Juni 1928].

  44. „Wien 1930 In unserm Monat“ [Berg an Hanna im Mai 1930].

  45. Paul Claudel, L’oeil écoute (Das Auge lauscht), in: Œuvres en prose, Paris 1965. Abertausende von Meilen weit, bis an den Rand der Welt trieb es Paul Claudel, den Dichter des Seidenen Schuh und man spürt seiner Dichtung den Himmelsrand an, hinter dem Gott wohnt.

  46. Siehe: Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Rechel- Mertens; revidiert von Luzius Keller, Frankfurt a. Main 1994, S. ..??

  47. Siehe: Jean Clair, Die Spitze zum Auge, in: Gestern Flugsand. Alberto Giacometti 1901-1966; hrsg. von Gerhard Fischer. Aus dem Französischen übersetzt von Werner Rappl, editiondaedalus , Wien 1986. Giacometti wird in seinem gesamten Schaffen mit der Unmöglichkeit konfrontiert sein, die Grenzen des Sichtbaren festzulegen: Clair betont in obiger Studie: Denn das, worauf das Auge zielt, und das, was es andererseits bedroht, das ist der Tod. Was der Blick in seiner Beziehung zum Realen sucht, das ist seine eigene Nichtigkeit. Vgl. die Metapher der „geschlossenen Augen“ in Bildern René Magrittes: „Aus einer Vielzahl von Bildern René Magrittes, zumal aus der frühen Zeit, in denen die Augen, der Blick, die Verhüllung oder das Verstellen des Gesichts eine maßgebliche Rolle spielen, sei nur eines herausgegriffen: Die Träumereien eines einsamen Spaziergängers von 1926-27, womöglich eine Paraphrase auf Max Ernsts Pietà –Bild, das eine Paraphrase auf de Chirico ist. Der Blick der stehenden Figur ist abgewendet, die Augen der skulpturalen, schwebenden Figur sind verschlossen. Auf einer ersten Ebene geht es wie in vielen frühen Bildern Magrittes um ein quasikriminalistisches Ereignis, das sich hier aus dem Erlebnis des Todes der Mutter ableitet, die ins Wasser gegangen war. Auf einer zweiten Ebene aber handelt das Bild erneut vom Blick nach innen (...) ‚Surrealist zu sein, wie ich es bin‘, hat Magritte geäußert, ‚bedeutet, jede Erinnerung an das, was man gesehen hat, auszuschalten und immer auf der Suche nach dem zu sein, was noch niemand gesehen hat‘. (...) Das geschlossene Auge und der abgewandte Blick sind in diesem Bild wiederum metaphorische Verweise auf die eigentlichen Ereignisse im Innern und deren Fähigkeit zur Produktion des noch Ungesehenen. (...) Es verwundert deshalb nicht mehr, daß Magritte in eine Montage rund um die Reproduktion eines seiner Gemälde mit dem Titel Ich sehe nicht die im Wald verborgene (Frau) Photos der Surrealisten anordnete, alle Mitstreiter eigens mit geschlossenen Augen aufgenommen. Veröffentlicht wurde diese Montage 1929 in der Zeitschrift ‚La Révolution Surréaliste‘ (in jenem Heft, das sowohl auch Bretons zweites surrealistisches Manifest als auch Magrittes Grundsatzerklärung Les mots et les images als auch das Drehbuch zu Bunuel/Dalis Film Ein andalusischer Hund enthielt.“ Uwe M. Schneede, Das Blinde Sehen, in: Werner Spies, Max Ernst, Retrospektive zum 100. Geburtstag, München 1995, S. 353, 354,

  48. Siehe: Michele Leiris, Mannesalter, Frankfurt a. Main 1975.

  49. Siehe: Georges Bataille, Geschichte des Auges, in: Das obszöne Werk, Hamburg 1977.

  50. Siehe: Jacques Lacan, Das Seminar, Buch II, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Freiburg im Breisgau 1980.

  51. Siehe: Werner Spies, Max Ernst, Loplop – Die Selbstdarstellung des Künstlers, München 1982.

  52. Siehe: Werner Spies, Picasso und seine Zeit, in: Pablo Picasso Ausstellungskatalog, München 1981.

  53. Siehe: Dominique Bozo, Victor Brauner, Ausstellungskatalog, Musée national d’Art moderne, Paris 1972.

  54. Vergleiche die beiden Skulpturen Alberto Giacomettis: (1) Spitze zum Auge, ursprüngliche Gipsfigur, Länge 59 cm, Fondation Giacometti, Kunstmuseum Basel; (2) Spitze zum Auge, Holz und Eisen, Höhe: 12,5 cm, Länge 58 cm, Breite 29,5 cm, Sammlung Musée national d’Art moderne, Paris.

  55. Siehe: Jean Clair, Die Spitze zum Auge, a. a. O; S.11.

  56. Im September 1929 erschien die Nummer Documents mit einem Artikel von Michel Leiris, der das Objekt Giacomettis Spitze zum Auge zum ersten Mal erläutert.

  57. Siehe: Georges Bataille, Geschichte des Auges, in: Ders.; Das obszöne Werk, Hamburg 1977. Zu dieser Erzählung vgl. Roland Barthes, La métaphore de l’oeil, in: Critique 195-196, August- September 1963. Weiters: Jacques Derrida, Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, Katalog anläßlich der im musée du Louvre, Hall Napoléon vom 26.Oktober 1990 bis 21.Jänner 1991 gezeigten Ausstellung, hrsg. von Michael Wetzel, München 1997. Die Geliebte und Muse Georges Batailles war Colette Peignot, genannt Laure. Die frühe Erfahrung von Krankheit, Wahnsinn, Sterben und Tod einte das Paar. Bataille bricht mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Tod in Tränen aus, wenn die Rede auf Colette kam: „Laures Schönheit zeigte sich nur jenen“, schreibt Bataille, „die sie ahnen konnten. Nie schien mir jemand so unnachgiebig und rein wie sie, nie entschieden ‚souveräner’, aber alles in ihr war dem Schatten geweiht. Nichts kam zum Vorschein." Siehe: Bernd Mattheus, Die Tränen der Liebenden. Über Colette Peignot (Laure) und Georges Bataille, in: Lettre INTERNATIONAL Heft 52, Frühjahr 2001, Berlin. „Ein Mann und eine Frau, die zueinander hingezogen sind, verbinden sich durch Wollust. Die Kommunikation, die sie vereinigt, rührt von der Nacktheit ihrer Risse her. Ihre Liebe bedeutet nicht, daß der eine im anderen sein Wesen erblickt, sondern seine Wunde und das Bedürfnis, verloren zu sein: Es gibt keine größere Begierde als die eines Verwundeten für eine andere Wunde.“ Bataille, 1944.

  58. Der Film war 1928 aufgeführt worden und seine Bilder 1929 in Cahier d’Art, Bifur und Variétés veröffentlicht worden. U. W. Schnede erläutert: „Die Surrealisten“, schrieb Dali 1935, beabsichtigen die Befreiung vom Realitätsprinzip und ‚die Emanzipation der Phantasie‘. Diese Freiheit der Phantasie entfaltet sich in Ein Andalusischer Hund, nachdem das äußere Auge zerstört und damit mit surrealistischem Denken die Immagination gelöst ist, und die Bilder befreit worden sind - das, was Max Ernst einmal die ‚plötzliche Steigerung‘ der ‚visionären Fähigkeiten‘ nannte. Dabei ist zu bemerken, daß der Darsteller des Mannes, der das Rasiermesser führt Bunuel selber ist. Der Autor des Films nimmt zu Beginn auf der Leinwand jene Operation vor, die den Blick nach innen ermöglicht, dessen Erfahrungen er sodann ausbreitet. Indem er stellvertretend für das Betrachterauge das Auge im Film zerstört, signalisiert er seine, Bunuels, Absicht, unsere Sehgewohnheiten außer Kraft zu setzen, um anderen Erfahrungstiefen den Weg zu weisen, welche ihrerseits im weiteren Filmverlauf mit aufrüttelnden Bildern beispielhaft vorgeführt werden, und zwar mit dem Ziel, die eigentlichen Ereignisse in der Vorstellung des Betrachters zu evozieren, den die Inkohärenz der Bilder ist ja nach der Vorstellung der Surrealisten das stärkste Mittel zur Evokation. Das Kameraobjektiv ist das apparative Pendant zum Auge. Indem das Auge vor der Kamera zerstört wird, wird das Auge der Kamera in ein neues Licht gerückt. Wie hinter dem geblendeten Auge eine andere Realität aufscheint, so soll durch die destruktiv imprägnierte Kamera eine andere Realität sichtbar gemacht werden, was bei Bunuel mit den Mitteln der zertrümmerten Dramaturgie, der verrätselnden Montage, der Zeitlupe, der bewußt eingesetzten Unschärfe geschieht. Der Schnitt durchs Auge zeigt also zugleich die bilderschaffende Phantasie des aus seinen neuverstandenen Mitteln herausargumentierenden Films an. Und ist damit ein Paradigma für das surrealistische Kunstmachen.“ U. M. Schneede, Das blinde Sehen, in: Werner Spies, Max Ernst. Retrospektive zum 100. Geburtstag. München 1995, S. 355, 356. Siehe weiters: Salvador Dali, Kunst-Film – Antikunst-Film (1927), in: Dali, Der Gegenstand im Licht surrealistischer Experimente (1932), in: Axel Matthes, Tilbert Diego Stegmann (Hrsg.), Salvador Dali, Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, Gesammelte Schriften, München 1974.

  59. „(...) eine schreckliche Kinderangst ist, die Augen zu beschädigen oder zu verlieren. Vielen Erwachsenen ist diese Ängstlichkeit verblieben, und sie fürchten keine andere Organverletzung so sehr wie die des Auges. Ist man doch auch gewohnt zu sagen, daß man etwas behüten werde wie seinen Augapfel.“ Sigmund Freud, Das Unheimliche, 1919, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, London 1947, Imago Publishing Company Ltd., S. 243.

  60. Siehe: Hans Bellmer, Radierung 16,5 x 25 cm für Geschichte des Auges von Lord Auch (Pseudonym für George Batailles), Paris 1944. Siehe weiters: Bellmer- Grafik, hrsg. und gestaltet von Heinrich von Sydow-Zirkwitz, Köln 1970.

  61. „Januar 1960. Prinzip: das Unsichtbare nicht als ein ‚mögliches’ anderes Sichtbares oder als ein ‚Mögliches’ sichtbar für einen anderen, behandeln... Das Unsichtbare ist da ohne Objekt zu sein, es ist die reine Transzendenz ohne ontische Maske. Und die ‚sichtbaren Dinge’ selbst sind schließlich ebenfalls nur um einen abwesenden Kern herum zentriert. Die Frage stellen: das unsichtbare Leben, die unsichtbare Gemeinschaft, der unsichtbare andere, die unsichtbare Kultur. Eine Phänomenologie der ‚anderen Welt’ als Grenze einer Phänomenologie des Imaginären und des ‚Verborgenen’ schreiben. Wenn ich nun sage, jedes Sichtbare sei unsichtbar, die Wahrnehmung sei Nicht-Wahrnehmung, das Bewußtsein habe einpunctumcaecum, Sehen bedeute immer, mehr sehen, als man sieht,- so darf man dies nicht im Sinne einerWidersprüchlichkeitverstehen. Man darf nicht denken, daß ich einem Sichtbaren... ein Nicht- Sichtbares hinzufüge... Es gilt zu verstehen, daß das Sichtbare selbst eine Nicht-Sichtbarkeit enthält... Wases [das Bewußtsein] nicht sieht, sieht es aus prinzipiellen Gründen nicht, es sieht es nicht, weil es Bewußtsein ist. Wases nicht sieht, ist das, wodurch sich das Sehen des übrigen in ihm vorbereitet (wie die Netzhaut an dem Punkt blind ist, von woher sich die Fasern ausbreiten, die schließlich das Sehen ermöglichen). Sichberühren, sichsehen bedeutet... nicht, sich als Objekt zu erfassen, sondern es heißt, für sich selbst offen zu sein, für sich selbst ausersehen zu sein (Narzißmus)-... Das Empfinden, das man empfindet, das Sehen, das man sieht, ist kein Denken zu sehen oder zu empfinden, sondern es ist Sehen, Empfinden, stumme Erfahrung eines stummen Sinnes.“ In: Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986, S. 290f., 311f., 313, 314.

  62. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925]. Im Brief vom 19. Juli 1909 erwähnt Berg, daß er sich „mit dem Aufkaschieren aller Photographien“ [Helenes] beschäftige. „(...) oder lese mitDeinenAugen, DeinemInteresse einige Seiten in einem guten Buch!“. In: Alban Berg Briefe an seine Frau, a. a. O., S. 75. Auf dieselbe Leidenschaft für Photographien hat Brassai bei Marcel Proust aufmerksam gemacht: „Prousts Hartnäckigkeit, ein Porträt von Personen zu bekommen, die sich weigerten, eines herzugeben, zeigt das Ausmaß seiner Leidenschaft für die Photographie. Wenn er keine Satisfaktion erlangte, wiederholte er den Angriff unentwegt. ‚Was ihre eigene Photographie betrifft, so finde ich es wenig nett, sie versprochen und nicht gegeben zu haben’, schreibt er an Duc Armand de Guiche. Kaum hat Proust das Photo erhalten, wird der Duc zum angenehmsten Menschen auf der Welt: ‚Ständig muß man Ihnen danken, denn sie sind immer liebenswürdig. Das schöne Photo habe ich erhalten, voller Ähnlichkeit, sehr wertvoll, um die Erinnerungen eines Vergeßlichen zu fixieren.‘“ In: Brassaï, Proust und die Liebe zur Photographie, Frankfurt a. Main 2001, S. 33. „Zahlreiche Metaphern Prousts nähern bestimmte Gedächtnisvorgänge der photographischen Technik an. (...) ‚Das wahre Leben’, sehen die Menschen nicht, weil sie es nicht dem Licht auszusetzen versuchen. Deshalb ist ihre ganze Vergangenheit von unzähligen Photonegativen verstellt, die nutzlos bleiben, weil der Verstand sie nicht entwickelt hat’“. In: Brassaï, Proust und die Liebe zur Photographie, a. a. O., S. 133.

  63. „Natürlich: 23. 10“ [Berg an Hanna am 23. Okt. 1926].

  64. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“, [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  65. „Welch eine Nacht!“ [Berg an Hanna ohne Datum 6./ 7. Nov. 1926]. Berg erschrickt, als eines Tages sein Telefon nicht funktionierte: „Obwohl ich sehr krank war, erreichte ich es doch, daß es am nächsten Tag so halbwegs repariert war, so daß ein Anruf von Dir von Erfolg begleitet gewesen wäre, umso mehr, als ich ja ständig zuhaus war.“ [Berg an Hanna am 23. Okt. 1926].

  66. Appolinaire hat in zwei Gedichten Le goutteur mélancholique und Poèmes retrouvés den akusmatischen Zustand dargelegt. Im ersten Gedicht handelt es sich um die „ruhige Stimme eines Abwesenden“. Im zweiten schreibt Appolinaire, die Hirten, die die Verkündigung der Engel hörten, hätten „verstanden, was sie zu hören glaubten.“

  67. Zu Lebzeiten des Dichters gab es nur Flugblattdrucke, in der letzten Zeit sind zwei deutsche Gesamtausgaben der 154 von Kavafis zum Druck bestimmten Gedichte erschienen. Siehe: Konstantinos Kavafis, Das Gesamtwerk, aus dem Griechischen übersetzt von Robert Elsie, Zürich 1967. Weiters: K. Kavafis, Gedichte. Das Gesammelte Werk, eingeleitet und aus dem Neugriechischen übertragen von Helmut von den Steinen, Amsterdam MCMLXXXV. In dem Text Die Stimme, aus dem Nachlaß des 1998 in Warschau verstorbenen Dichters Zbigniew Herbert lesen wir von Petrarcas Liebe zur Stimme Lauras: Siehe: Zbigniew Herbert, Der gordische Knoten. Drei Apokryphen, aus dem Polnischen übersetzt von Henryk Bereska, Berlin 2001. Jeder hängt mal mehr, mal weniger an geliebten Stimmen, die zuweilen ihn vor sein Schicksal stellen. Die wenig bekannte Novelle Sarrasine (1830) Balzacs - und doch einer der Höhepunkte seines Werkes - zeigt das Schicksal Sarrasines in narkotisierender Weise. Lassen wir einige Passagen auf der Netzhaut explodieren: In der Novelle trifft der Bildhauer Sarrasine im Jahre 1758 in Rom auf das Theater von Argentina, "vor dem sich eine große Menschenmenge drängte. Er erkundigte sich nach dem Grund der Ansammlung und die Leute antworteten mit zwei Namen: Zambinella! Joammelli! Er geht hinein und nimmt im Parkett Platz (...) Der Vorhang ging auf. Zum ersten Mal in seinem Leben hörte er jene Musik, deren Wonnen ihm Jean Jacques Rousseau (...) so beredt gepriesen hatte. Die Sinne des jungen Bildhauers wurden durch die sublimen Harmonien Joammellis sozusagen zum Fließen gebracht. Das angeborene Schmachtende dieser so geschickt harmonisierenden italienischen Stimmen tauchten ihn in eine hinreißende Extase (...) Als die Zambinella sang, ergriff ein Delirieren den Saal. Der Künstler erschauerte. Dann spürte er in den Tiefen seines Innern, das wir, weil wir kein anderes Wort dafür haben, Herz nennen, plötzlich ein Prickeln. Er klatschte nicht Beifall, er sagte nichts, er empfand einen Anflug von Wahnsinn, eine Art Raserei (...) Eine fast diabolische Macht ließ ihn den Lufthauch ihrer Stimme spüren (...) diese bewegliche, frische, von silbernem Klang erfüllte Stimme (...) diese Stimme drang so lebhaft in seine Seele ein, daß er mehrmals unwillkürliche Schreie ausstieß, wie durch konvulsivisches Entzücken entrissen (...)“. Von der Stimme der Künstlerin durchdrungen kommt Sarrasine zum Orgasmus, er beschließt diese Lust jeden Abend zu wiederholen, „etwa acht Tage lang durchlebte er ein ganzes Leben. Morgens war er mit dem Kneten des Tons beschäftigt, mit dem es ihm gelang die Zambinella nachzubilden.“ Eines Tages wird er Zambinella „in einem Palast von recht schönem Aussehen (...) in einem ebenso strahlend erleuchteten wie prunkvoll möblierten Salon“ Auge in Auge stehen: „(...) Wenn ich nun keine Frau wäre? fragte die Zambinella scheu mit silberner, sanfter Stimme. Welch gelungener Scherz! rief Sarrasine. Glaubst du, du könntest das Auge eines Künstlers täuschen? (...) O‘ du zerbrechliches, süßes Geschöpf! Wie könntest du anders sein?“ Die Stimme der Zambinella lieben, so wie sie ist, ist den Körper, von dem sie ausströmt, lieben, so wie er ist. Doch Zambinella ist ein Kastrat. Der Enttarnte findet sich „bald in einer düsteren, kalten Werkstatt wieder. Der Sänger saß halbtot auf einem Stuhl und wagte nicht, die Statue einer Frau zu betrachten, in der er seine Züge erkannte (...) Ich sollte dich umbringen! schrie Sarrasine (...) aber (...) wenn ich mit dieser Klinge tief in dein Innerstes dränge, würde ich dann ein Gefühl zum Erlöschen bringen oder Befriedigung für meine Rache finden? Du bist ja nichts. Ob Mann oder Frau, ich würde dich töten! Jedoch (...) Sarrasine machte eine Gebärde der Abscheu und wendete dabei den Kopf. Da fiel sein Blick auf die Statue (...) Auch das ist ein Trug! rief er aus (...) Niemals mehr Liebe! Ich bin abgestorben für alle Lust, für alle menschlichen Empfindungen. Bei diesen Worten packte er einen Hammer und schleuderte ihn mit so unsinniger Wucht nach der Statue, daß er sie verfehlte. Er aber vermeinte, dieses Monument seines Wahns zerstört zu haben, griff wieder nach den Degen und holte aus, um den Sänger zu töten.- Zambinella stieß gellende Schreie aus. In diesem Augenblick traten drei Männer ein, und plötzlich fiel der Bildhauer von drei Stilettstichen durchbohrt zu Boden.“ Diese Textpassage ist ein Auszug aus dem in Bälde erscheinenden Buch von Gerhard Fischer mit dem Titel: Ach, über alles, was da blüht, Ist deine Blüte wonnevoll ! Johannes Brahms, Lieder und Gesänge, Opus 32. Natürlich findet sich im Nachlaß Alban Bergs (F21 Berg 219) das Balzacbuch „Sarrasine“, folgende Stelle wurde von Berg angestrichen: „Seit ihr je einer von den Frauen begegnet, deren sieghafte Schönheit dem Ansturm der Jahre trotzt und die mit sechsunddreißig Jahren noch begehrenswerter scheinen, als sie es vielleicht fünfzehn Jahre früher waren? Ihr Antlitz ist eine glühende Seele; es sprüht und strahlt; jeder Zug auf ihm verrät den Geist; aus jeder Pore scheint, besonderrs beim Licht der Kerzen, ein besonderer Glanz zu dringen. Ihre bezaubernden Augen locken oder weisen ab, sprechen oder schweigen; ihr Gang ist ein unschuldvolles Wissen, aus ihrer Stimme bricht der melodische Reichtum von Tönen, die in ihrer sanften Anmut unbeschreiblich verführerisch sind.“

  68. Denis Diderot spricht im Brief vom 10. Juli 1759 an Sophie Volland von der Lust, einen Brief mit verbundenen Augen zu schreiben: „Ich schreibe, ohne etwas zu sehen. Ich bin hergekommen. Ich wollte Ihnen die Hand küssen und wieder gehen. Ich werde wieder gehen, aber ohne diesen Lohn. Doch werde ich nicht schon genügend belohnt, wenn ich Ihnen gezeigt habe, wie sehr ich Sie liebe? Es ist neun Uhr. Ich schreibe Ihnen, daß ich Sie liebe; ich will es Ihnen wenigstens schreiben; aber ich weiß nicht ob die Feder sich meinem Wunsche fügt. Kommen Sie denn wirklich nicht, damit ich es Ihnen sagen und dann davoneilen kann? Adieu, meine Sophie, guten Abend. Sagt Ihnen ihr Herz nicht, daß ich hier bin? Es ist das erste Mal, daß ich im Dunkeln schreibe. Dieser Umstand müßte mir die zärtlichsten Gedanken eingeben. Ich habe nur einen einzigen, nämlich daß ich nicht weiß, wie ich wieder weggehen soll. Die Hoffnung, Sie auf einen Augenblick zu sehen, hält mich zurück, und ich spreche weiter zu Ihnen, ohne zu wissen, ob ich Buchstaben bilde. Überall wo nichts auf dem Blatt steht, sollten Sie lesen, daß ich Sie liebe.“ In: Denis Diderot, Briefe an Sophie. Aus dem Französischen übersetzt von Gudrun Hohl, Frankfurt a. Main 1989, S.11.

  69. Für das Briefeschreiben mit Bleistift und für das Komponieren benötigt Berg den Bleistift- Spitzerapparat. Mit Tinte sind zwei Briefe geschrieben: [6./ 7. Nov. 1926], siehe Autograph F 21 Berg 3432/4 und [23. Oktober 1926], siehe Autograph F 21 Berg 3432/14]. Die Schreibmaschine verwendet Berg hauptsächlich für Geschäftskorrespondenz. Bei den Surrealisten war die „écriture automatique“ eng an die Schreibmaschine gebunden, da diese die Beschleunigung des Schreibaktes zu garantieren vermochte.

  70. Die goldene Füllfeder hat sich erhalten und ist in der Alban Berg Stiftung zu sehen. Die Füllfeder, das „Weihnachtsgeschenk“ Hannas an Alban im Jahre 1930 erwähnt der Komponist erstmals im folgenden Brief: „Wien 1930 In unserm Monat [Berg an Hanna im Mai 1930] (...) wenn wir uns nur hie und da ein Zeichen geben können!Dein letztes war allerdings von einer Beglückung sondergleichen: und wenn ich jetzt damit nicht schreibe, so geschieht es nur aus der Notwendigkeit, den Briefbogen schnell verschwinden lassen zu können, wenn jemand ins Kaffeehaus tritt. Und ebenso groß wie diese Beglückung war die Überraschung für mich Ahnungs- und Hoffnungslosen. Trotzdem erkannte ich dieses ‚Weihnachtsgeschenk’ Franzls sofort als - - - Deines, Einziggeliebte: Einmal muß ich dieses Wort wieder niederschreiben dürfen!- Und Deinen süßen Namen, Du meine Hanna! In dessen 5 Buchstaben alle Zärtlichkeit und Trauer dieser 5 Jahre vereinigt scheinen- - vereinigt, wie in den 5 Buchstaben dieser traurig- zartenLiebeund dessen, der sie ewig in seinem Herzen trägt: Alban.“ Immer wieder blitzt Hannas Füllfeder in den Händen Bergs, in der Anzugtasche und am Schreibtisch auf. Siehe die Photographien: F21 Berg 3331/2, F21 Berg 3368/3,F21 Berg 3382/1 und F21 Berg 3188.

  71. „Oktober 1931“ [Berg an Hanna im Okt. 1931].

  72. „Natürlich: 23. 10.“ [Berg an Hanna am 23. Okt. 1926].

  73. Charles Baudelaire (geb. 9. April 1821 in Paris, gest. 31. Aug. 1867 in Brüssel). Rainer Maria Rilke schrieb an Lou Andreas-Salomé am 18. 7. 1903 über Baudelaire: „Und in der Nacht stand ich auf und suchte meinen Lieblingsband Baudelaire, diePetitspo è mesenprose, und las laut das schönste Gedicht, das überschrieben istAuneheuredumatin ... es endet groß; steht auf, steht und geht aus wie ein Gebet. Ein Gebet Baudelaires; ein wirkliches, schlichtes Gebet, mit den Händen gemacht, ungeschickt und schön wie das Gebet eines russischen Menschen. - Er hatte einen weiten Weg dazu hin, Baudelaire, und er ist ihn kniend und kriechend gegangen. Wie war er mir fern in allem, meiner Fremdesten einer; oft kann ich ihn kaum verstehen und doch, manchmal tief in der Nacht, wenn ich seine Worten nachsprach wie ein Kind, da war er mein Nächster und wohnte neben mir und stand bleich hinter der dünnen Wand und hörte meiner Stimme zu, die fiel. Was für eine seltsame Gemeinsamkeit war da zwischen uns, ein Teilen von allem, dieselbe Armut und vielleicht dieselbe Angst.“ Zu Baudelaires Leben und Werk siehe den Text-Bild- Band von Claude Pichois und Jean-Paul Avice, Baudelaire, Ausstellungskatalog der Bibliothèque Historique de la ville de Paris, 16.November 1993-15.Februar 1994. Neben Baudelaires folgenreichem Gedichtzyklus „Les fleurs du Mal“ (1857, „Die Blumen des Bösen“) stehen seine Essays, Kritiken und Aufsätze zur Kunst. Postume Ausgaben : Charles Baudelaire, Œuvres complètes IV. Petits Poëmes en prose. Les Paradis artificiels, Michel Lévy frères, Paris 1869. Charles Baudelaire, Œuvres complètes II, Petits Poëmes en prose (Le Spleen de Paris), Notice, Notes et éclaircissements de Jacques Crépet, Louis Conrad, Paris 1926. Charles Baudelaire, Petits Poèmes en prose (Le Spleen de Paris), Introduction, notes, bibliographie et choix de variantes par Henri Lemaitre, Garniers Frères, Paris 1962. Charles Baudelaire, Petits Poëmes en prose. Édition critique par Robert Kopp, José Corti, Paris 1969. Charles Baudelaire, Petits Poëmes en prose (Le Spleen de Paris.) Édition présentée établie et annotée par Robert Kopp, Coll. Poésie, Gallimard, Paris 1973. Charles Baudelaire, Œuvres complètes I, Texte établi, présenté et annoré par Claude Pichois, „Bibliothèque de la Pléiade“, Gallimard, Paris 1975. Die Originalhandschriften Baudelaires finden sich in der Bibliothèque Nationale in Paris. „Hundert Jahre nach Baudelaires Tod gründete der Amerikaner William Bandy 1968 zusammen mit Raymond Poggenbourg, James S. Patty und Claude Pichois das Centre d’ Etudes Baudelairiennes in Nashville, Tennessee. (...) Direktor ist seit der Gründung der Ordinarius Claude Pichois, Herausgeber der Baudelaire-Pléiade-Ausgabe (...) Mit der jährlichen Herausgabe des ‚Bulletin Baudelairiennes‘ hat sich das Forschungsinstitut zur Aufgabe gemacht alle Neuerscheinungen über Baudelaire, alle Übersetzungen und Neuausgaben seiner Werke zu dokumentieren- und anzuschaffen(...) Über 60 000 Quellen können Forscher und Liebhaber an der Vanderbilt University in Nashville über einen der berühmtesten Dichter der Moderne konsultieren“. Zit. nach: Elisabeth Oehler, Ein Pariser in Amerika. Das Centre d’ Etudes Baudelairiennes in Nashville, Tennessee, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 89, 18./19.April 1998. Baudelaires Gedichte in Prosa haben in Aloysius Bertrand (1807-1841) einen bedeutenden Vorläufer. Siehe: A. Bertrand, Gaspard de la nuit, Umdichtung von Hermann Bodeck, Salzburg/Klosterneuburg 1958. Auch bei James Thomson (1834-1882), Dichter, Stadtstreicher und Philosoph ist eine Analogie zu Baudelaire festzustellen. Einige Zeilen aus den XXI Gesängen Nachtstadt (1870-1874) machen dies deutlich: „PROEM“. Seht her, gebrochen, ja so ‚schreib ich in den Staub/ des Herzens Stumpfheit und trübselige Last‘./ Weshalb beschwör ich solche Schatten mit Verlaub,/ wenn das Erinnerungsgold schwarz anläuft und verblaßt?/ Weshalb wühl ich den toten Glauben unter Moder vor?/ Weshalb heul ich den Mißton Welt in euer taubes Ohr,/ verzweifelt, doch nicht stumm, als ungebetener Gast?“ Siehe: James Thomson, Nachtstadt und andere lichtscheue Schriften. Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Horstmann, Zürich 1992. Bemerkenswerte Übertragungen von Baudelaires Dichtungen ins Deutsche sind rar. Herausragende Übersetzungen schufen Friedhelm Kemp und Walter Benjamin. Siehe: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. IV.1: Charles Baudelaire, „Tableaux parisiennes.“ Übertragungen aus anderen Teilen der „Fleurs du mal“, hrsg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a. Main 1972. Siehe weiters: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe. In acht Bänden, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München 1975., Übersetzung der Gedichte und Kommentar von Friedhelm Kemp, Übersetzung der Briefe von Guido Meister. Pièrre Blanchar, Jean Desailly, Denis Manuel und Jean Villar verdanken wir hochkarätige Rezitationen von Baudelaire-Lyrik. Siehe: P. Blanchar, Hachette, L’Encyclopédie Sonore, 1968. Das im Brief an Hanna zitierte Baudelaire Gedicht De profundis clamavi in der Umdichtung von Stefan George entnahm Berg den Baudelaire Band Die Blumen des Bösen (3. Auflage. Georg Bondi, Berlin 1914), der in seiner Bibliothek mit den "tausend Büchern und Noten" stand. In der ehemaligen Wohnung Alban Bergs, nunmehr Alban Berg–Stiftung (Wien 1130, Trauttmansdorffgasse 27) kann man Bergs Baudelaire-Bücher mit Eintragungen nachschlagen: Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, 3. Auflage, Georg Bondi, Berlin 1914., Charles Baudelaire: Intime Tagebücher. Bildnisse und Zeichnungen, – Georg Müller, München 1920., Charles Baudelaire: Paralipomena. Übersetzt und herausgegeben von Max Bruns als der 1. Teil des 5. Bandes von Baudelaires Werken in deutscher Ausgabe. – J. C. C. Bruns, Minden in Westfalen 1910. Karl Kraus berichtete im November 1922 in der Fackel, Nr. 601-607, XXIV. Jahr, Seite 50-54 über Baudelaires Paralipomena und Intime Tagebücher. Im Wien der Jahrhundertwende kursiert im Schönberg-Kreis das dichterische Werk Stefan Georges und die Umdichtungen der Fleurs du Mal. Von den 151 Gedichten Baudelaires hat George nur 118 übertragen. Dies ist mit Georges Abneigung gegen „abschreckende und widrige Bilder“ zu erklären. In der Vorrede der Fleurs du Mal äußert George: „VORREDE DER ERSTEN AUSGABE. Diese verdeutschung der FLEURS DU MAL verdankt ihre entstehung nicht dem wunsche einen fremdländischen verfasser einzuführen sondern der ursprünglichen reinen freude am formen. So konnte sie auch nicht willkürlich fortgesetzt und vollendet werden und der umdichter betrachtete seine mehrjährige arbeit als abgeschlossen nachdem er seine möglichkeiten erschöpft sah. Erschwerend war dass von Baudelaire noch keine gute ausgabe besteht, man bald zur ersten bald zur zweiten greifen muss und die dritte sogenannte endgültige an unordnung fehlern und lücken leidet. Es bedarf heute wol kaum noch eines hinweises dass nicht die abschreckenden und widrigen bilder die den Meister eine zeit lang verlockten ihm die große verehrung des ganzen jüngeren geschlechtes eingetragen haben sondern der eifer mit dem er der dichtung neue gebiete eroberte und die glühende geistigkeit mit der auch die sprödesten stoffe durchdrang. So ist dem sinne nach SEGEN das einleitungsgedicht der BLUMEN DES BÖSEN und nicht das fälschlich VORREDE genannte. Mit diesem verehrungsbeweis möge weniger eine getreue nachbildung als ein deutsches denkmal geschaffen sein.“ In: Baudelaire. Die Blumen des Bösen. Umdichtungen von Stefan George, Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin 1930. Das von Berg verwendetete Baudelaire Gedicht De profundis clamavi ist das XXX. Sonett in den Fleurs du Mal, geschrieben am 9. April 1851, es lautet im Französischen: „XXX DE PROFUNDIS CLAMAVI J’implore ta pitié, Toi, l’unique que j’aime, Du fond du gouffre obscur où mon cœur est tombé. C’est un univers morne à l’horizon plombé, Où nagent dans la nuit l’horreur et le blasphème; Un soleil sans chaleur plane au-dessus six mois, Et les six autres mois la nuit couvre la terre; C’est un pays plus nu que la terre polaire; - Ni bêtes, ni ruisseaux, ni verdure, ni bois! Or il n’est pas d’horreur au monde qui surpasse La froide cruauté de ce soleil de glace Et cette immense nuit semblable au vieux Chaos; Je jalouse le sort des plus vils animaux Qui peuvent se plonger dans un sommeil stupide, Tant l’écheveau du temps lentement se dévide!“ Stefan Georges Umdichtungen verfehlen allzuoft den Satzbau und Sprachstil, die den Gedichten Baudelaires eigen waren, und die Paul Claudel treffend charakterisierte. „C’ést un extraordinaire mélange du style racinien et du style journaliste de son temps.“ H. Arbogast führt die Verkürzung „syntaktischer Bezüge einerseits auf den Stilwillen Georges andererseits auf das kürzere deutsche Metrum, den fünfhebigen Jambus statt des Alexandriners, zurück (...) Die Scheu vor dem Nebensatz aber, vor dem Artikel, vor der Kopula, - das alles sind Merkmale eines brachylogischen Stils, der der Baudelaireschen Dichtung fremd war, der erst in der Begegnung Georges mit ihr entstand und entstehen mußte, weil er der gemäße Ausdruck einer Künstlerpersönlichkeit war, die nicht durch Reichtum und Üppigkeit, sondern durch Kargheit und Strenge sich auszeichnete, und weil sich dieser Dichter bei aller Eigenwilligkeit, doch bewußt unter das Gesetz der historischen Formen der deutschen Lyrik stellte und eben deshalb den Alexandriner als unverwendbar empfinden mußte.“ Siehe: H. Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung, Köln/Graz, 1967, S.65. Siehe weiters: Walter Benjamin, Rückblick auf Stefan George. In: Ders; Angelus Novus, Frankfurt 1966, S. 475-481. Die Monographien über Stefan George von C. David (Paris 1952), U. K. Goldsmith (Colorado 1959), M. Durzack (München 1968) weisen in einigen Abschnitten auf die Baudelaire Übersetzungen Georges hin. Über Georges Verhältnis zum französischen Symbolismus informieren W. Vordtriede (Modern Language Notes, Bd.60, 1945) und E. L. Duthie (Paris 1933). Siehe auch: Margot Melenk, Die Baudelaire-Übersetzungen Stefan Georges „Die Blumen des Bösen“ – Original und Übersetzung in vergleichender Stilanalyse. In: Freiburger Schriften zur Romanischen Philologie, Bd. 26, München 1974. Das Baudelaire Gedicht „De profundis clamavi“ in der Prosa-Übersetzung von Friedhelm Kemp lautet: „XXX DE PROFUNDIS CLAMAVI Dein Erbarmen ruf ich an, du einzig Geliebte, aus der Tiefe des dunklen Abgrunds in den mein Herz gestürzt ist. Welch eine trübe Welt mit bleiernem Horizont wo im Düster das Grauen und die Lästerung schwimmen! Eine wärmelose Sonne schwebt sechs Monate lang, und die sechs übrigen bedeckt die Nacht die Erde; dies ist ein Land noch kahler als der Polarkreis; -kein Tier, kein Bach, kein grüner Halm, kein Wald! Es gibt kein Grauen auf der Welt, das die kalte Grausamkeit dieser eisigen Sonne überträfe und diese ungeheure Nacht, dem alten Chaos gleich; Ich neide den geringsten Tieren ihr Los, die sich in einen dumpfen Schlaf versenken dürfen. So träge spult der Knaul der Zeit sich ab!“ Zit. nach: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke/Briefe; Bd. 3, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München 1975, S. 113, 114. Stefan George hat seine Werke von den ersten öffentlichen Ausgaben bis zur Gesamtausgabe 1927-34 alle bei demselben Verleger, dem ihm befreundeten Georg Bondi in Berlin erscheinen lassen. Die Bestände dieser Ausgaben sind im letzten Krieg verloren gegangen. Eine eigenwillige Orthographie kennzeichnete die Buchausgaben Georges, Hauptwörter schrieb er in Anlehnung an die Gebrüder Grimm klein, Grossbuchstaben setzte er meist am Satzanfang, jede Gedichtzeile begann er gross, die übliche Interpunktion vermied er. C. A. Klein schrieb im zweiten Heft der Blätter für Kunst, 1892, S. 49 „Keine interpunktion. wenigstens keine im alten sinn. nur hie und da punkte um unerwartete einhälte zu bezeichnen. Die strofe ist ein musikalisches ganze dessen gliederung sich von selbst ergibt. ein höchsteinfaches system von dem nur der flüchtige beobachter behaupten kann dass es das verständnis erschwere.“ Stefan George, der Dichter und der Buchstabenmacher, bevorzugte das breitformatige Buchformat und wählte die Bertholdsche Akzidenz-Grotesk Schrifttype, die „damals, um 1900, nur für sogenannte Akzidenzen, geschäftliche Prospekte und Anzeigen, gewählt zu werden pflegte. Mit ihrer Nüchternheit, dem gleichmäßig starken Strich (daher grotesk) und ihren breitlaufenden Formen entsprach sie noch am ehesten Georges eigener unverbundener Handschrift, die freilich lebendiger war. Mit ihren Rundungen, den geringen Ober- und Unterlängen lehnte sie sich an die karolingische Minuskel an. Zu dieser Drucktype ließ George seit 1904 erst nur einige, im Lauf der Jahre noch mehr Buchstaben eigens gießen, um Schleifen und Oberlängen, Schrägen und Löcher zu vermeiden oder zu vermindern. All das, zusammen mit der von je gepflogenen Kleinschreibung der Hauptwörter, gab der Gedichtzeile fürs Auge die selbe ebenmäßige Geschlossenheit, die Georges Weise des Hersagens auch fürs Ohr anstrebte.“ Georges Sämtliche Werke sind im Wortlaut, Aufbau, Interpunktion und Bandzählung in neuer Schrifttype („Sorbonne“) im Jahre 1982 im Verlag Klett Kotta (Stuttgart) erschienen. Obiges Zitat ist dem Beiblatt dieser Ausgabe entnommen und im George Band XII/XIV finden sich im Anhang auf S. 164ff Erklärungen zu den Baudelaire Übertragungen Georges: „Mehr als jeder andere Dichter, mehr auch als ein Mallarmé, war Baudelaire Georges Lehrmeister. Zehn Jahre lang, von 1891 bis 1900, hat er aus den „Fleurs du Mal“ übersetzt und an dieser Aufgabe seine Kunst geschult. Von den 151 gezählten, in Wirklichkeit je Ausgabe bis zu 167 Stücken hat er 109 Nummern, davon I – XXVI in geschlossener Reihe, insgesamt 117 Gedichte umgedichtet. Als ihm freilich um die Jahreswende 1900/1901 die ersten Dante-Übertragungen gelungen waren, war an eine Fortsetzung nicht mehr zu denken. Das Buch Baudelaire, „Die Blumen des Bösen“, Umdichtungen von Stefan George, Georg Bondi Berlin 1901 bezeichnet den Abschluß der Arbeit, ja einer ganzen Lebensperiode. Die weiteren Auflagen bis zur sechsten 1922 brachten weder Ergänzungen noch Änderungen und so lautet denn die Vorrede zu Band XIII/XIV der Gesamtausgabe: Diese ausgabe ist vermehrt um drei stücke s. 47.. s. 50.. s. 169 die zur zeit des ersten druckes als zu unfertig ausgeschieden wurden.. neues kam seitdem nicht hinzu und somit kann die arbeit als abgeschlossen gelten. Die vor-ausgabe in handschriftabdruck vom jahre 1891 ist im anhang enthalten. Von den 151 Fleurs du Mal sind 118 übertragen.“ Alban Berg, der die Blumen des Bösen in der Umdichtung Stefan Georges las, stand eine artifizielle Typographie vor Augen, die in der Bondi Ausgabe von 1901 aufscheint. De profundis clamavi, als XXX. Gedicht angeführt, ist im Bertholdschen Akzidenz Grotesk-Schriftzug gesetzt. Berg war kalt gegen alles, was nicht Schönheit war. Die Graphik muß das Auge Bergs beeindruckt haben: So wie es das Brüllen gibt, das dass gesteigerte Vermögen der Stimme angibt, gibt es eine Exaltation des Sehens, ein Anschwellen des Auges. Um einen Eindruck dieser Buchstabenwelt Georges wiederzugeben, wird das Gedicht in der „Sorbonne“-Schrifttype der Klett Kotta-Ausgabe hier angeführt: „DE PROFUNDIS CLAMAVI Zu dir · du einzig teure · dringt mein schrei Aus tiefster schlucht darin mein herz gefallen· Dort ist die gegend tot · die luft wie blei Und in dem finstern fluch und schrecken wallen. Sechs monde steht die sonne ohne warm. In sechsen lagert dunkel auf der erde. Sogar nicht das polarland ist so arm · Nicht einmal bach und baum noch feld noch herde. Erreicht doch keine schreckgeburt des hirnes Das kalte grausen dieses eis-gestirnes Und dieser nacht · ein chaos riesengross! Ich neide des gemeinsten tieres loos Das tauchen kann in stumpfen schlafes schwindel.. So langsam rollt sich ab der zeiten spindel!“

  74. Berg an Hanna ohne Datum [geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  75. Siehe: The Berg-Schoenberg Correspondence. Selected Letters. Edited by Juliane Brand, Christopher Hailey and Donald Harris, New York/London 1987, S. 348-351 mit Notenbeispielen.

  76. Im Autographen ist das Tristan-Zitat angeführt, AFBHsind mit grünem Farbstift angezeigt. Siehe: F21 Berg 3432/14. Das Tristan-Zitat findet sich im Autographen der „Lyrischen Suite“ im VI. Satz, Takt 26/27 mit grüner Tinte markiert, ebenso in grüner Tinte in der Widmungspartitur S. 80, VI Satz, Takt 26/27. Armand Point schuf eine schöne Rötelstudie der „Isolde“, das Blatt ist um 1898 entstanden und „O du mein Tristan“ betitelt.

  77. Siehe: Alexander von Zemlinsky, Lyrische Symphonie in sieben Gesängen nach Gedichten von Rabindranath Tagore für Orchester, eine Sopran- und eine Baritonstimme, op. 18. Klavierauszug mit Text von Heinrich Jalowetz, Univeral Edition, Wien 1925. Handexemplar Alban Bergs mit Bleistifteintragungen. Berg widmete die Lyrische Suite Alexander von Zemlinsky, weil er in seiner Komposition auf das Zitat aus Zemlinskys Lyrischer Symphonie Du bist mein Eigen, mein Eigen Bezug genommen hatte. „Berg kennt das verdeckte und offene musikalische Zitat. Ein offenes Zitat ist beispielsweise das ‚Tristan-Zitat’ im letzten Satz der ‚Lyrischen Suite’. Als verdecktes Zitat könnte man die Schlußtakte des letzten Satzes der Lyrischen Suite bezeichnen, die der 'Abschiedssymphonie' von Haydn nachkomponiert sind (...). Das Thema, das im ersten Satz, Takt 16 einsetzt, ist ein verdecktes Zitat: es ist die rhythmische Kopie des 'Slawischen Tanzes' in g- Moll für Klavier zu vier Händen op. 46, Nr.8 von Antonin Dvorak.“ In: Werner König, Der erste Satz der Lyrischen Suite von Alban Berg, a. a. O; S. 26.

  78. Alban Berg, Lyrische Suite, Streichquartett in sechs Sätzen. Siehe dazu das Programmblatt der Uraufführung: F21 Berg 3135. Eine Orchesterfassung (1928) des II; III. u. IV. Satzes der „Lyrischen Suite“ wurde am 31. Jänner 1929 in Berlin uraufgeführt. Siehe: F21 Berg 3160.

  79. „Die Suite. Unter den größeren Formen der älteren Instrumentalmusik ist die wichtigste die Suite. Sie beherrschte zumal die gesamte Klaviermusik von 1650-1750, ähnlich wie zur Zeit der großen Wiener Meister, später die Sonate. Suite nannte man eine Reihe, Folge von Tanzstücken. Die Anzahl der einzelnen Stücke in der Suite wechselte beträchtlich von 3, 4 bis 12 und mehr Stücken (...) Die ältesten Suiten haben das Schema: Pavane, Gaillarde, Allemande, Courante. Von etwa 1620 an besteht die Suite regelmäßig ausAllemande, Courante, Sarabande, Gigue .(...) Der italienische Name für Suite ist Partita, manchmal findet man auch die Bezeichnung: Partie (...) Die Suite hat ihren Ursprung in der Lautenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts, wurde gegen 1650 die Hauptform der Klaviermusik und stieg in etwa 50-75 Jahren zu ihrem Gipfelpunkt in J.S. Bach auf. Die größten Suitenkomponisten sind Joh. Jac. Froberger, Francois Couperin, Rameau, J.S. Bach, Händel. Durch die rasche Entwicklung der neuen Sonatenform, durch die steigende Beliebtheit der Wiener Klassiker wurde die alte Suite im 19.Jahrhundert stark in den Hintergrund gedrängt (...) In vielen dieser Suiten sind an Stelle der alten Formen neuere Tänze gestellt, wie Walzer, Polka, Polonaise (...) Irgendeine Reihe locker aneinandergefügter Tonstücke von ganz verschiedener Bauart (Sonatensätze ausgenommen) wird jetzt in einer Suite zusammengefaßt. So enthält Tschaikowskys Orchestersuite op.55 z.B.: Elegie, Valse mélancolique, Scherzo, Tema con variazioni; Dvoraks Orchestersuite op. 39 hat: Präludium, Polka, Menuett, Romanze, Furiant. Diese Art Suite berührt sich oft mit der Serenade. (...) Nicht selten wird in neuerer Zeit die Suite dazu verwendet, Musik zu einem Schauspiel, oder sogar einer Oper auf dem Kontzertsaal zugänglich zu machen.“ In: Hugo Leichtentritt, Musikalische Formenlehre, Leipzig 1948, S. 89ff. Die Suite Nr. 4 für das Piano zu vier Händen, op. 53 von Nikolai v. Wilm bezeichnete Berg als „wunderschön, das Schönste, was ich bis jetzt in Suitenform gehört“. „Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, a. a. O; S. 23. Man kann sagen, daß die Lyrische Suite eine Zwillingsschwester hat. Etwa zeitgleich komponierte Leos Janácek das Streichqurartett Nr. 2: „String quartet no.2, ‚Intimate Letter‘s: Originally called ‚Love Letters‘, composed 29 January – 19 February 1928. This is the work most directly inspired by Kamila Stösslová. Janàcek described it‘s composition to her in 573, 576-7 and 581, mentioning its final title in 590. Originally he wrote it withaviola d’amore substituting foraregular viola (see 576). Despite Janácek’s hopes that the Czech Quartet might give the première (see 629, 632), the Brno-based Moravian Quartet, to whom Janácek had already given the music (629), played the quartet privately for Janácek at his house (18 and 25 May 1928) and he described to Stösslová his impressions of the rehearsals (659-60, 664, 695). Janácek intended the first performance to be in Písek, but the posthumous première was given by the Moravian Quartet in Brno at the Exhibition of Contemporary Culture on 7 September 1928 (a private performance for critics) and publicly on 25 September 1928. The first performance in Písek took place on 2 October 1928.“ Siehe: Intimate Letters. Leos Janácek to Kamila Stösslová, hrsg. von John Tyrrell, London/Boston 1994. Die Zahlen im Zitat beziehen sich auf die Briefe Janáceks, die J. Tyrell im angegebenen Buch vollständig wiedergibt.

  80. Rudolf Kolisch (20. Juli 1896-1. August 1978), Sohn eines Kurarztes und Schwager Arnold Schönbergs, hat mit seinem Wiener Streichquartett die wichtigsten Kammermusikwerke des 20.Jahrhunderts uraufgeführt. Die Lyrische Suite wurde 1927/28 durch das „Wiener Streichquartett“ Kolisch 15 mal aufgeführt. Siehe: Schönberg-Berg-Webern. Die Streichquartette. Eine Dokumentation, hrsg. von Ursula Rauchhaupt, Hamburg 1971, S.102. „Das Wiener Streichquartett bekam vom Komponisten das ‚Alleinaufführungsrecht’ der Lyrischen Suite. Berg ahnte dabei nicht, daß ‚interne Schwierigkeiten’ zu einer neuen Zusammenstellung des Quartetts führen würden: „Ich richte mir jetzt meinen neuen Geiger her, was eine schwere, aber sehr lohnende Arbeit ist. Es ist ein ganz junger, 20jähriger Mensch, ein ausgezeichneter Instrumentalist und begabter Musiker, aus dem ich einen idealen zweiten Geiger (natürlich!) zu machen hoffe. Es besteht die Aussicht, daß diese Veränderung dem Quartett sehr zum Vorteil gereichen wird. Unsere Dispositionen für die nächste Saison sind: November Deutschland, Jänner Schweiz, Februar Italien, Frankreich, März Spanien. Die Uraufführung Ihrer Quartettsuite werden wir hoffentlich im Dezember machen können (vielleicht in Berlin?) oder in der ersten Jännerhälfte’. (Kolisch an Berg, 10.Juli 1926,F21 Berg 950/8). Am 7. Februar 1927 trat Stutschewsky aus dem Wiener Streichquartett aus. Er hielt es für nötig, Kolisch darauf hinzuweisen, daß das Quartett eine Gemeinschaft sei, jeder habe den gleichen Anspruch auf gleiche Bezahlung und daß das Wiener Streichquartett keineswegs nur aus Kolisch allein bestünde.“ Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, a. a. O; S.134. Das erste und zweite Wiener Streichquartett. Prospekt, siehe: F21 Berg 3135. Erstes Quartett: 1. Violine Rudolf Kolisch, 2. Violine Fritz Rothschild, Bratsche Marcel Dick, Violoncello Joachim Stutschewsky. Zweites Quartett: 1. Violine Rudolf Kolisch, 2. Violine Felix Kuhner, Bratsche Eugen Lehner, Violoncello Benar Heifetz. Am 17. 12. 1926 schrieb Berg an Soma Morgenstern: „Kolisch’s probieren bereits mein 2. Quartett. Ich glaub es wird so, daß es Ihnen (zum Unterschied vom I. Quartett) gefallen wird! Uraufführung 8. I. 27 Kl. Musikvereinssaal.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 167. Im Dezember 1926 steckt Berg in den Proben für die Lyrische Suite, seine Mutter stirbt am 19. Dezember 1926. Am 3. 1. 1927 ergeht ein Schreiben an Soma Morgenstern: „Mein lieber Doktor, für die lieben, warmen u. sehr schönen Worte die sie mir anläßlich des Todes meiner Mutter geschrieben haben, danke ich Ihnen innigst. Meine Mutter, die eigentlich nur 3, 4 Tage krank war, hatte gar nichts zu leiden u. wußte nichts von ihrem Sterben. Das ist natürlich ein Trost; trotzdem aber: es waren die traurigsten Weihnachten meines Lebens u. natürlich auch das meiner Frau, die meine Mutter ganz besonders gern gehabt hat. Kommt dazu, daß ich in Folge einer Fußverletzung (mir fiel ein schwerer Gegenstand darauf) die ganzen Feiertage im Bett verbringen musste. Und daß die meisten unserer Freunde nicht hier sind: Sie, Schönbergs, Alma Mahler z. Bsp. – Nun seit einiger Zeit steck ich wieder mitten im Leben: Ich habe täglich 1-2 Proben mit dem Kolisch-Quartett, das am 8. I. meine suite für Streichquartett im Kleinen Musikvereinssaal uraufführt. Da sie – gegen meine Erwartung- doch wiederum sehr schwer ist, sind das aufregende Tage; denn die Frage, ob u. wie so ein ganz neues noch nie ausprobiertes Werk in Erscheinung tritt, in welchen Stadium der Probenvollendung, der Reife, ist neben allem Schönen eines so eifrigen Studiums doch sehr quälend“. In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 171. Am 10. 1. 1927 schreibt Berg an Morgenstern: „Vorgestern war Uraufführung des Quartetts unter dem Kolischquartett. In jeder Hinsicht glänzend ausgefallen: Kl. Musikvereinssaal steckvoll, Aufführung fabelhaft virtuos u. stimmungsvoll (35 Minuten Spieldauer) Erfolg ganz groß u. einstimmig. Sie haben gefehlt! Auch darnach im Museum [Café-Museum, nahe der Oper, von Adolf Loos eingerichtet], wo wir (20-30 Leute) den Abend feierten.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 173. Am 1. August 1927 bedankt sich Berg bei Soma Morgenstern für eine Kritik über die Lyrische Suite, die im Mittelpunkt des Kammermusikfestes in Baden-Baden stand: „Dank auch für die Baden-Badener Kritik. Dort hatte ich, wie ich ausführlichen Berichten enttnehme tatsächlich einen ‚Riesenerfolg‘, so daß ich wiederum an mir zu zweifeln beginne.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O., S. 190. Das Radio spielte im Zusammenhang mit der Quartettsuite eine gewisse Rolle. Siehe Note 363. 81 Lyrische Suite (Aufführungen von 1927 Jänner bis 1931 April): Aachen, Baden-Baden (2mal), Basel, Berlin (2), Bruxelles (2), Budapest, Buhlerhohe, Dessau, Dresden, Frankfurt a. Main (2), Hamburg, Hildesheim, Köln (2), Kopenhagen, London, Leipzig, Mannheim (2), Marseille (2), München, Oldenburg, Paris (3), Stuttgart, Trier, Wien 83), Winterthur, Zürich.“ Siehe: F21 Berg 3073. Siehe auch die Eintragungen der Lyrischen Suite in Bergs Taschenkalender: F21 Berg 432/ 1-32. 82 In: Soma Morgenstern, a. a.O; S. 204, 205. Bergs Dankschreiben an Morgenstern vom 16. Dez. 1927, siehe S. Morgenstern, a. a. O; S. 206, 207. 83-84 „11. 5. Freitag abends“ [Berg an Hanna am 11. Mai 1928]

  81. Lyrische Suite (Aufführungen von 1927 Jänner bis 1931 April): Aachen, Baden-Baden (2mal), Basel, Berlin (2), Bruxelles (2), Budapest, Buhlerhohe, Dessau, Dresden, Frankfurt a. Main (2), Hamburg, Hildesheim, Köln (2), Kopenhagen, London, Leipzig, Mannheim (2), Marseille (2), München, Oldenburg, Paris (3), Stuttgart, Trier, Wien 83), Winterthur, Zürich.“ Siehe: F21 Berg 3073.

  82. (.)

  83. (.)

  84. (.)

  85. „7.6. im Zug, wo ich Dir Hanna, wie nirgends sonst, ungestört schreiben kann“[Berg an Hanna am 7.Juni 1928].

  86. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. u. vor dem 23. Juli 1925].

  87. Wie Note 85.

  88. Die Widmungspartitur, die nach dem Tode von Hanna Fuchs-Robettin (1. Mai 1965, New York) im Besitz ihrer Tochter Dorothea Fuchs-Robettin verblieben war, wurde 1992 von der Österreichischen Nationalbibliothek angekauft. Sie führt die Signatur F 21 Berg 3437.

  89. ALBAN BERG LYRISCHE SUITE LYRIC SUITE/ SUITE LYRIQUE für Streichquartett for String Quartet/ pour Quatour à Cordes. Philharmonia No. 173. PHILHARMONIA PARTITUREN in der UNIVERSAL EDITION, WIEN-LONDON. Aufführungsdauer: ca. 32 Minuten.

  90. In den Notizheften F21 Berg 479/30-43 finden sich im Notizheft 30 Skizzen zur Tonreihe der Lyrischen Suite. Im Skizzenkonvolut zur Lyrischen Suite (25 Blätter in Bleistift ausgeführt) gibt Berg den Hinweis auf das Lied: "Schließe mir die Augen beide”, das zur Grundreihe der Quartettsuite wurde. Heinrich Fritz Klein (1872-1972) entdeckte den „12 –verschiedentönigen und zugleich 12- verschieden-intervalligen Akkord. Er ist die wunderbarste Frucht”, schreibt Klein an Berg im März 1922, "die die Permutation des Mutterakkordes hervorbringen kann (...), zugleich die Endmöglichkeit auf dem Gebiete der Akkordbildung in der 12 Halbton-Musik.” Siehe: F 21 Berg 935/I. Im Brief an Hanna vom 7. Juni 1928 lesen wir: „In diesem Sommer komponierte ich ein Lied (Storm): Schließe mir die Augen beide/ Mit den lieben Händen zu,/ Geht doch alles was ich leide/ Unter deiner Hand zur Ruh./ Und wie leise sich der Schmerz/ Well um Welle schlafen leget/ Bis der letzte Schlag sich reget/ Füllest Du mein ganzes Herz.” Bergs Originalhandschrift des Liedes „Schließe mir die Augen beide”, 1. und 2. Fassung siehe: F 21 Berg 15/I. Constantin Floros wies darauf hin, daß die dodekaphonische Vertonung dieses Textes schon im Oktober 1925 vollendet war.

  91. Siehe: Alban Berg, Lyrische Suite für Streichquartett, Partitur, Blei- und Farbstift, 57 Blatt: F21 Berg 23/I. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, München/Wien, S. 647.

  92. „Ton“ war Bergs Lieblingsbegriff, dem er seine musikalischen Urteile immer wieder unterstellte. Aus Trahütten schreibt Berg am „12. 10 1925“ an Anton Webern: „In der ‘Kunst strengstger 12 Ton-(Reihen-) Komposition’ (...) bin ich leider noch nicht so weit wie Du, drum kann ich Dir vorderhand auch noch nicht viel berichten über meine derzeitige Arbeit am Streichquartett.” Siehe: F21 Berg 3270. In der Lyrischen Suite ist Alban Berg die Verbindung von Reihentechnik und Tonalität gelungen. Eine Reihentabelle für das Largo desolato (VI. Satz) findet sich in der frühesten Niederschrift des Quartettes. Siehe: F21 Berg 23 II, fol 7. Das Tonnetz der Lyrischen Suite: I. Satz, Allegretto gioviale: 12-Ton. II. Satz, Andante amoroso: freie Atonalität. III. Satz, Allegro misterioso: 12-Ton (Trio estatico: freie Atonalität). IV. Satz, Adaggio appassionato: freie Atonalität. V. Satz, Presto delirando: freie Atonalität (die beiden Trios: 12-Ton). VI. Satz, Largo desolato: 12-Ton. Siehe: Hennebichler Sabine, Lyrische Suite für Streichquartett von Alban Berg, Hochschule für Musik und Darst. Kunst, Graz, Diplomarbeit 1990, S. 24. „‚Zwölftonmusik ist keine Kategorie‘, zumindest keine spezifisch musikalische. Die Reihe ist in ihrer poetischen Funktion bestimmt. Ihr Status im Werk der drei Komponisten der Wiener Schule ist dann auch unterschiedlich. In Schönbergs Musik ist die Reihe eine regulierende Instanz, die – hinter den Ereignissen- deren Einheit garantiert (‚Let there be unity’). Sielotstdas widerspenstige, mit Tradition beladene Thema durch den Zwölfton-Raum. Bei Berg und Webern dahingegen ist der Dualismus von Reihe und Diskurs aufgehoben. Die Reihe durchtränkt Bergs musikalische Sprache, um in deren Komplexität aufzugehen. Ihr konkreter melodischer Charakter sowie ihre freisinnige Anwendung haben zur Folge, daß sie kaum als eine abstrakte...(gr.), selbständig gegenüber dem Werk, rekonstruiert werden kann. Dieser Komponist entspricht der Figur, die am Schluß von Wittgensteins Tractatus Logico – Philosophicus die Leiter, die sie über die logischen Stufen erklommen hat, von sich abwirft, um sich weiter- in dem Sinne, den Bergs Freund Hermann Broch dem gab- ins ‚Irrationale’ zu begeben. War bei Schönberg die Reihe auf zwölf Tönen, Zeitpunktenaufgebaut, so sind seine Schüler in einem Prozeß musikalischer Integration der Reihe tiefer vorgedrungen bis in die dem seriellen Prinzip immanente Zeitlichkeit, ins Intervall. Das Paradigma derstationeswurde durch das derviaersetzt. Nichtsdestoweniger gibt es beachtliche Unterschiede zwischen [A. Berg] dem ‚Meister des kleinsten Übergangs’ (Adorno) und Webern. Nicht selten verfährt Berg dergestalt, daß er über so viele Intervalle wie nur möglich verfügen kann. Webern hingegen ist der Komponist der Beschränkung und der Abstraktion. Wo bei Berg eine melodische Totalität von Reihe und musikalischer Sprache besteht, bildet Weberns Musik eine abstrakte Einheit von Motiv, Reihe und Struktur.“ Henk de Velde, Es stürzt aus Höhen Frische, in: Anton Webern I, Musik-Konzepte. Sonderband, hrsg. von Heinz-Klaus Metzger, edition text+kritik, München 1983, S. 167, 168.

  93. Musikwissenschaftliche Kommentare zur „Lyrischen Suite“: Alban Berg, hrsg. von Willi Reich, verschiedene Beiträge u. a. von Th. W. Adorno, Wien 1937., Analyse der Lyrischen Suite von Alban Berg, Typoskript eines Radio-Vortrages für die B.B.C London anläßlich der Aufführung der Orchesterfassung unter der Leitung von Sir Adrian Boult am 23. Okt. 1935 (F21 Berg 1535/66); Fritz Bouquet, Alban Bergs Lyrische Suite, eine Studie über Gestalt, Klang und Ausdruck, Mainz 1948. Hans Ferdinand Redlich, Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Wien/Zürich/London, 1957., Reginald Brindle, Symbolisme in Berg’s ‚Lyric Suite’, in: The Score, Nr. 21, Okt. 1957; Constantin Floros: Das esoterische Programm der Lyrischen Suite’ von Alban Berg, eine semantische Analyse, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, BandIHamburg 1975; Schönberg, Berg, Webern- Die Streichquartette. Eine Dokumentation, hrsg. von Ursula v. Rauchhaupt, Hamburg 1971; Douglas M. Green, Das Largo desolato der Lyrischen Suite von Alban Berg, in: Öst. MUSIKZEITschrift 33.Jg., März 1978, Heft 3; Alban Berg, Kammermusik, hrsg. von H.- K. Metzger u. Rainer Rihn, Musikkonzepte 4, München 1978; Hennebichler Sabine, Lyrische Suite für Streichquartett von Alban Berg, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Graz, Diplomarbeit 1990; Werner König, Der erste Satz der Lyrischen Suite von Alban Berg und seine fast belanglose Stimmung, Tutzing 1999; George Perle, Style and Idea in the Lyric Suite of Alban Berg, New York, Pendragon Press,1995; Georges Perle, The Secret Program of the Lyric Suite, International Alban Berg Society Newsletter 5. (June 1977), dt. in: Öst. MUSIKZEITschrift 33.Jg., März 1978, Heft 3; Peter Gülke, Die Sprache der Musik. Essays zur Musik von Bach bis Holliger, München 2001. Eine hervorragende musikwissenschaftliche Interpretation der „Lyrischen Suite“ gibt Carsten Bock: „Der musikalische Raum bei Alban Berg“, Berlin: mbv, 2008. Alban Berg, Neun Blätter zur Lyrischen Suite für Streichquartett, analytischer Entwurf für das Kolisch Quartett, Facsimile in: Willi Reich, Bildnis in Wort, Zürich 1959. Die kritische und mitfühlende Vorsicht, mit der Theodor W. Adorno von den Restbeständen der Gestalt der modernen Individualität wie von der Fragilität der „Kunst als Gedächtnis des Leidens“ (Friedmar Apel) sprach, erweist sich auch in „Zur Monographie Alban Berg“ (1936), siehe: F 21 Berg 2493. Vgl. Th. W. Adorno, Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs, Frankfurt a. Main 1995. Es ist daran zu erinnern, daß die Mehrheit der großen Ästhetiker des 20. Jahrhunderts, namentlich Georg Lucács, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ihre Theorien auf marxistischen Grundlagen aufbauten. Benjamin und Adorno haben vielleicht die typischen Ästhetiken für das 20. Jahrhundert geschrieben, da in ihrem Fragmentarismus die Brüche der aktuellen Avantgarde aufblitzen. Siehe dazu: Terry Eagleton, Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart/Weimar 1994. Im Zuge der postnietzscheanischen Ästhetisierung des Wissens wie der Praxis wirkt der bis zur Attitude stilbewußte Autor Th. W. Adorno mittlerweile selbst altväterlich. Mit großem Engagement und Akribie verfaßte der in Frankfurt am Main seit 1956 lehrende Philosophie-und Soziologieprofessor zahlreiche Schriften, zu nennen sind u.a.: Philosophie der Neuen Musik (1949), Prismen (1955), Dissonanzen (1956), Ästhetik (1958/59, 1961/62), Kants ‚Kritik der reinen Vernunft’ (1959), Musikalische Schriften (1959-1963), Mahler (1960), Einleitung in die Musiksoziologie (1962), Fragen der Dialektik (1963/64), Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65), Moments musicaux (1964), Metaphysik, Begriff und Probleme(1965), Impromptus (1968), Alban Berg (1969), Beethoven (1993), Nachgelassene Schriften Abteilung I: Fragmentgebliebende Schriften. Band 2: Zu einer Theorie der musikalischen Reproduktion (2001). Adornos impulsgebende Werke provozierten oft zu heftigem Widerspruch. Dieser Tage jährt sich das Erscheinen der Aphorismensammlung Minima Moralia zum fünfzigsten Mal, Ende August 2001 wird der Suhrkamp-Verlag das einstige Kultbuch mit dem Subtitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ noch einmal in der Originalausstattung auflegen. Siehe dazu: Jürgen Kaube, 50Jahre „Minima Moralia. Das Ganze“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 188, 15.August 2001.

  94. Die Schwiegereltern Bergs besaßen bei Trahütten in Deutschlandsberg ein Gut, die sogenannte „Villa Nahowski“. Die „Trahüttener Straße“ wird von Berg als schwere Bergstraße beschrieben: „steil und Geröll und Wasserrinnen.“ Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 601. Zur „Villa Nahowski“ in Trahütten siehe weiter Note 111.

  95. Siehe: Johann Wolfgang von Goethe, Farbenlehre, hrsg. und eingeleitet von Hans Wohlbild, Jena, 1928: „Die Farben sind die Taten und Leiden des Lichtes.“ Siehe weiters: Narciso Silvestrini, Idee Farbe. Farbsysteme in Kunst und Wissenschaft, Zürich 1994., John Gage, Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Ravensburg 1994.

  96. Zur Entdeckung des Baudelaire Gedichtes „De profundis clamavi“ in der Partitur der „Lyrischen Suite“ durch den Musikwissenschafter Douglas M. Green im Jahre 1956 siehe weiter Note 299.

  97. Jean Paris schreibt in „Le Soleil de Van Gogh“ (1968) über Leben und Werk Vincent van Goghs in Etten, Drenthe und Nuenen: „Unter unvermeidbarer Todesgefahr durchquert das Werk dieses ‚Schwarz, schwärzer als schwarz. (...) Wenn man wachsen will, muß man sich in die Erde von Drenthe eingraben. Ich sage dir also: pflanze Dich in die Erde von Drenthe, ,Du wirst darin keimen‘, wird Van Gogh seinem Bruder Theo raten (...) ‚Die Dörfer sehen verzweifelt, verlassen und tot aus, weil das Leben unter der Erde und nicht darüber konzentriert ist.‘ Bis dorthin, bis zur Wurzel, bis zur Erdmitte muß man wandern; um ‚viel zu verstehen‘, in diesen ‚düsteren Gang‘, in den man in einer Art Korb oder Käfig wie ein Eimer in einem Brunnen hinabfährt. ‚Stelle Dir eine Reihe von Zellen in einem recht engen und niedrigen Stollen vor, der von einem behelfsmäßigen Gerüst gehalten wird‘, wo die Bergarbeiter mit Axthieben die Kohle abschlagen.“ In: Antonin Artaud. Vincent Van Gogh. Journal der Orte, hrsg. von Gerhard Fischer, editiondaedalus , Wien 1987, S. 26-33. Auch Alban Berg kann sich der Tiefe, dem Bergwerk nicht entziehen, an Anton Webern schreibt der Dreißigjährige von einer Fahrt nach Bleiberg: „Das mit dem Bergwerk hat für mich ungeheuren Reiz. Erzähle mir davon. Ist das was Großes, wo man stundenlang unter der Erde in verzweigten Gängen gehen kann? Ich war einmal im Bleiberger Bergwerk, das hat mir einen solchen Eindruck gemacht, daß ich ein ganzes Bergwerkdrama geschrieben hab (...) Bevor ich komponierte, wollte ich überhaupt Dichter werden.“ Das „Bergwerk“-Drama von Alban Berg umfasst 65 Blatt und ist mit Tinte geschrieben. Siehe: F21 Berg 122. An Hermann Kasack schreibt Alban Berg im Jahre 1924: Seit Vollendung meiner Oper Wozzeck, also seit mehreren Jahren, plane ich eine Oper Vincent zu komponieren, um damit nicht nur das Schicksal dieses mir seit Jahrzehnten am Nahesten stehenden Künstlers musikalisch festzuhalten, sondern auch (mehr noch), das Drama der Künstler-Freundschaft überhaupt zu schreiben. Durch Zufall erfahre ich vor ein paar Tagen von der Existenz eines solchen Dramas. Konnte mir auch das Heft des Kunstblattes verschaffen, wo gerade der 4. Akt dieses Freundschaftsproblem behandelt ... Sie können sich vorstellen, wie sehr ich auf die übrigen Akte gespannt bin ... Ist das Buch erschienen? Wenn ja bitte ich Ihren Verlag zu veranlassen, es mir per Nachnahme zukommenzulassen.“ Siehe: F21 Berg 480/179-180. Vincent von Hermann Kasack erschien im Jahr 1924 in Kiepenheuer Verlag, Potsdam. Alban Berg beabsichtigte eine Operntrilogie zu komponieren. „Wozzeck“, op. 7, „Vincent“, op. 9 und „Wolfgang“, op. 13 sollten eine Einheit bilden. (...) Zwischen den einzelnen Bühnenwerken sollten dann das „Kammerkonzert“ als op. 8 und „A-Cappella-Chöre“ als op.10 stehen. Für die zweite Oper „Vincent“ waren nur zwei Akte geplant, wobei der zweite Akt als muikalische Krebsgestalt des ersten gedacht war. Da keine Noten zu dieser Trilogie vorhanden sind, ist anzunehmen, daß diese Vorstellung in das „Kammerkonzert“ übernommen wurde.“ Zit. nach: Alban Berg, 1885-1935. Ausstellung der Öst. Nationalbibliothek, a. a. O., SZur Oper „Vincent“ siehe Originalhandschrift Berg, Tinte, ein Blatt: F21 Berg 98 und Originalhandschrift, Bleistift, ein Doppelblatt: F21 Berg 70/ I.

  98. Siehe: Nicolas De Staël, Retrospektive, Ausstellungskatalog Galeries Nationales du Grand Palais, Paris 22. Mai-24. August 1981. De Staël begann um 1930 zu malen, zunächst hauptsächlich Aquarelle, die ersten ungegenständlichen Arbeiten entstehen um 1943. In den 1949 enstandenen Arbeiten weichen die linearen Strukturen kompakten Farbmassen, der Maler orientiert sich an der byzantinischen Ikonenkunst und an den Mosaiken in Ravenna. Im Dezember 1950 trifft De Staël mit Igor Strawinski, Olivier Messiaen und Pierre Boulez zusammen und erarbeitet ein Bühnenbild für den italienischen Komponisten Luigi Dallapiccola. 1953 berichtet er aus Rom an den Galeristen Jacques Duboorg: „Ich fahre von Frankreich nach Sizilien, von Sizilien nach Italien, sehe mir viele Tempel, Ruinen und quadratkilometerweise Mosaiken an () Höhepunkte waren Agrigent und das Museum in Syrakus.“ Im September bezieht De Staël ein Atelier in Antibes, zwischen September und März 1955 enstehen über 350 Gemälde: Landschaften, Stilleben und Akte. Neben den dominierenden Farben- Blau, Rot oder Grün- erkundet der Maler alle Nuancen des Grau. Am 5. März 1955 besucht De Staël in Paris zwei Konzerte mit Werken von Schönberg und Webern, nach Antibes zurückgekehrt, beginnt er die großformatigen Bilder Le concert und Le piano auszuführen; Skizzen zu Etudes pour le piano und Les violons entstehen. Am 16. März 1955 nimmt sich De Staël das Leben.

  99. Siehe: Widmungspartitur F21 Berg 3437, Bergs Eintragung mit roter Tinte gegenüber Seite 1.

  100. Das Porträt-Photo für die Widmungspartitur stammt aus dem Atelier Pietzner-Fayer. Siehe: F21 Berg 3372/1. Dieselbe Porträt-Photographie überschreibt Berg mit „Alban“ in blauer Tinte. Siehe: F21 Berg 3395. Vermutlich dürfte Berg zwischen rotem und blauem Namenszug unentschieden gewesen sein.

  101. Siehe das umfangreiche Photokonvolut: F21 Berg 3331-3360, 3361-3390, 3391-3427.

  102. Knabenphotos: F21 Berg 3340/1, mit „Zwergerl“ ist in lila Tinte die Photorückseite beschriftet. Der Volkschüler in der II. Klasse mit Schultasche und Matrosenanzug, siehe: F21 Berg 3340/3; Knabenphoto mit Matrosenanzug und Kappe, auf einem Divan sitzt die Schwester Smaragda, siehe: F21 Berg 3340/4. Photographie (um 1908) des 22-jährigen Alban Berg mit Mantel und Hut: die physiognomische Ähnlichkeit mit Oscar Wilde sticht ins Auge. Siehe: F21 Berg 3337, F21 Berg 1585/11 u. 15. Man sagt, in Oscar Wildes (1854-1900) Knopfloch steckte als Nachfolge einer Lilie eine grüne Nelke. Als der Ästhet gefragt wurde, was sie bedeutete, habe Wilde geantwortet: „Überhaupt nichts, und genau das ist es, womit keiner rechnet.“ Siehe: Barbara Belford, Oscar Wilde. Ein paradoxes Genie. Eine Biographie, Zürich 2000. Photographien Bergs in Militäruniform, siehe: F21 Berg 3339/1, 3,4,5. 103 Die Photographie befindet sich in Privatbesitz (Mödling bei Wien). Siehe weiter Note 163.?

  103. 103 Die Photographie befindet sich in Privatbesitz (Mödling bei Wien). Siehe weiter Note 163.?

  104. Photoateliers: Carl Pietzner J. Löwy, Suse von Winternitz, W. U. Depschitz-Runarsky, Pietzner- Fayer, Trude Gairinger, Dora Horowitz, C. o. Bulla, Trude Fleischmann, D’Ora.

  105. Die ehemalige Wohnung des Ehepaares Berg kann nach Anfrage in der Alban Berg-Stiftung besichtigt werden.

  106. Photographie, siehe: F 21 Berg 3364/1.

  107. Photographien, siehe: F21 Berg 3366/1-9.

  108. Photographie, siehe: F21 Berg 3375/1.

  109. Photographien Berg am Klavier, im Fauteuille, mit Mascherl, siehe: F21 Berg 3367/1, 2; F21 Berg 3368/1, 2, 3; F21 Berg 3369/1, 2.

  110. Photographie, die Zahnluke zeigend, siehe: F21 Berg 3363/4, F21 Berg 3363/1,3. Siehe auch den Brief Bergs an Webern vom 23. 7. 31: „(...) ich habe nur ein Gfrett' mit einem oberen Schneidezahn, der so wackelt, dass er unweigerlich ausfallen wird. Aber wann?“ F21 Berg 3270.

  111. Der Haushalt des Ehepaares Berg erstreckte sich auf die Wiener Wohnung in Wien XIII, Trauttmansdorffgasse 27 und in Wien XIII, Maxingstraße 46. Die Landsitze sind das Gut „Berghof“ am Ossiacher See in Kärnten, die „Villa Nahowski” in der Weststeiermark, nahe Deutschlandsberg und das "Waldhaus” in Auen am Wörther-See, Kärnten. „Im See und auf Bergeshöhen meine kranke Seele baden und mich in Arbeit vergraben.“ „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen” [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. u. vor dem 23. Juli 1925]. Im Jahre 1894 hatte der Vater Bergs, Conrad Berg, das Gut „Berghof” am Ossiacher See gekauft, wo Alban und seine Geschwister Hermann, Smaragda und Charly die Sommer verbrachten. Der „Berghof” am Ossiacher See ist der Ort der mütterlichen Liebe. Hier wohnen Bergs Mutter, seine Schwester Smaragda und deren Lebensgefährtin May Keller. Am Berghof werden Blutwürste und Sulzen gemacht, Fett ausgelassen: „Welche Fülle, diese Grammeln”. Berg tätigt schwere und leichtere Handgriffe in Haus und Hof, im Winter schneidet und hackt er Holz. Der Ossiachersee friert zu, „ein ganz eigenartiger, unheimlicher Anblick.” Eis in der Dicke einer Oktave wird aus dem See herausgebrochen, ans Ufer geschleift und in der Eishütte zertrümmert und eingestampft. Eine „Riesenarbeit”, woran Alban Berg, „6 Mann und 3 Pferde” beteiligt sind. In den zwanziger Jahren steht das Gut zum Verkauf an: „Mama muß ja eine größere Wohnung suchen, wenn sie mit Smaragda und May nach Wien übersiedelt. Eventuell weiter draußen (Gersthof, Sievering, Döbling, Hietzing etc.). Es wäre nun naheliegend, ihnen von der Wohnung zu erzählen, die gerade für sie passen würde. Ich glaube, es sind 4 bis 5 Zimmer.” In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 434. Der Verkauf des „Berghofes“ muß Gewinn abwerfen, um das luxuriöse Leben von Mama und Smaragda zu sichern. „Komischerweise war heut ein Amerikaner da, der sich ebenfalls interessiert. Und eine halbe bis eine Million bieten würde. Die Sache spricht sich eben immer mehr herum. Und doch ist es fraglich, ob Mama den Ertrag erzielen wird (...) von welcher Summe (verzinst) sie eben mit Smaragda so gut leben könnte (Essen wie im Frieden!!, Landaufenthalt etc.), wie sie beide sich’s vorstellen. (...) Aber beide, Mama und Smaragda, haben ihre besonderen Bedingungen ans Leben: Mama ‚verträgt’, wie sie auch jetzt betont und dartut, eigentlich nur Fleisch, Eier, feine Gemüse und all das in großen Quantitäten plus Alkohol. Also keine Erdäpfel bzw. keine Milch etc. Smaragda verträgt nur die leichtesten (also feinsten) Speisen, muß weißes Brot und Butter haben, kann unmöglich Dinge aus dunklerem Mehl oder dgl., Bohnen, Kraut essen. Hiezu Theater und Konzert nur auf den besten Sitzen, hie und da kleine Reisen usw. Du kennst ja die ästhetischen (pfui Teufel) Ansichten.” In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O., S. 443, 444. Nach dem Verkauf des Berghofs an Dr. Erich Löwe pachtete Berg als Ferienquartier die Denis Hube – ein kleines Häuschen, das dem neuen Besitzer des Berghofs gehörte. Zwischen hier und Trahütten pendelte er in den Sommern 1922-1929. Am 28. August 1928 schrieb Berg an Josef Polnauer: „fühle mich hier, wo ich die 2te Sommerhälfte verbringe, so wohl wie die 20, 30 Jahre lang nicht. Wir haben ein zum Berghof gehöriges mit allem Komfort eingerichtetes Häuschen (Elektrolicht, Wasserleitung, WC; Telefon, Autobus u. Motorboot vor der Nase) ganz für uns allein, u. ich arbeite an (Diskretion) Lulu!” In: Erich Alban Berg, Der unverbesserliche Romantiker. Alban Berg 1885-1935, Wien 1985, S. 128. Helene Berg schreibt vom Berghof an Ingeborg Morgenstern am 24. Juli 1929: „Wir leben hier herrlich und in Freuden. Vor allem spielt das Bad eine große Rolle. (...) Dann laufen wir ziemlich viel, nicht nur um etwas für unsere Leiblichkeit bzw. gegen unsere Beleibtheit zu tun (ich habe bereits 3 Kilo abgenommen) sondern auch, weil die Autobusse hier, die nach allen Richtungen - um ganz wenig Geld verkehren, einen in die herrlichsten Gegenden führen, wo man die allerschönsten Wanderungen machen kann: Treffnertal, Afritzer-, Brenn-, Millstätter-, Wörther- und Faaker-See, Plöcken-Pass, Glockner-Gebiet, etc.” In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 223. Die Schwiegereltern Bergs besaßen in Trahütten am Fuße der Kor-Alpe bei Deutsch-Landsberg in der Steiermark ein Gut in tausend Meter Seehöhe, die sogenannte „Villa Nahowski”. Ansichten dieser Gegend finden sich immer wieder in einer umfassenden Postkartensammlung, die das Ehepaar Berg anlegte. Siehe: F 21 Berg 1600 (1-109), 1602 (1-31). Am 26. August 1925 schreibt Berg eine Ansichtskarte der "Villa Nahowski” an Hanna und Herbert Fuchs: „Umstehendes Landhaus (das meiner Frau und ihren Geschwistern gehört) liegt in einer der eigenartigsten und wundervollsten Gegenden Österreichs. Hier verbringen wir alle Sommer und hier, nur hier möchte ich fast sagen) konnte ich ungestört arbeiten (der ganze Wozzeck ist hier entstanden.” „Das Waldhaus“ am Ufer des Wörther-Sees erwarb das Ehepaar Berg im Jahre 1932. Das Haus „liegt in Auen am Südufer des Wörther-Sees, schon weit gegen Velden zu, auf einem kleinen, bewaldeten Hügel, schräg gegenüber der Ortschaft Saag. Das Ufer wölbt sich hier ein wenig vor, wodurch jenseits der Uferstraße dem Besitz ein kleiner Badeplatz im Schatten einer Birke und einiger Fichten gewonnen ist. Das im Stil eines Landhauses des vorigen Jahrhunderts erbaute Haus steht also nahe der Straße, gegen die es aber der erhöhte Standort und ein dichter Busch - und Baumkranz abschirmt, während sich im hanghin eine sanft ansteigende Wiese vorlagert. Ein haselgesäumter Weg strebt vom benachbarten ‚Paulinenheim’ dem Haus zu und weiter bergan, vorbei an dem versteckten, zum Teil von einem offenen Holzgang im Obergeschoß gesäumten und von dichten Blätterranken umsponnen Tuskulum, aus dem die Fenster von Bergs Arbeitszimmer nach Nordwest schauen. Der Eingang in das Haus befindet sich aber an der Südseite. Dort führt eine Holztreppe aus einem geräumigen Vorhaus in den Oberstock.“ In: Anton Fuchs, Auf ihren Spuren in Kärnten: Alban Berg, Gustav Mahler, Johannes Brahms, Hugo Wolf, Anton Webern. Klagenfurt 1988, S.12. Im „Waldhaus“ arbeitet Berg an „Lulu“ und am „Violinkonzert“. Zum „Waldhaus“ siehe weiter Note 350.

  112. „Uns aber, die wir da in den Niederungen hausen – im kleinlichen Getriebe der Bürger und Mitbürger entweder aufgehen oder verkümmern, uns bleibt nur die Sehnsucht nach jenen Höhen – der Neid oder die Bewunderung. Doch kenn‘ ich die Wege, die da hinauf führen, sie müssen ja nicht die allgemein gangbaren sein! Und irgendwo – hoch oben bei Wolken und Winden, da steh‘ ich und harre Deiner und reiche Dir die gletscherkalte und lebenswarme Hand zum Gruß“- In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 29. Von Bergwanderungen schwärmt Berg gegenüber seinem Freund Anton Webern immer wieder. Siehe: Alban Berg an Anton Webern. Maschin. Abschrift von Josef Polnauer, F 21 Berg 3270: 18.9.1925. Trahütten. „(...) Koralpe bis 1300m herunter in Schnee; hier 2-5 Grade. Trotzdem schön für mich u. meine Sinne und mein Herz u. meinen Geist.“ 29.9.1925. „(...) Zwei Jahre war ich überhaupt auf keinem Berg. So entschloss ich mich nach jahrelanger Sehnsucht plötzlich zur Ausführung. Ich dingte mir einen Bauernburschen, der mir alles trug u. mich führte u. so gelang es mir, das Ziel zu erreichen u. – lebend nach Haus zu kommen. Ich musste mich tatsächlich überanstrengen, sonst wär's nicht gegangen. Der eine Tag brachte 9 Stunden festen Marsch unter grösstenteils grosser Kälte, auf keinen sehr guten Wegen, immer wieder hinunter u. hinauf; nirgends unter Dach auszuruhen. Aber ich bin froh, dass ich's gemacht hab (...)“ 28. 6. 1926. Trahütten. „(...) Aber auch Deine Erfahrung betreffend Ost- u. Westalpen ist nicht weniger als die Entdeckung einer ewigen Wahrheit u. leuchtete mir sofort als solche ein. Damit ist ja auch f. meine Person klar warum mir der Aufenthalt in den österr. Alpen (ja der Gedanke daran) als die große Lebenssehnsucht erscheint (...)“ 23. 7. 1931 Gut Berghof: „(...) Ja, die Berge lenken von der Arbeit ab! Vorgestern war ich am Glocknerhaus u. der Eindruck war so grossartig, dass ich gar nicht arbeiten kann. – Wir hatten uns nämlich, als nach dem grossen Wettersturz plötzlich ein so fabelhaftes Wetter - - (ich muss schon sagen) ,ausbrach', uns Morgens ganz schnell entschlossen, dahin zu fahren. In 4 Stunden waren wir in HEILIGENBLUT* - u. dann hinauf! Ich sage Dir: sowas Herrliches hab' ich noch nie erlebt. So ein Tag! So eine Klarheit! Dabei alle Berge im Schnee! Ich kann es niemandem beschreiben u. nur Du wirst es ohne das – verstehen. Ich glaub' ich werde gleich wieder dahin fahren. Ich denke an nichts anderes - - - u. die Arbeit stockt.“ *Villach, Spittal, Dölsach, Iselsberg, Winklern, Heiligenblut, Glocknerhaus, Winklern, das ganze Mölltal !!! Möllbrücken, Spittal, Villach, Berghof.

  113. In Bergs Nachlaß findet sich ein Segantini Band, darin sind zahlreiche Passagen angestrichen. Siehe: Giovanni Segantini, Schriften und Briefe, hrsg. u. bearbeitet von Bianca Zehder-Segantini, Dresden 1912, F21 Berg 217. Anstreichungen von Berg mit blauem und rotem Buntstift und Bleistift. Segantini, Schriften und Briefe, S.44: „Der Auserwählte, den die starke und reine Liebe zur Kunst innerlich bedrängt, soll Reichtümer und Verwandte verlassen und, aller materiellen Güter ledig, vor die Gemeinschaft jener Künstler treten, die seinen idealen Empfindungen zu entsprechen scheinen.” Segantini, Schriften und Briefe, S.53: „In der Luft liegt eine feierliche Stimmung. Zu denken, daß man sich 1200 m über dem Meeresspiegel befindet! Der Lebensgenuß erwächst aus der Fähigkeit zu lieben. In jedem guten Werk ist die Liebe.“ Segantini, Schriften und Briefe, S. 69: „An die Schriftstellerin Neera, Meine Seele. Die menschliche Gesellschaft verdeckte meinen durch Schmutz und Hunger elenden Körper, aber sein Schmutz und Hunger erreichten mich nicht; im Gegenteil, je mehr sie mit Dreck nach meinem elenden Körper warfen, um so mehr erstarkte ich in dem Gefühl der Liebe für uns alle, die wir elend sind. Stets liebte ich meine armen Gefährten, Alte und Kinder, denn es kam mir vor, als ob die Freundschaft zu ihnen mich ein wenig reinige.”

  114. Segantinis Blumen-Liebe, die dessen Gemüt mit dem Wohlgeruch der Liebe erfüllt: (...) Segantini, „Schriften und Briefe“, S.76 (von Berg nicht angestrichen): „An die Schriftstellerin Neera. Maloja, den 16. Juni 1895. Nach der dritten Lektüre ihrer ‘Anima Sola’, die durch den herben Duft der Alpenrosen gewürzt wurde, pflückte ich diese Blumen, die sich eben rötlich färben und sende sie ihnen. Sie werden müde und verdurstet ankommen, aber erfrischen Sie sie ein wenig, und Sie werden ihr rauhes und starkes Aussehen wieder bekommen und Ihnen berichten, welchen künstlerischen Genuß Sie mir bereitet haben. „ Segantini, „Schriften und Briefe“, S. 107 (von Berg nicht angestrichen): „Lange lebte ich mit den Tieren, um ihre Leidenschaften, ihre Schmerzen und ihre Freuden verstehen zu lernen; ich studierte den Menschen und den menschlichen Geist, ich studierte die Felsen den Schnee und das Eis, die großen Gebirgsketten, die Grashalme, die Quellen, die Blumen und befragte meine Seele um ihre Gedanken. Ich habe bei der Blume nach der Ursache der Schönheit aller Dinge geforscht; die Blume hat mir geantwortet und mein Gemüt mit dem Wohlgeruch der Liebe erfüllt. Sind nicht wir Maler es, die die harmonische Schönheit der Farbe geschaffen haben? Die Blume aber ist es, die uns, ohne unser Wissen, seit Jahrhunderten die vollkomenste Schönheitsformel vorschreibt. Zuletzt hab ich das göttliche Licht der Sonne und die kühlen Schatten, die weichen Sonnenuntergänge und die geheimnisvolle Nacht studiert.” Segantini, „Schriften und Briefe“, S. 186: „1890. Teuerste Bice! Nimm, o Liebste, diese unansehnlichen Blumen, diese Veilchen als Symbol der größten Liebe. Ich habe sie gepflückt einzig in Gedanken an Dich. Wenn jemals ein Frühling kommen wird, an dem ich Dir nicht solch ein Geschenk überreiche, so wirst Du mich nicht mehr unter den Lebenden finden. Dann wirst Du jedes Frühjahr diese meine geliebten Blümchen pflücken und dorthingehen, wo ich in Grabesfrieden das vertraute Rauschen Deines Kleides erwarten werde und Du wirst mit diesen Blumen das Grab bedecken. Die Sperlinge werden dazu ein Lied von der Liebe, die niemals stirbt, zwitschern, und ich werde schlummernd dem Gesange folgen, solange noch die Spur von einem Atom von mir auf dieser Erde sein wird, und Du wirst dann an den denken, der Dir jedes Frühjahr die ersten Blumen brachte“.

  115. Siehe: Ostersonntag 1. April 1923, Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 497.

  116. Siehe: 18. Juli 1908, Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S.29.

  117. Siehe: Monet. Seerosen, hrsg. von Charles F. Stuckey, Köln 1994.

  118. Berg studierte im Jahre 1935 eine Monographie Michelangelos. Im „Waldhaus” hängt eine Photo-Reproduktion von Michelangelos Gewölbefresken (1508-1512) in der Sixtinischen Kapelle (Rom). Berg wählt das Teilstück „Die Erschaffung Adams”. Man sagt, daß Gott den neuen Menschen an einem 25.März aus dem Lehm der Erde schuf und am 25. März soll sich der Sündenfall und seine Bestrafung ereignet haben. Am 25. März feiern die Bauern das Fruchtbarkeitsfest, es ist der Tag der Verkündigung.

  119. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau; a. a. O., S. 41, 42.

  120. Siehe: Klaus Harprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Bd. I. u. II; Reinbek bei Hamburg 1995. Weiters: Heinrich Detering, Der Literat als Abenteurer. Tonio Kröger zwischen Dorian Gray und Der Tod in Venedig, in: FORUM, Homosexualität und Literatur 14, hrsg. von Wolfgang Popp, Siegen 1992.

  121. Zu Viscontis MorteaVenecia, siehe: DAL SOGGETTO AL FILM, collona cinematografica 42. A cura di Lino Miccichè, Bologna 1971. Analysen von Viscontis Filmen gibt: Gilles Deleuze, Das Zeitbild. Kino 1 u. 2., Frankfurt a. Main 1991. Deleuze, geboren 1925, lehrte an der Universität Paris-St. Denis (ehemals Vincennes). Ausgewählte Schriften: Kafka. Für eine kleine Literatur (1976), Proust und die Zeichen (1978), Sprachen des Körpers (1979), Nietzsche. Ein Lesebuch (1979), Kleine Schriften (1980) Michel Foucault (1987), Spinoza. Praktische Philosophie (1988), Kants kritische Philosphie (1990), Woran erkennt man den Strukturalismus (1992). Zusammen mit Felix Guattari: Rhizom (1977), Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie (1992).

  122. Siehe: Thomas Mann, Der Tod in Venedig, in: Gesammelte Werke, Band VIII, Oldenburg 1960, Seite 524, 525. Der Schriftsteller Gustav Aschenbach trägt in der Novelle „die leidenschaftlich strengen Züge” Gustav Mahlers, dessen Tod Thomas Mann während seines Aufenthaltes auf Brioni im Mai 1911 in den Zeitungen „schrittweise miterlebte”. Alban Berg schreibt am 6. 7. 1926 an Soma Morgenstern: „Bitte raten Sie mir 1, 2 große schöne Romane à la Zauberberg: Was gibt’s noch von Mann außer Buddenbrooks u. Tod in Venedig?” In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 152. Pierre Klossowski betitelte eine Buntstiftzeichnung mit La réalisation invraisemblable de l’entente de Tadzio et Aschenbach (1987). Eine Werkmonographie Klossowski gibt Jacques Henric (Paris 1989).

  123. Siehe: Friedrich Nietzsche, Gedichte, Stuttgart 1964, S. 30-32.

  124. Wie die Sezessionsberichte von Ludwig Hevesi zeigen, wurde Giovanni Segantini (1858-1899) in Wien der Jahrhundertwende in der Sezession gezeigt. Anton Webern wird in München im Jahre 1902 auf das Werk des Autodidakten Segantini treffen. Auf dem Rückweg von den Bayreuther-Festspielen besuchten die Künstlerfreunde Alban Berg und Anton Webern die Neue Pinakothek in München. Berg schreibt im August 1902: „Wir besuchten die neue Pinakothek, in der herrliche Bilder hängen. Besonderen Eindruck hinterließen mir Segantinis ‚Alpenlandschaft‘ und Böcklins Im Spiel der Wellen.“ Zu Böcklin siehe: M. F. Schneider, Arnold Böcklin. Ein Maler aus dem Geiste der Musik, Basel 1943. Nichts konnte Webern dem Naturschwärmer gelegener kommen, als Segantinis Stofflichkeit der Alpenwelt. Segantini malte oben, in der reinen Gebirgslandschaft und schilderte den zyklischen Rhythmus der Jahreszeiten und das Aufgehen von Mensch und Natur im Naturganzen. Segantinis peinture-Methode ist mit der Rückseite eines Gobelins verglichen worden, seine Dichte wie geflochtene Textur ist Weberns Tonkonstruktion verwandt. „Macht die Kunst zum Gottesdienst“, hatte Segantini in seiner Antwort auf Tolstois berühmte Abwertung des ästhetischen verlangt; die Neue Kunst soll „in der Natur, der Mutter des Lebens wurzeln, soll mit dem unsichtbaren Leben der Erde und des Weltalls in Verbindung stehen“. Segantinis Bergpredigten machen Webern zum Gleichgesinnten, Nietzsches Klage gegen die Unwirtlichkeit der Städte erhebt sich in Also sprach Zarathustra, und die Künstler der Wiener Moderne beginnen in die noch unversehrte Natur zu pilgern, träumend von einem Ver sacrum. Webern begeistert sich an Goethes „Pflanzenlehre“, am mystisch-pantheistischen Gedankengut von „Urbild, Verwandlung, Rückkehr, Erinnerung, Seele“. Kunst wird ihm zur zweiten Natur. Die Gesetzmäßigkeit der Noten sind als „Psychohygiene“ (Hubert Stuppner) für ihren Schöpfer ebenso „erquickend, beglückend“ wie „Morgenfrühe“, „Ruhe und Frieden in der Natur“, wie ein „Ausflug zum Hochschwab“, wie „ein Gebirgsbach“ klar bis auf den Grund. 1919 schreibt Webern an Berg: „Ich war am Hochschwab. Es war herrlich: weil mir das nicht Sport ist, nicht Vergnügen, sondern ganz was anderes: Suchen von Höchstem, Auffinden von Korrespondenzen in der Natur für alles das, was mir vorbildlich ist, was ich gerne in mir haben möchte. (...) Nicht die schöne Landschaft, die schönen Blumen im üblichen romantischen Sinne bewegen mich. Mein Motiv: der tiefe, unergründliche, unausschöpfbare Sinn in allen diesen, besonders diesen Äußerungen der Natur. Alle Natur ist mir wert, aber die, welche sich dort ‚oben’ äußert, am wertesten. Ich möchte zunächst vordringen in der rein realen Erkenntnis aller dieser Erscheinungen. Drum habe ich immer meine Botanik mit und suche nach Schriften, die mir Aufklärung geben über alles das. Diese Realität enthält alle Wunder. Forschen, Beobachten in der realen Natur ist mir höchste Metaphysik, Theosophie“. In: die Reihe. Information über serielle Musik, hrsg. von Herbert Eimert unter Mitarbeit Karl-Heinz Stockhausen, Heft 2, Wien 1957, S. 23 f. Henk de Velde wies darauf hin, daß die organischen Beziehungen zwischen allen Stufen des musikalischen Werks- Reihe - Motiv/ Akkord-Ton - die Produktivität der allgemeinen Natur anschaulich, ‚faßlich’ machen müssen: „(...) mir ist der Zusammenhang vollkommen gewährleistet durch die zugrunde liegende Reihe. Es ist immer Dasselbe, und nur die Erscheinungsformen sind immer andere. - Das hat etwas Nahverwandtes mit der Auffassung Goethes von den Gesetzmäßigkeiten und dem Sinn, der in allem Naturgeschehen liegt und sich darin aufspüren läßt. In der ‚Metamorphose der Pflanze’ findet sich der Gedanke ganz klar, daß alles ganz ähnlich sein muß wie in der Natur, weil wir auch hier die Natur dies in der besonderen Form des Menschen aussprechen sehen. So meint es Goethe, Und was verwirklicht sich in dieser Anschauung? Daß alles dasselbe ist: Wurzel, Stengel, Blüte.“ In: Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 42 f. Vgl. auch: Theodor W. Adorno, Anton Webern, in: Klangfiguren. Musikalische Schriften I = Gesammelte Schriften 16, Frankfurt a. Main 1959. Wilhelm Szilasi hat die historischen Wurzeln von Anton Weberns organischer Poetik im deutschen Idealismus, namentlich im transzendentalen Idealismus Schellings festgemacht. Siehe: Wilhelm Szilasi Philosophie und Naturwissenschaft, Bern 1961.

  125. Die Tagebucheintragung Weberns wird hier nach der Biographie von Moldenhauer zitiert, siehe: Hans und Rosalen, Anton Webern. Chronik seines Lebens und Werkes, Zürich 1979, Seite 65-66. Giovanni Segantinis Ausstrahlung auf Anton Webern führte 1905 zu einem Streichquartett „mit dessen ersten Teil die Atonalität begann“ (Heinz-Klaus Metzger), und das die Konstruktionsprinzipien seines Konzertes für neun Instrumente op.24 (1934) antizipiert. Die Uraufführung des in der Musikwissenschaft wenig beachteten Streichquartettes erfolgte dreißig Jahre später in Seattle durch „The University of Washington String Quartett“. Aus Segantinis „Alpentriptychon“ („Il trittico della natura“, 1896-1899) hat Anton Webern die deutschen Namen für die drei Teile entlehnt: „Werden-Sein-Vergehen“ sind dem zwölfminütigem Stück vorangestellt. Bereits Weberns spätere Miniaturen und seine Zellentechnik kündigen sich ebenso an, wie die vom Komponisten angestrebte „Vergeistigung von Musik“. Vor das Werk ist ein Motto des barocken Mystikers Jacob Boehme gestellt, das von Visionen und mystischer Klarheit, von der Wiedergeburt des Lebens mitten im Tode handelt. Das Konzert op. 24 für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete, Posaune, Geige, Bratsche und Klavier, schrieb Anton Webern im Jahre 1934. Das sechseinhalbminütige Werk griff als Novum in die Musikgeschichte ein- das integral konstruierte Kunstwerk op.24 hat Karlheinz Stockhausen in der Zeitschrift „Melos“ (1953) ausführlich beschrieben. Wie das Streichquartett aus 1905 ist op.24 mit alpinen Themen verknüpft. Hauptthema II: „Dachstein, Schnee und Eis, kristallklare Luft“, Hauptthema IV, Coda: „Ausblick in die höchsten Regionen“. Eric Frederic Jensen hat analog zu Segantinis Alpen-Triptychon drei größere Abschnitte erkannt. Das für den Druck eingerichtete Manuskript von Webern befindet sich in der Pierpont Morgan Library (NewYork), Skizzenbücher zu op. 24 bewahrt die Paul Sacher-Stiftung (Basel). Die Biographen Weberns weisen darauf hin, daß mit Ausnahme der Violinstücke und einigen der letzten Orchesterstücke, alle Kompositionen sich auf den Tod der Mutter beziehen. So weist das Orchesterlied „O sanftes Glühen der Berge“, dessen Text Webern selbst verfaßte, auf den schmerzlichen Verlust der Mutter hin. Bei Segantini kreisen die Archetypen der Mütter im piktoralen Feld, Segantini endet bei der „Bösen Mutter“, Webern bei der „Gnadenmutter“. Die dramatischen Erfahrungen des Todes der geliebten Mutter führte bei Webern zu formalen Brüchen im Musikschaffen. Einem Brief an Berg vom 12. 7. 1912 ist zu entnehmen: „Mit Ausnahme der Violinstücke und einiger meiner Orchesterstücke beziehen sich alle meine Kompositionen von der ‚Passacaglia‘ an auf den Tod meiner Mutter; vor 6 Jahren ist sie gestorben. Die Passacaglia, das Quartett, die meisten Lieder, das II. Quartett, die ersten Orchesterstücke, die zweiten (mit einigen Ausnahmen).“ Im Orchesterlied „O sanftes Glühn der Berge“ (op.posth.) schlägt der Komponist einen Pfad zur „Gnadenmutter in Himmelshöhen“; das Lied endet „wie ein Hauch“. „O sanftes Glühn der Berge, Jetzt sehe ich sie wieder, O Gott so zart und schön, Gnadenmutter, in Himmelshöhn. O neige Dich, o komme wieder. Du grüsst und segnest- Der Hauch des Abends nimmt das Licht. Ich seh's nicht mehr, Dein liebes Angesicht.*“ *Zit. nach: Anton von Webern, Three Orchestral Songs op. posth; C. Fischer, New York 1964/68. Vgl. Günter Metken, L’ élévation en musique. Anton Webern et Segantini, in: Revue de l’art, Paris 1992. Weiters: Eric Frederick Jensen, Webern und Segantinis Trittico della natura, in: The Musical Times, Jänner 1989; Joachim Noller, Bedeutungsstrukturen. Zu Anton Weberns ‚alpinen Programmen’, in: Neue Zeitschrift für Musik 151, Mayence 1990. Im Zusammenhang mit Cy Twomblys „24 short pieces“ wies Roland Barthes auf Anton Weberns „Dichte“ hin: „24 short pieces: Das erinnert zugleich an Webern und das japanische Haiku. In den drei Fällen handelt es sich um eine paradoxe, ja provokante Kunst (wenn sie nicht zart wäre) insofern die Bündigkeit darin die Tiefe vereitelt. Das Knappe wirkt im allgemeinen gedrängt: Spärlichkeit bewirkt Dichte, und die Dichte das Rätsel.” Roland Barthes, Cy Twombly oder Non multa sed multum, in: Ders; Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a. Main 1990, S. 181. Ab 1923 war Anton Webern Leiter des sozialdemokratischen Singvereins, 1928 wird das Fest „60 Jahre Lied der Arbeit“ gefeiert. Zu Webern und der Wiener Arbeitermusikbewegung siehe: Winfried Schneider, Wenn singen mehr als reden ist, in: Die Presse, Spektrum, 25. April 1998. Anton Webern (1883-1945) wurde vor seinem Haus in Mittersill am 15. September 1945 von einem amerikanischen Wehrmachtssoldaten irrtümlich erschossen.

  126. In dieser schönen Charakteristik aus dem Jahre 1933 weist Adorno auf das Martyrologium Weberns hin: „Wenn sich um den Meister des dreifachen Pianissimo kein Lärm erhebt, so mag das in der Ordnung sein; die zuverlässige Hoffnung aber, daß er in hundert Jahren entdeckt, verstanden und glorifiziert werde, darf keine Ausrede dafür abgeben, daß man ihn heute vergißt- obschon die leidvollen Züge seiner Musik, Züge eines gebundenen und ekstatischen Sebastian, dem Martyrium vorbestimmt scheinen (...).“ Zit. nach: Anton Webern I, Musik-Konzepte, Sonderband hrsg. von Heinz-Klaus-Metzger und Rainer Riehn, München 1983, S. 5.

  127. Siehe: Karl Bloßfeldt, Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hrsg. mit einer Einleitung von Karl Nierendorf, Berlin 1928. 128, 129 Siehe: Walter Benjamin, Neues von Blumen, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, a. a. O; S. 151- 153.

  128. (.)

  129. (.)

  130. Alban Berg bringt die Atonalität mit den neuen Kommunikations, - und Transportmitteln in Verbindung: „Die moderne Musik ist zweifellos ein Glied in der Kette der Entwicklungsstadien, wie sie die klassische Musik im Laufe der Generationen zu verzeichnen hatte. Unsere also die atonale Musik ist somit eine durch das Wesen der Tonkunst von vornherein bestimmte Folgerung, die innerlich unabhängig von den übrigen Zeitereignissen zur Auswirkung kommen musste. Wir sind vom Zeitgeiste insoferne abhängig, als wir als seine Faktoren ihn gleichsam bestimmen und somit in seinem Sinne arbeiten. Das Tempo das der gesamten Kunstproduktion von heute innewohnt, ist naturgemäss eine Rückwirkung der heutigen Zeit, die nicht mehr durch die behebige Postkutsche sondern z.B. durchs Radio symbolisiert wird. Alles weitschweifige wird weggelassen, um möglichst balastarm nur durch stilvolle Prägnanz zu wirken. Schönberg’sche Musik ist ebenso eine Bedingung unserer Epoche wie es etwa das Flugzeug ist. Nur konnte eben das auf die letzten drei Dezenien komprimierte Schaffen Schönbergs noch nicht in dem Masse von der Menge als Selbstverständlichkeit erkannt werden wie eben der Aeroplan. Der Übergang von der ‚Tonalität’ zur ‚Atonalität’ hat sich in verhältnismässig so kurzer Zeit vollzogen, dass dieser neue Begriff noch nicht als vollwertig verständlich, dem Publikum, das sie schliesslich erst assimilieren muss, eingeprägt ist.“ Siehe: F21 Berg 1283. Eine dädalische Lust am Fliegen äußerte Berg in einem Brief (um 1911) an Anton Webern: „Daß ich mich nach einem idealen Flugzeug sehne (die heutigen sind Spielereien, die sicher weit entfernt sind von ihrer Lösung): fliegen zu können, obwohl schon überraschende Erfolge erzielt sind, ist keine Sehnsucht nachtechnischenErrungenschaften, mit denen dem Fliegen sicher nicht beizukommen ist (...), sondern meine Sehnsucht nach 'oben'. Denk Dir nur: Über die höchsten Berge dahinschweben zu können! Wo kein Laut mehr dieser Erde zu einem heraufdringt - - Nicht einmal die Herdenglocken - - Herrlich, herrlich - -" Zit. nach: H. F. Redlich, Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Wien/Zürich/London 1957, S.293. Leó Popper, der frühverstorbene Kunstkritiker und Freund Georg Lukács schrieb 1910 unter dem Titel Zur Aesthetik des Aeroplans: „Das größte Mißverhältnis in allen Bewegungen hat die Maschine gebracht. Indem sie das Bewegende beliebig zusammenschrumpfen ließ oder gar unsichtbar machte, bewirkte sie eine völlige Anarchie unserer eingepflanzten Proportionalforderungen (...) die alten Proportionen sind gestürzt und die neuen wechseln von Tag zu Tag.“

  131. Bergs Liebeserklärung ans Radio siehe weiter Note 350.

  132. Diese Telefonnummer gibt Alban Berg Hanna Fuchs im Brief [um den 23. Mai 1925] an.

  133. „Dem Prager Telefonbuch aus dem Jahre 1926 lassen sich unter dem Namen Herbert Fuchs zwei Nummern entnehmen, von denen die erste, 205.5.5, die Geschäftsnummer, die zweite, 87.3.2 VI, die Privatnummer der Wohnung in der Straße Na Cátorze in Bubenec war. Es konnte Berg nicht entgehen, daß gerade die erste Telefonnummer mit seinem Hanna-Erlebnis korrespondierte, denn über dem 3. Satz hat Berg in der Widmungspartitur das Datum eingetragen: 20. 5. 25. Das mag ihm die Anregung gegeben haben dieser Telefonnummer einen Platz in seinem Werk anzuweisen. Es könnte die Zahl sein, aus der Berg [im I. Satz der Lyrischen Suite] die Taktzahlen 41, 42 u. 43 abgeleitet hat, denn es lässt sich folgende Rechnung anstellen: 205 / 205 + 5 = 210 / 210 + 5 = 215. Teilt man diese Zahlen durch die Hanna – Zahl 5, so erhält man: 205 : 5 = 41, 210 : 5 = 42,215 : 5 = 43.“ In: Werner König, Der Erste Satz der Lyrischen Suite von Alban Berg und seine fast belanglose Stimmung, Tutzing 1999, S.50,51.

  134. „In einem Eisenbahnzug sitzen, es vergessen, leben wie zuhause, plötzlich sich erinnern, die fortreißende Kraft des Zuges fühlen, Reisender werden, die Mütze aus dem Koffer ziehn, den Mitreisenden freier, herzlicher, dringender begegnen, dem Ziel ohne Verdienst entgegengetragen werden, kindlich dies fühlen, ein Liebling der Frauen werden, unter der fortwährenden Anziehungskraft des Fensters stehen, immer zumindest eine ausgestreckte Hand am Fensterbrett liegen lassen. Schärfer zugeschnittene Situation: Vergessen, daß man vergessen hat, mit einem Schlage im Blitzzug allein reisendes Kind werden, um das sich der vor Eile zitternde Waggon anstaunenswert im Allergeringsten aufbaut wie aus der Hand eines Taschenspielers.” Franz Kafka, Tagebuch, 31. Juli 1917. Das Urbild des modernen Geschwindigkeitsschocks hat Lumière mit dem Film „Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat“ (1896/97) geschaffen. Das Eisenbahnmotiv blieb im russischen Film nicht ohne Folgen. In Vladimir Gardins Karenina-Film (1914) wirft sich Tolstois Heldin Anna Karenina unter einen fahrenden Zug und in den 20er Jahren filmte Dziga Vertov das Überrolltwerden durch einen Zug. Paul Delvaux ist der Maler der Eisenbahnen, Frauen und Steine, siehe das schöne Bild Petite gare la nuit. Alban Berg hat folgende Zeile aus Tolstois Anna Karenina abgeschrieben: „Ich denke, sagte Anna, wenn es ebensoviele Arten Verstand gibt als es Köpfe gibt, so gibt es auch ebensoviel Arten Liebe als Herzen.“ Siehe: F 21 Berg 100/ Heft XI, Von der Selbsterkenntnis.

  135. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 600. Vgl. Marcel Prousts Artikel Impression de route en automobile, der am 19. Nov. 1907 in Le Figaro erschienen ist. Marcel Proust spricht vom Schreiben in einem Kutschen-Wagen: „Ohne mir zu sagen, daß das, was hinter den Türmen von Martinville verborgen war, einem wohlgelungenen Satz entsprechen mußte, da es mir ja in Gestalt von Worten, die mir Freude machten, aufgegangen war, bat ich den Doktor um Bleistift und Papier und trotz der Stöße des Wagens verfaßte ich, um mein Gewissen zu entlasten und meiner Begeisterung zu gehorchen, das folgende kleine Stück Prosa, das ich später wiederfand und nur in einigen wenigen Punkten abändern mußte: 'Einsam über die Ebene und wie auf weiter Fläche verloren stiegen die beiden Türme von Martinville zum Himmel empor.’” In: Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1, Unterwegs zu Swann, übersetzt von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. Main 1994, S. 264.

  136. Siehe: Hanns Zischler, Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1996. „Das Kino ist das Tagebuch des modernen Lebens.” G. A. de Caillavet, 1912.

  137. Nachdem Alban Berg in Wien Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“ versäumt hatte, beabsichtigte er den Kinobesuch mit Hanna Fuchs in Prag im November 1926 nachzuholen. Siehe: „Welch’ eine Nacht!” [Berg an Hanna ohne Datum 6./7. Nov. 1926]. Bereits im Jahre 1927 begeistert sich Berg in Berlin an Wsewolod Pudowkins Film Die Mutter (1926): „(...) das herrlichste von allem!!!” Siehe: Brief an Soma Morgenstern vom 27. 11. 1927, S. M; a. a. O; S. 196. Alban Bergs Opernästhetik in „Lulu“ orientierte sich beflissen am Montageprinzip des russischen Stummfilms. Im maschinschriftlichen Manuskript zu „Lulu“ beschrieb Berg ausführlich die Szenerie der Stummfilmpassage. In den Briefen an Helene Berg und Soma Morgenstern ist immer wieder vom Kinogehen in Berlin, Wien, Klagenfurt und Villach die Rede: „28. März 1923 [an Helene Berg]: Also in Schönbrunn ins Kino: 'Maria Antoinette’. Dieses fürchterliche Schicksal indieserAn-schau-lichkeit. Ganz zerfleischt ging ich nachhaus, kochte mir mein Nachtmahl, eine Bauernwurst, warm mit Kren.” In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 493. „ohne Datum (Sommer 1928) [an Helene Berg]: Wenn’s nur Montag schön ist! Um 6 Uhr fahr’ ich mit Doktor Löwe nach Villach, wo wahrscheinlich wieder ein Kino herausschauen wird. Das gestrige (das berühmte Mollnárstück ‘Olympia’) war sehr gut. (...). In: A. Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S.566. „Wien, 10. April 1933 [an Helene Berg] (...) Auf diese Weise gingen Franzl [Nahowski] und Tante allein ins Kino und ich erst in die Abendvorstellung, auch allein. Der blödeste und fadeste Film, den ich je sah.” In: A. B., Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 613. „Waldhaus, 10. 11. 33 Mein lieber Soma, zwei Monate sind’s her seit Deinem Brief. Indessen ist’s Winter geworden. Und es fällt einem physisch schon sehr schwer, hier auszuharren. Trotzdem tu ich’s noch der Arbeit zulieb u. obwohl wir uns schon nach dem beschaulichen Café Museum u. nach den neuen Kinostücken (deren es ja scheinbar ein paar sehr gute gibt) sehnen.” In: S. M., Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 256. „Waldhaus, Samstag 10. März 1934, nachmittag [an Helene Berg] Auf der Bezirkshauptmannschaft war ich wegen der Autoketten-Strafe (3,-S). Dann ging ich ins Kino statt in Kaffeehaus. Eine interessante Wochenschau und ein fabelhafter geographischer Film: über Kanada, mit den Städten Chicago, Quebeck etc; und den Niagarafall. Unbeschreiblich grandios, dieses Amerika!!!” In: A. B., Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 642. Mit dem Aufkeimen des Nazi-Regimes wird auch ein Propagandafilm über Benito Mussolini gezeigt: „Gut Berghof 7. 9. 32, [an Soma Morgenstern] Sehr gerne lese ich in der F. Z. [Frankfurter Zeitung] solange Du sie leicht entbehren kannst. Mussolinifilm gefiel uns sehr. Besonders dernonchalanteTon mit dem Du dieses schwere Problem Faszismus behandelst.” [Soma Morgenstern schrieb in der FZ 651-652 am 1. September 1932 eine Kritik über den „Mussolini” Film.] In: S. M., Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 249, 250.

  138. Zu Graf LeoTolstoi siehe die Bemerkung von Gilles Deleuze, Das Zeitbild. Kino 2, Frankfurt a. Main 1991, S. 399.

  139. Die künstlerischen Vorgänge in Berlin an der Bühne des Erwin Piscator (1893-1966), und die Bühnenästhetik Max Reinhardts (1873-1943) in Wien sind Alban Berg geläufig. Max Reinhardt orientierte sich an der Stanislawski-Schauspielkunst, die den individuellen Gestus des Darstellers betonte. Nach und nach wird auf der Reinhardt-Bühne die Inszenierung der Masse auftauchen. Das Büchnersche Revolutionsdrama Danton zeigte der Regisseur im Juni 1929 im Arkadenhof des Wiener Rathauses vor 2000 Zuschauern. Von ferne winkt Meyerhold! Ins Scheinwerferlicht der Bühne Oscar Strnads ist das Volk der französischen Revolution getaucht. Strnad wird auch eine Bühne für Wozzeck bauen. Siehe: Die Wiener Reinhardt-Bühne im Lichtbild, hrsg. von Hans Böhm, Zürich/Leipzig/Wien 1926. Siehe weiters: Anton Pawlowitsch Tschechow und das Ensemble Konstantin Sergejewitsch Stanislawskis. Redaktion Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin 1984. Siehe auch: Walter Benjamin, Piscator und Russland, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1, Frankfurt a. Main, S. 543.

  140. Siehe Eisensteins Manifest aus dem Jahre 1928: Pudovkin und Aleksandrov, in: Sergej Eisenstein, Film Form/The Film Sense, New York 1957; dt. in: Schriften 4, Das Alte und das Neue („Die Generallinie”), München/Wien 1984.

  141. Siehe: Andrej Belyj, Petersburg. Aus dem Russischen übersetzt von Gabriele Leupold, Frankfurt a. Main 2001.

  142. Zit. nach: Wolfgang Schneider, Dunkelmänner unter virtuoser Lichtregie. Erstmals übersetzt: Die Urfassung von Andrej Belyjs „Petersburg”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Okt. 2001, Nr. 234.

  143. „Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen.“ Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt a. Main 1978. Siehe weiters: Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus. Mit Biographien und Bibliographien neu herausgegeben von Kurt Pinthus, Hamburg 1959. Unter den Autoren Becher, Benn, Däubler, Ehrenstein, Goll, Hasenclever, Heym, Heynicke, Hoddis, Klemm, Lasker-Schüler, Leonhard, Lichtenstein, Lotz, Otten, Rubiner, Schickele, Stadler, Sramm, Werfel, Wolfenstein und Zech findet sich auch Georg Trakl, ein Gedicht ist betitelt mit „De profundis“: „Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt. Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht. Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist - Wie traurig dieser Abend. Am Weiler vorbei Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein. Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams. Bei der Heimkehr Fanden die Hirten den süßen Leib Verwest im Dornenbusch. Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern. Gottes Schweigen Trank ich aus dem Brunnen des Hains. Auf meine Stirne tritt kaltes Metall. Spinnen suchen mein Herz. Es ist ein Licht, das in meinem Munde erlöscht. Nachts fand ich mich auf einer Heide, Starrend von Unrat und Staub der Sterne. Im Haselgebüsch Klangen wieder kristallne Engel“.

  144. Kracauer begreift Film als materiellen Ausdruck: „Was den einsamen Wanderer in den gefräßigen Nachtstraßen bedrängt, drückt der Film in taumelnder Abfolge futuristischer Bilder aus, und er darf es so ausdrücken, weil das sich verzehrende Innere nur noch fragmentarische Vorstellungen entläßt. Die Begebenheiten verstricken sich und entknoten sich wieder und da die Menschen erstorben sind, beteiligen sich auch die unbelebten Dinge wie selbverständlich am Spiel. Kalkmauern künden von Mord, Lichtreklame zuckt auf wie flackerndes Auge; das Ganze ein wirres Nebeneinander, ein Tohuwabohu verdinglichter Seelen und scheinwacher Dinge.” Siegfried Kracauers Schriften zu Film und Massenkultur umfassen an die tausend Besprechungen, über beinahe jeden Film, der in den deutschen und später französischen Kinos zu sehen war. In der F. Z. (16. Mai 1926) findet sich Kracauers Besprechung von Panzerkreuzer Potemkin: „Die Jupiterlampen brennen weiter“. Walter Benjamin rezensierte Kracauers Roman Die Angestellten (1930) und nannte Kracauer einen „Lumpensammler frühe im Morgengrauen, der mit seinem Stock die Redelumpen und Sprachfetzen aufsticht, um sie murrend und störrisch, ein wenig versoffen, in seinen Karren zu werfen, nicht ohne ab und zu einen oder den anderen dieser ausgeblichenen Kattune 'Menschentum’, ‘Innerlichkeit’, ‘Vertiefung’ spöttisch im Morgenwinde flattern zu lassen. Ein Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages.” Walter Benjamin, Ein Außenseiter macht sich bemerkbar, in: Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt a. Main 1972, S. 219ff. Alban Berg, der Cinephile, liest Kracauers Roman Ginster mit Begeisterung: „Mehrals sonst hab ich in diesen Tagengelesen. Als größten Eindruck allerdings 'Ginster' behalten.“ (Brief an Morgenstern am 28. 7. 1928). Siehe auch den Brief (3.1.1929) an Siegfried Kracauer: F21 Berg 480/201. Zu Kracauer siehe: Miriam Hansen, Mit Haut und Haaren. Kracauers frühe Schriften zu Film und Massenkultur, in: Tonkörper. Cinema 37, hrsg. von Alfred Messerli und Janis Osolin; Thomas Y. Lewin, Siegfried Kracauer: Eine Bibliographie seiner Schriften, Marbach am Neckar 1989. Zur lebenslangen Freundschaft zwischen Adorno und Kracauer siehe: Martin Jay, Adorno und Kracauer: Notes onaTroubled Friendship, in: Salmagundi 40 (1978).

  145. Wsevolod Podovkin verfilmte Maxim Gorkis Roman „MAT“ [„Die Mutter“]: Der Roman „entstand 1906 während Gor’kijs Aufenthalt in Amerika und Italien. Er erschien zunächst in englischer Sprache in der New Yorker Zeitschrift ‚Appleton Magazine‘ (1906/07) und wurde 1907 in Berlin erstmals in russischer Sprache herausgegeben. In Rußland selbst konnte der Roman ungekürzt erst 1917 publiziert werden. Das Geschehen des Romans beruht auf tatsächlichen Vorkommnissen in der Arbeitervorstadt von Niznij-Novgorod, Sormovo. Dort war bei einer Demonstration zum Ersten Mai 1902 der Arbeiter Petr Zalomov, der die Fahne getragen hatte, verhaftet worden. Seine Mutter, Anna Zalomova, hatte sich ebenfalls der sozialdemokratischen Bewegung angeschlossen. Der Prozeß gegen die Teilnehmer der Demonstration erregte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit – u. a. schrieb Lenin selbst über die Ereignisse und die Rede Zalomovs vor Gericht. Gor’kij unterstützte die Familie während der Zeit der Untersuchungshaft und nahm Petr Zalomov nach dessen Flucht aus der Verbannung in seiner Datscha in Finnland bei sich auf. Im Mittelpunkt des Romans steht die Figur der Pelageja Nilovna und der langsame Prozeß ihrer Bewußtwerdung, das allmähliche Begreifen der revolutionären Ideologie ihres Sohnes. Nachdem sie zunächst seinen Ideen und Lehren ängstlich und ablehnend gegenübersteht, wird sie schließlich selbst für die Bewegung aktiv: als Pavel zum ersten Mal im Gefängnis ist, schmuggelt sie an seiner Stelle die Flugblätter in die Fabrik. Pavel wird freigelassen, im Verlauf der Demonstration zum Ersten Mai jedoch erneut verhaftet. Damit schließt der erste Teil des Romans. Zu Beginn des zweiten Teils zieht die Mutter zu Nikolaj Ivanovic in die Stadt und nimmt dort ständig wachsenden Anteil am Leben und an der Arbeit der Revolutionäre. Sie steckt nicht nur Pavel bei ihren Gefängnisbesuchen heimlich Nachrichten zu, sondern sie reist auch auf das Land und verteilt Schriften und Bücher an Bauern. Pavel und seine Freunde werden vor Gericht gestellt und verurteilt; Pavel selbst hält bei der Gerichtsverhandlung eine flammende Rede über die revolutionäre Bewegung und ihre Ziele. Die Mutter will Flugblätter mit dieser Rede ihres Sohnes verbreiten, wird dabei jedoch niedergeschlagen und verhaftet. Dem Roman Gor'kijs, der nicht unumstritten war, wurde in der Formulierungsphase des Sozialistischen Kommunismus eine Sonderstellung zugewiesen. Kritische Stellungnahmen, auch von Gor’kij selbst, wurden nicht mehr zitiert und das Werk als klassisches Musterbeispiel des Sozialistischen Realismus herausgestellt. Gor’kijs Roman sollte zur Feier des 20. Jahrestages der Revolution von 1905 verfilmt werden. Der ursprüngliche Plan sah vor, die Person des alten Vlasov in den Mittelpunkt zu stellen und diese Rolle mit dem bekannten Schauspieler Ivan Moskvin zu besetzen. Regie sollte Jurij Zeljabuzskij führen. Der Drehbuchautor Natan Zarchi war jedoch mit der ersten Fassung der Adaption nicht zufrieden, und auch Lunacarskij sprach sich gegen die geplante Verfilmung unter dem Titel ‚Otec' aus. So wurde die Regie dem jungen Regisseur Wsevolod Pudovkin (1893-1953) übertragen. Zarchi arbeitete das Drehbuch um, wobei er Memoiren von Teilnehmern der revolutionären Bewegung von 1905/06, besonders aus der Stadt Tver‘, hinzuzog.“ In: Doris Lemmermeier, Literaturverfilmung im sowjetischen Stummfilm. Analyse ausgewählter Drehbücher, Opera Slavica, Neue Folge: Bd. 11, Wiesbaden 1989, S. 69, 70. „In meinem früheren Film ‚Mutter‘“, erklärte Pudovkin, „wollte ich auf das Publikum nicht durch die psychologische Darstellung der Schauspieler wirken, sondern durch die Mittel der Gestaltung durch Montage. Der Sohn sitzt im Gefängnis. Plötzlich erhält er einen Zettel zugesteckt, daß er am nächsten Tag befreit werden wird. Es handelt sich mir darum, den Ausdruck der Freude filmisch zu zeigen. Die Photographie des freudig erregten Gesichts wäre wirkungslos verpufft. Ich zeige also das Spiel der Hände und eine Großaufnahme der unteren Gesichtshälfte, des lächelnden Mundes. Diese Aufnahmen montierte ich mit verschiedenem anderen Material zusammen. Und zwar mit Aufnahmen eines rasend dahinströmenden Frühlings-Bächleins, mit dem Spiel von Sonnenstrahlen, die sich im Wasser brechen, von Vögeln, die im Dorfweiher spielen und schließlich mit einem lachenden Kinde. Damit schien dieser Ausdruck‚ Freude des Gefangenen‘ gestaltet. Ich weiß nicht, wie sich die Zuschauer zu meinem Experiment gestellt haben: ich selbst bin von seiner Wirkung tief überzeugt.“ In: Materialien zur Filmgeschichte 3. Dokumentation zum Seminar, „Künstlerische Avantgarde im Sowjetischen Stummfilm“. Mit Texten von Dsiga Wertow, Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin und Beiträgen zu den Themen Majakowskij und der Futurismus, Konstruktivismus, Proletkult, „LEF“-Avantgarde, Die Schule Lew Kuleschows Kosinzew/Trauberg und die „Fabrik des exzentrischen Schauspielers“. Hrsg. von den Freunden der Deutschen Kinemathek, e. V; Berlin 1974. Zu Lenins Revolution siehe die erhellenden Studien: Richard Pipes, Drei Fragen der russischen Revolution, Wien 1995. Weiters: The Unknown Lenin. From the Secret Archive, edited by Richard Pipes with the assistance of David Brandenberger, Yale University Press, London 1996.

  146. Siehe: Ernest Fenollosa, Ezra Pound und Sergej Eisenstein: No, Vom Genius Japans, Zürich 1963, S. 264-282.

  147. Eisensteins Essay „Hinter der Leinwand“ war ursprünglich als Nachwort zu N. Kaufmanns Abhandlung Japanischer Film (Moskau, 1929) geschrieben. 148, 149 Wie Note 146.

  148. (.)

  149. (.)

  150. Mit derselben Intensität wie Berg Notenpassagen in der Partitur der „Lyrischen Suite“ mit Farbstiften umkreist, kreist er Autotypen in Automobilprospekten ein, vorzugsweise die Preise. Siehe: F21 Berg 3048.

  151. Photographien Bergs in Sportkleidung, siehe: F 21 Berg 3356.

  152. Berg, der stolze Autobesitzer, spricht vom „Ford Wagerl“ in Briefen an Arnold Schönberg, Anton Webern und an Soma Morgenstern. Am 22. Juli 1930 schreibt er an Schönberg: „Und den Rest der mir zur Verfügung stehenden Zeit, ja ihr Großteil, standen ganz im Zeichen der Autobeschaffung und der Chauffeurprüfung. Die hab‘ ich, Gott sei Dank, sehr gut bestanden, und ich könnte jetzt schon überall in dem schönen Kärnten herumfahren (...) wenn ich das Auto hätte. Es hat sich nämlich, lange nach dem Kaufabschluß herausgestellt, daß so ein Wagen, wie ich ihn wollte und deren ich viele in Berlin sah, in ganz Europa nicht aufzutreiben war. Sodaß die Sache von vorn anging und ich schließlich die Lösung fand, einenenglischenFord mir kommen zu lassen, der nunmehr unterwegs ist und den ich um die Monatswende hier erwarte.“ Zit. nach: Hans F. Redlich, Alban Berg, a. a. O; S.385. An Soma Morgenstern schreibt Berg am 6. September 1930: „Mein lieber Soma, (...) Anbei unser 40 PS-Ford-Wagerl geschlossen. Es istvollständigzu öffnen. Hinten sind zwei sehr bequeme Notsitze oder Platz für viel Gepäck. – wir fahren täglich aus.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 239. Berg, der spielerisch den Photoapparat gebraucht, schickt ein Photo seines Autos an Morgenstern, am 13. 9. 1930 äußert er dazu: „Mein Lieber (...) Die Photographie unseres Fords ist allerdings verschnitten: es hätte ein waagrechtes Bild werden sollen. Ich hab den Apparat verkehrt gehalten (...) Wir sind sehr zufrieden mit dem Wagen u. ich beginne allmählich ein guter Faher zu werden. Je länger man fährt, desto mehr sieht man, wie schwer es istgutzu fahren.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 242. Das wunderbare Objekt der Begierde, „das Wagerl“, ist nur ein kalter Apparat und will stets gewartet sein, an Helene berichtet er im Juli 1932: „Ich bin nämlich in Klagenfurt, wo ich die jugoslawischen Visa verlängern ließ und den Wagen zu Fuchs führte: 1. lass‘ ich die Federn nachschauen, 2. sind bereits 200 km über den Schmiertermin, 3. Reserverad, das Luft läßt, reparieren. In ein paar Stunden hol‘ ich den Wagen und berichte Dir dann morgen darüber.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 600. Photographien Alban und Helene Bergs unterwegs mit dem Auto, siehe: F21 Berg 3358/1-2, F21 Berg 3355/1. Zu einem Autounfall am 10. September 1933, siehe: F 21 Berg 480/194. Marcel Proust, Alban Berg und Pablo Picasso liebten Automobile und beschäftigten Chauffeure. Alban Bergs Leben im „Waldhaus“ am Wörther-See in den Jahren 1932-35 wurde von der Hausgehilfin Anna Lenz und von seinem Chauffeur, „Franzoy“, begleitet, ein Portraitphoto des Lenkers der Pferdestärken ist im Arbeitszimmer des „Waldhauses“ zu sehen. Brassaï lernte Picasso im Jahre 1932 kennen. Picasso „besaß alles, was zu einem 'arrivierten' Künstler gehört: einen Hispano-Suiza mit livriertem Chauffeur (...), ein kleines Schloß in der Normandie - erst vor kurzem hatte er Boisgeloup erworben.“ Brassaï photographierte das kleine Schloß Picassos, indem er die Scheinwerfer des Hispano-Suiza-Automobils auf die Fassade richtete, auch photographierte Brassaï dort im Atelier Picassos Skulpturen im Lichte einer Petroleumlampe.“ Siehe: Brassaï, Proust und die Liebe zur Photographie, Frankfurt a. Main 2001, S. 164/ 165. Siehe weiters: Brassaï/Picasso, Conversations avec la lumière, Ausstellungskatalog Musée Picasso, Paris, 1. Februar-1.Mai 2000. Alfred Agostinelli, erst Chauffeur, später Sekretär Prousts, kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. An André Gide schrieb Proust am 11. Juni 1914: „Lieber Freund, ich danke ihnen tausendmal, daß Sie so freundlich waren, mir zu schreiben; ich fürchte, was ich habe sagen wollen, ist in meinen Sätzen nur wenig zum Ausdruck gekommen, und was mir allein der Mühe des Schreibens wert erschienen war, muß unbekannt bleiben. Sie sind sehr gütig, daß sie auch an meine Sorgen und meinen Kummer denken; ach, ihr Maß ist übervoll geworden durch den Tod eines jungen Freundes [A. Agostinelli], den ich wohl mehr geliebt haben mag als alle anderen, da sein Tod mich so elend zurückläßt. Obwohl vom bescheidensten ‚Stande‘ und über keinerlei Bildung verfügend, besitze ich Briefe von ihm, wie sie nur ein großer Schriftsteller schreibt. Er war ein junger Mensch von wunderbarer Intelligenz; aber durchaus nicht darum hatte ich ihn lieb. Ich habe lange Zeit gebraucht, bevor ich es klar erkannte, weniger lang als er selbst. In ihm habe ich jenes, mit allem, was er war, so merkwürdig unvereinbare Talent entdeckt, und dies mit großem Erstaunen, doch ohne daß es meiner Liebe für ihn das Geringste hinzufügte. Nachdem ich es entdeckt hatte, war es eine meiner Freuden, ihm darüber Klarheit zu verschaffen. Aber nun ist er tot, bevor er wirklich wußte, wer er war, ja sogar, ehe er völlig er selbst war. Und all dies ist mit so abscheulichen Umständen verknüpft, daß ich, schon vorher fast am Ende meiner Kräfte, nun nicht weiß, wie ich so viel Leid ertragen soll.“ In: Marcel Proust, Briefe zum Werk. Deutsch von Wolfgang A. Peters, Frankfurt a. Main 1964, S. 304,305.

  153. Photographien Helene und Alban Berg in der Sommerfrische, siehe: F21 Berg 3354/1-2, F21 Berg 3355/2-3; F21 Berg 3346/1,2.

  154. Photographie Bergs als passionierter Raucher im Landgasthof, siehe: F21 Berg 3347. Über eine Tabakbestellung aus Holland, siehe den Zollschein vom „19. 1. 21“ : F21 Berg 2734. Man sagt, wie man ißt und raucht, so spricht man auch. Photographien, Berg am Schreibtisch zigarettenrauchend, siehe: F21 Berg 3331/1, 2, 3. 155 Photographie Berg mit der „Royal-Schreibmaschine“, siehe: F21 Berg 3346.

  155. (.)

  156. Lichtbildautomatenphotos Bergs, siehe: F21 Berg 3370. Als Gustav Janouch Franz Kafka von den neu aufgestellten ‚Lichtbild-Automaten’ erzählte und eine von sich angefertigte Serie von festgehaltenen Posen als Beweis für die medientechnische Realisierung des philosophischen ‚Erkenne-dich selbst’ präsentierte, antwortete ihm Kafka lakonisch: „Sie wollten sagen: Verkennedichselbst ! meinte darauf Doktor Kafka mit einem feinen Lächeln. Ich protestierte: 'Wieso?' Die Photographie lügt doch nicht!' ‚Wer sagt Ihnen das?’ Doktor Kafka neigte den Kopf zur Schulter. ‚Die Photographie fesselt den Blick an die Oberfläche. Damit vernebelt sie gewöhnlich das verborgene Wesen, das nur wie ein Licht- und Schattenhauch durch die Züge der Dinge hindurchschimmert. Dem kann man mit den schärfsten Linsen allein nicht beikommen. Man muß sich da schon mit dem Gefühl vortasten. Oder glauben Sie, daß man der abgrundtiefen Wirklichkeit, welche während all der vorhergehenden Epochen ganze Legionen von Dichtern, Künstlern, Wissenschaftlern und anderen Zauberern voll banger Sehnsucht und Hoffnung gegenüberstanden, daß man dieser immer wieder zurückweichenden Wirklichkeit nun einfach durch das Niederdrücken der Knöpfe einer billigen Apparatur erfolgreich beikommen kann?- Ich bezweifle es. – Dieser Lichtbild-Automat ist kein multipliziertes Menschenauge, sondern nur ein phantastisch vereinfachter Fliegenblick.’ „ In: Gustav Janouch, Gespräche mit Kafka. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Frankfurt a. Main 1981, S.162,

  157. Die Photographien, die wir gestreift haben, zeigten einige Episoden und Einzelheiten von Bergs Leben, und wir erkennen physiognomische Stationen: Einen von romantischer Sehnsucht erfüllten Jüngling mit dandyhaften Neigungen, der nach und nach in das wohlabgefederte bürgerliche Leben eines anerkannten Komponisten hineinzuwachsen begann. Der ausgesprochen extravagante Sinn für das Feine im Auftreten, in der Kleidung und in der Haushaltsführung kennzeichnen die Ehejahre mit Helene Berg. Was aus Alban Berg in Wahrheit geworden ist, zeigt eine Photographie von Franz Löwy aus dem Jahre 1935: Die Leiden des Alleinseins, sein Mißerfolg in der Liebe haben die Gesichtsmuskel, die Mundwinkel und die Augen zu verändern begonnen.

  158. „Asthma (griech.): anfallsweise auftretende Kurzatmigkeit. Symptomatisch bei Linksinsuffizienz des Herzens (...) Asthma bronchiale: hierunter ist ein Zustand von krampfartiger Atemnot zu verstehen, bei dem der Torax inspiratorisch gestellt ist und die Exspiration infolge hyperämischer Schwellung und Sekretbildung der Bronchien und Bronchiolen sowie Bronchialspasmen nur mühsam erfolgt. Die Anfälle treten meist nachts auf. Der Anfall kannn sich über Tage bis Wochen hinziehen, er löst sich unter Auswurf eines zähen schleimigen Sputums (...) In der anfallsfreien Zeit findet man meist eine Bronchitis (Asthmabronchitis). Die meisten Fälle sind allergisch bedingt, als Allergene kommen Bettfedern, Tierhaare, Blütenstaub (...), vor allem die sg. Klimaallergene (Bodenbeschaffenheit, Feuchtigkeitsgehalt der Luft) in Betracht. Das neurovegetative System, vor allem der Vagus, befindet sich in einem Erregungszustand. Es stellt sich oft psychische Reizbarkeit ein, so daß die Anfälle rein psychogen oder von bestimmten Reizpunkten (Nasenschleimhaut, Genitalien) ausgelöst werden können.“ In: Wörterbuch der Medizin, hrsg. von M. Zetkin, E. – H. Kühtz, K. Fichtel, Berlin 1964. Bergs Asthma-Attacken intensivieren sich auf den Landsitzen in Trahütten und am Gut „Berghof“ am Ossiacher See. Der See und die große Nähe der Hohen Tauern, „hinter denen es immer regnet“, sagte Berg, „schafft fast jede Nacht Abkühlung.“ Am 13. Juli 1908 schreibt Berg an Helene: „Körperlich fühle ich mich hier [am Gut „Berghof“] denkbar schlecht. (...) Zu jeder Bewegung zu schwach, beim Liegen arge Bedrängnis in Lunge und Brust, an ewigen Kartarrhen, Schnupfen und Niesen leidend.“ In: A. B., Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 28. In einem Brief vom 13. August 1917 an Schönberg heißt es aus Trahütten: „Nun sind’s 10 Tage mein lieber Herr Schoenberg, daß ich hier bin. Die erste Woche hatte ich noch ganz unter den Folgen der jahrelangen Gefangenschaft zu leiden: Asthma-Anfälle von einer Stärke, daß ich einmal tatsächlich glaubte, die Nacht nicht überleben zu können.“ Zit. nach: Hans F. Redlich, Alban Berg, a. a. O; S. 303. Im Juli 1932 schreibt Berg an Helene: „Ich habe noch nie ohne Asthma in Trahütten begonnen! Auch in Zeiten höchster Begeisterung dafür, ja in Kriegsurlauben, gab’s anfangs immer 2 bis 14tägige Asthma-Anfälle. Ja oft Zeiten, wo ich wochenlang am Tisch schlief. Da es aber immer wieder auch Monate gab, wo ich vollkommen aklimatisiert war und gesund und arbeitsfähig, gebe ich die Hoffnung in keiner Weise auf." In: A. B., Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 601.

  159. Der Komposition „Drei Orchesterstücke“, op. 6 (1914) gab Alban Berg den inoffiziellen Titel „Marsch eines Asthmatikers.“ Die Komposition besteht aus: 1. Präludium: Langsam, 2. Reigen: Anfangs etwas zögernd – Leicht bewegt, 3. Marsch: Mäßiges Marschtempo. Den Beginn der „9. Symphonie“ Gustav Mahlers zeigt Claudio Abbado als Quelle für das erste Orchesterstück auf. Siehe: Alban Berg, „Drei Orchesterstücke“ op.6. Partitur I. Präludium, II. Reigen, III. Marsch. Partitur. – Universal Edition A. G.; Wien-New York 1923. Dieses Exemplar enthält Eintragungen Bergs mit Tinte und Bleistift (F 21 Berg 142). Es existiert ein Skizzenbuch (49 Blatt) zum 3. Stück, siehe: F21 Berg 13/II. Im Skizzenbuch zu Wozzeck finden sich wieder Skizzen zum Marsch, siehe: F21 Berg 13/VII. Siehe weiter: Marc De Voto, Alban Bergs Drei Orchesterstücke op. 6: Struktur, Thematik und ihr Verhältnis zu Wozzeck, in: Alban Berg Symposium Wien 1980, Tagungsbericht, hrsg. von Franz Grasberger und Rudolf Stefan. Auch Arnold Schönberg kennen wir als Asthma-Kranken. „Eigentlich ist Arnold Schönberg zweimal gestorben. Das jedenfalls legen seine Berichte über jene körperliche Attacke am 2. August 1946 nahe, die er selbst seinen ‚Todesfall’ nannte. Nach der Einnahme eines neuen Medikaments gegen sein Asthma, schreibt Schönberg, sei er schläfrig geworden, um dann mit einem starken Schmerz in der Brust zu erwachen. Nach halbstündigem Warten sei endlich ein Arzt gekommen und habe ihm eine Spritze gegen die Schmerzen gegeben: ‚Das half sofort; aber nach zehn Minuten verlor ich das Bewusstsein, hatte keinen Herzschlag oder Puls mehr. Mit anderen Worten: ich war praktisch tot.- Es wurde mir nie berichtet, wie lange das dauerte. Das einzige, was mir erzählt wurde, ist, daß Doktor Jones mir eine Spritze direkt ins Herz gab! Was genau passiert ist, scheint nie eindeutig rekonstruiert worden zu sein. Es dauerte Wochen, bis der Einundsiebzigjährige sich einigermaßen wieder erholte. Die schockhafte Erfahrung hat er unmittelbar verkomponiert: Zwischen dem 20. August und dem 23.September entstand das Streichtrio op.45, das, so erzählte Schönberg außer seinen Schülern auch Thomas Mann, alle wesentlichen Eindrücke der Krankheit, von den Einstichen der Injektionen bis hin zu den amerikanischen Krankenpflegern, genau festhielt. Man darf vermuten, daß die verschiedenen, organmedizinisch unerklärlichen Beschwerden unter denen Schönberg verstärkt seit etwa 1944 bis an sein Lebensende 1951 litt, mit den Belastungen des Exils zusammenhingen. Nach einer kurzen Lehrtätigkeit am Malkin Conservatory in Boston war er 1934 nach Los Angeles gezogen, wo er zunächst an der University von Southern California unterrichtete, bevor ab 1936 einen Lehrstuhl an der University of California (UCLA) erhielt. Die Pension, die ihm nach seiner Emeritierung 1944 zustand, errechnete sich nach seinen amerikanischen Dienstjahren und war dementsprechend erbärmlich. Seine Bewerbung um ein Guggenheim-Stipendium wurde abgelehnt, Geldnot, mangelnde öffentliche Anerkennung und das ständige Empfindungsgemisch aus Angst, Bedrohtheit, Sorge und Schuldgefühlen und beim Gedanken an die barbarischen Vorgänge in seiner ehemaligen Heimat zehrten an ihm.(...) Schönberg hat den Anfang der zwanziger Jahre begonnenen Weg der Reihenkomposition konsequent weiterverfolgt und deren Möglichkeiten breit aufgefächert. Dabei entstanden Hauptwerke wie das Violinkonzert (1934 bis 1936), das Vierte Streichquartett (1936) und das Klavierkonzert (1942). Das Wesen dieses Weges beginnt man indes erst seit einigen Jahren in vollem Umfang zu begreifen: seit man nämlich, ausgehend vor allem von den Erkenntnissen der amerikanischen Musiktheoretiker Milton Babbit, Allen Forte und George Perle, begonnen hat, jene Geschichte der Reihenkomposition zu erforschen, die in den Werken selber begründet liegt. Diese unterscheidet sich erheblich vom verbreiteten Bild der Zwölftontechnik, wie man es etwa aus den Standardschriften von Joseph Rufer und René Leibowitz kennt, die über Schönbergs eigene, eher defensive theoretische Äußerungen kaum hinausgehen. Der Komponist lieferte ein auffällig vereinfachtes Bild von der Sache. Er wollte verhindern, daß ein technisches Wissen über seine Musik von ihrer ästhetischen Erfahrung ablenke: daß die 'Erkenntnis, wie es gemacht ist’, an die Stelle dessen, ‚was es ist’ trete. ‚Ich habe das dem Wiesengrund [Adorno] schon wiederholt begreiflich zu machen versucht, und auch dem Berg und dem Webern. Aber sie glauben mir nicht’, klagte er seinem Schwager Rudolf Kolisch. Der Musikwissenschaftler Ethan Haimo hat in einer Verdichtung der amerikanischen Forschung der letzten dreißig Jahre Schönbergs ‚serielle Odyssee’ erstmalig systematisch dargestellt. In zwei wesentlichen Punkten korrigierte er dabei jene Klischeevorstellung von der Reihentechnik, die auch Adornos ‚Philosophie der Neuen Musik’ noch zugrunde lag. Zum einen machte er klar, daß die Werke keiner einfachen Tonreihenfolge- Mechanik gehorchen, welche die individuellen Gestaltungsmöglichkeiten einschränken oder, etwa im Bereich der Harmonik, gar ausschließen würde, wie viele immer noch glauben. Dann entkräftete seine Darstellung auch den Vorwurf, Schönberg habe gleichsam neuen Wein in alte Schläuche gegossen, indem er eine avancierte Satztechnik unter eine vermeintlich konventionelle Oberfläche gepreßt habe.“ Zit. nach: Julia Spinola, Am 13. muß man auf alles gefasst sein. Der Komponist Arnold Schönberg unterwarf das Werk dem Gedanken und das Leben dem Werk, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.Juli 2001, Nummer 161. Ein Zeitgenosse Schönbergs war Nikolaj Roslavets (1881-1944). Die russische Musikavantgarde zwischen 1910 und 1929 ist wieder Entdeckt worden. Man höre: N. Roslavets, Die Klaviertrios [Teldec/Warner Classics & Jazz 8573-82017-2], Gesamtwerk für Cello und Klavier (Chandos/ Koch CHAN 9981), In den Stunden des Neumonds (Vergo/Schott WER 6207-2). Roslavets hat noch vor Schönberg ein musikalisches System zur Überwindung der „Funktionsharmonik“ (Ellen Kohlhaas) gefunden.

  160. Siehe: Marcel Proust, „A la recherche du temps perdu“, dt; „Auf der Suche der verlorenen Zeit“, Frankfurter Ausgabe, hrsg. von Luzius Keller, Frankfurt a. Main 1994, Übersetzung: Eva Rechel –Mertens. Proust schrieb Anfang November 1913 an René Blum: „Ich habe einen Gesamttitel gewählt: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der erste Band (aber es wäre besser nicht der erste Band zu sagen, denn ich tue so, als stelle er für sich allein ein kleines Ganzes dar, wie Die Ulme am Wall in der Zeitgenössischen Geschichte oder Die Entwurzelten in dem Roman der Nationalen Energie [Romanzyklus von Maurice Barrès] heißt In Swanns Welt. Der 2. und der 3. werden auf dem Buchumschlag angekündigt mit dem Titel: 2. Die Welt der Guermantes und 3. Die wiedergefundende Zeit, aber vielleicht werde ich dem zweiten auch den Titel geben Im Schatten junger Mädchenblüte oder Anfälligkeiten des Herzens oder Die ewige Anbetung oder Die erdolchten Tauben; doch es ist unnötig, das alles zu sagen. Es ist ein außerordentlich wirklichkeitsgetreues Buch, das jedoch von einer Gnade, gleichsam einem Blütenstengel von Erinnerungen getragen wird, um das unbewußte Gedächtnis nachzuahmen (das unbewußte Gedächtnis, das für mich, obwohl Bergson diese Unterscheidung nicht trifft, das einzige wirkliche ist; das bewußte Gedächtnis, das Gedächtnis der Intelligenz und der Augen, gaben uns von der Vergangenheit nur ungenaue Faksimilia wieder, die mit ihr keine größere Ähnlichkeit haben, als die Bilder schlechter Maler mit dem Frühling, usw So daß wir das Leben nicht schön finden, weil wir es nicht in die Erinnerung zurückrufen - kaum aber nehmen wir einen Duft von früher wahr, wie sind wir dann plötzlich berauscht!“ In: Marcel Proust, Briefe zum Werk, a. a. O; S. 280, 281. Im November 1912 schrieb Marcel Proust an den Verleger Gaston Gallimard: „Lieber Herr () Falls sie mich herausbringen, müßten wir uns natürlich sehen. Und wenn sie mich nicht verlegen, wird es noch angenehmer sein, wenn wir uns ohne geschäftliche Hintergedanken begegnen. Da ich Ihnen nun schon einen so langen Brief geschrieben habe und das allzu häufige Schreiben mich erschöpft, würde ich Ihnen gerne (zweitesvertraulichesGeständnis ) sagen, was der 2. Band Schockierendes enthält, damit Sie, falls Ihnen das nicht publizierbar erschiene, auf die Lektüre des ersten verzichten könnten. Am Ende des I. Bandes (3. Teil) werden Sie auf eine Monsieur de Fleurus (oder de Guray, ich habe mehrmals die Namen gewechselt) stoßen, von dem als vermutlichen Liebhaber der Madame Swann undeutlich die Rede gewesen ist. Aber wie im Leben, wo der Ruf oft falsch ist und man lange braucht, um die Menschen kennenzulernen, wird man erst im zweiten Band erfahren, daß der alte Herr durchaus nicht der Liebhaber von Madame Swann ist, sodern ein Päderast. Es handelt sich um einen nach meiner Ansicht einigermaßen neuartigen Charakter, den männlichen Päderasten, der in die Männlichkeit verliebt ist und die weibischen jungen Männer verabscheut, im Grunde genommen alle jungen Männer, so wie jene Männer Weiberfeinde sind, die unter den Frauen gelitten haben. Diese Gestalt tritt nur hin und wieder auf inmitten von Partien, deren Interesse auf völlig anderem Gebiete liegt, so daß dieser Band keineswegs als eine Spezialmonographie aufgefaßt werden könnte () Ferner wird jedes peinliche Herausstellen vermieden. Sie dürfen versichert sein, daß der metaphysische und moralische Gesichtspunkt in dem Werk überall vorherrscht. Immerhin aber sieht man, wie der alte Herr einen Concièrge verführt und einen Pianisten aushält. Ich möchte Sie lieber im voraus auf all das aufmerksam machen, was Sie entmutigen könnte.“ In: Marcel Proust, Briefe zum Werk, a. a. O; S.243, 244. Walter Benjamins Lob für Marcel Proust erscheint zwischen dem 21.Juni und dem 5.Juli 1929 in der Literarischen Welt unter dem Titel Zum Bilde Prousts: „Die dreizehn Bände von Marcel ProustsAlarechercheduTempsperdusind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Synthesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Prosaisten, die Verve des Satyrikers, das Wissen des Gelehrten und die Befangenheit des Monomanen (...) zusammentreten [Diese schriftstellerische Leistung] hat ihren Ort im Herzen der Unmöglichkeit, im Zentrum und freilich zugleich im Indifferenzpunkt aller Gefahren (...) Prousts Bild ist der höchste physiognomische Ausdruck, den die unaufhaltsam wachsende Diskrepanz von Poesie und Leben gewinnen konnte (...) Die Hauptrolle spielt nicht, was er erlebt hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit des Eingedenkens. Oder sollte man nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird?“ Zit. nach: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins, Eine Chronik von Willem van Reijen und Herman van Doorn, Frankfurt a. Main 2001, S. 113,114.

  161. Siehe: Zbigniew Herbert, Gewitter Epilog, Frankfurt a. Main 2000. Weiters: Peter Hamm, Den Kopf sanft senken. Letzte Gedichte des großen Danksagers und Lobpreisers Zbigniew Herbert, in: DIE ZEIT, Nr. 43, 19. Oktober 2001.

  162. Anfang November 1915 brach Berg mit bronchialem Asthma und chronischer Bronchitis zusammen. Das Militärärztliche Zeugnis vom 22.Nov. 1916 lautet: „Lungenwände reichen bis überhandbreit unter den Angulus scapulae. Kleinblasiges dichtes Rasseln über der ganzen Lunge. Lungenspitzen etwas gedämpft, das Atemgeräusch dort selbst sehr rau. Herz sehr klein (cfr. Röntgen)“. Siehe: F 22 Berg 427/ 1-3. Im Schuljahr 1895/96 trat Berg nach Ablegung einer Aufnahmeprüfung in die Wiener k. k. Comunal-Oberrealschule in Wien I, Schottenbastei ein. Ein Blick in einige Zeugnisse weist die schöne Handschrift und die labile Gesundheit des Gymnasiasten aus: „I. Klasse: Schönschreiben lobenswert“. „VII. Klasse: Turnen: krankheitshalber befreit.“ „Maturazeugnis vom 8. Juli 1904: Turnen: dispensiert." Siehe: F 21 Berg 423/1-15. In der Oper „Lulu“ schreibt Berg in die Figur des „Schigolch, ein Greis“ (Hoher Charakterbaß) die Atemnot ein.

  163. „Seine Bilder werden weit und breit anerkannt, weil sie von Liebe sprechen. Oft im ausdrücklich sexuellem Sinn, gelegentlich nicht (...) Amedeo Modigliani, ein Mann, der Augen malte, die nichts sehen, geschlossene Augen zumeist, und selbst wenn geöffnet, ohne Iris oder Pupillen, Augen, die gerade durch ihre Abwesenheit sprechen.“ John Berger, Amedeo Modiglianis Alphabet der Liebe, Freibeuter 11, Berlin 1982; Nachdruck in: Der Bettler aus Livorno. Die Gesichter des Amedeo Modigliani, Ausstellungskatalog der Transmedialen Gesellschaft daedalus, hrsg. von Gerhard Fischer, Wien 1985.

  164. Abbildung der Modiglaini-Porträtphotographie siehe: Der Bettler aus Livorno. Die Gesichter des Amedeo Modigliani, in: Die Erfindung der Gegenwart, hrsg. von Gerhard Fischer, Klemens Gruber, Nora Martin u. Werner Rappl, Frankfurt a. Main/Basel 1990, S. 91ff.

  165. In akribische Beschreibungen von Krankheiten dringt Thomas Mann in seinen Romanen: Da ist der Typhus in Buddenbrooks, die Cholera in Tod in Venedig, die Epilepsie in Felix Krull, die Syphilis in Doktor Faustus, und schließlich die Tuberkulose im Zauberberg. Der Roman erschien am 28. November 1924 in zwei Bänden im S. Fischer Verlag. Den „Zauberberg“ muß man bis zur letzten Seite lesen, vorzugsweise an kalten Winterabenden. Bei der Tuberkulose, im Volksmund auch Schwindsucht genannt, handelt es sich um eine chronisch-endemische Infektionskrankheit. Sie wird durch mikroskopisch kleine Erreger (Mikrobakterien) ausgelöst, die Robert Koch 1882 entdeckte. Der infizierte Kranke leidet unter Atemnot und Bluthusten, weil die tuberkulöse Entzündung das Gewebe zu zerstören pflegt, kam es nicht selten vor, daß die Keime über die Blutbahn im ganzen Organismus verstreut wurden: Erkrankungen der Knochen, des Gehirns, der Niere, des Darms und des Kehlkopf waren die Folge. Die Tuberkulose galt lange als unheilbar. Erst um 1856 wurde die Ansicht laut, daß sie in den ersten Krankheitsstadien heilbar sei, wenn sich die Kranken einer bestimmten Diät, besonderen klimatischen Verhältnissen und größter körperlicher Schonung überließen. Zahlreiche Sanatorien warben in den 20er Jahren mit blumigen Anzeigen und Prospekten: „Erstklassiges Haus in schönster, ruhiger Waldlage direkt an der Hohen Promenade. Ausgezeichnete Heilerfolge bei Asthma und Bronchitis sowie bei sämtlichen Erkrankungen der Atmungsorgane.“ Im Kur-Leben spielt die tägliche, mehrmalige Körpertemperaturmessung eine entscheidende Rolle, die Resultate werden in eine Fiebertabelle eingetragen. Im Zauberberg findet sich die unvergeßliche Stelle, wo „Hans Castorp“ sechsmal am Tage Messungen vornimmt. Castorp kommt mit dem Thermometer - als dessen Erfinder Hermes Trismegistos genannt wird - erstmals in Kontakt als der Mitpatient Joachim Ziemssen seine Temperatur mißt: „Er hatte aus einem rotledernen, mit Samt gefütterten Etui, das auf seinem Tische lag, ein kleines Thermometer genommen und das untere, mit Quecksilber gefüllte Ende in den Mund gesteckt. Links unter der Zunge hielt er es, so, daß ihm das gläserne Instrument schräg aufwärts aus dem Munde hervorragte.“ Die Schwester Oberin setzt eine solche „Quecksilberzigarre“ auch bei Castorp ab: „Sie kramte (...) in ihrer Tasche, um zwei längliche Lederetuis zum Vorschein zu bringen, ein schwarzes und ein rotes, die sie (...) auf den Tisch legte. ‚Dieser hier kostet drei Franken fünfzig und der hier fünf Franken. Besser fahren Sie natürlich mit dem zu fünf. Da ist etwas fürs Leben, wenn Sie ordentlich damit umgehen.’ Er nahm lächelnd das rote Etui vom Tisch und öffnete es. Schmuck wie ein Geschmeide lag das gläserne Gerät in die genau nach seiner Figur ausgesparte Vertiefung der roten Samtpolsterung gebettet. Die ganzen Grade waren mit roten, die Zehntelgrade mit schwarzen Strichen markiert. Die Bezifferung war rot, der untere, verjüngte Teil mit spiegelig glänzendem Quecksilber gefüllt. Die Säule stand tief und kühl, weit unter dem Normalgrade tierischer Wärme.“ Hans Castorp „nahm das zierliche Gerät aus dem Futteral, betrachtete es und ging dann mehrmals in Unruhe durch das Zimmer.“ Dann führte er „rasch das Thermometer in den Mund, die Quecksilberspitze unter der Zunge, so dass das Instrument im schräg aufwärts zwischen den Lippen hervorragte, die er fest darum schloß, um keine Außenluft zuzulassen.“ Nach einer festgelegten Zeit nahm er das Thermometer aus dem Mund und starrte „mit verwirrten Augen darauf nieder. Er ward nicht unmittelbar klug aus seiner Angabe, der Glanz des Quecksilbers fiel mit dem Lichtreflex des flachrunden Glasmantel zusammen, die Säule schien bald ganz hoch oben zu stehen, bald überhaupt nicht vorhanden zu sein, er führte das Instrument nahe vor die Augen, drehte es hin und her und erkannte nichts. Endlich, nach einer glücklichen Wendung, wurde das Bild ihm deutlich, er hielt es fest und bearbeitete es hastig mit dem Verstande." Siehe: Thomas Sprecher, Davos im Zauberberg. Thomas Manns Roman und sein Schauplatz, München 1986. Weiters: Hans Scherer, „Die achtundzwanzig Fischsaucen der Frau Stöhr. Ein Leser-Symposion über den ‚Zauberberg’“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 197, 25. Aug. 1994.

  166. Siehe Berg an Soma Morgenstern „Trahütten, 28. 7. 28“, in: S. Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 211.

  167. Siehe: Florent Fels, Modigliani, in: Der Querschnitt, Berlin Juli 1926.

  168. Zu Modiglianis Karyatidenzeichnungen und Skulpturen siehe: Modigliani gli anni della scultura, Arnoldo Mondadori Editore, Venezie di Vicenza 1984.

  169. Siehe: Gotthard Jedlicka, Paul Guillaume erzählt von Modigliani, in: Neue Zürcher Zeitung, 25. 6. 1931.

  170. Siehe auch den Brief vom „4. Dez. 1929“ [Berg an Hanna am 4. Dez. 1929]: „Im Mai sind’s fünf Jahre! (...) nichts ist mehr geblieben als - - -meine Liebe (denn kann ich überhaupt noch sagen unsere Liebe???—) Ihr kleines Denkmal, die Lyrische Suite erklingt morgen in Prag.“

  171. Siehe Note 91: F21 Berg 23/I.

  172. „Natürlich: 23. 10.“ [Berg an Hanna am 23. Okt. 1926].

  173. Siehe: Ulrich Weinzierl, Jede Nacht ein tiefrer Abgrund. Abschiedsreigen: Arthur Schnitzlers späte Tagebücher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.42, 19. Februar 1998.

  174. Siehe: Alexander Kosenina, Werbung um Freunde jenseits des Grabes. Das innere Auge weit geschlossen: Eine Ausstellung im Berliner Literaturhaus gewährt Einblicke in Arthur Schnitzlers Tagebücher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 154, 6.Juli 2001. Siehe den Begleitband zur Ausstellung: „Marbacher Magazin“ 93.

  175. Siehe Brief vom 24. Juli 1909 an Helene Berg, in: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 86.

  176. Siehe: F21 Berg 3270 - Briefe und Karten A. Bergs an A. Webern. Maschinschriftliche Abschrift von Josef Polnauer. Über den Schriftzug Weberns schreibt Berg am 14. 8. 1931: „Wie liebe ich Deine an allen Ecken u. Enden beschriebenen Briefbögen. Keine Maschine der Welt wird mir das ersetzen.“

  177. Erich Kleiber dirigierte die Oper Wozzeck in Berlin im Jahre 1925. Unter der Regie von Franz Ludwig Hörth und in Bühnenbildern von P. Aravantinos liefen 137 Proben ab. Leo Schützendorf gab die Rolle des Wozzeck, Marie Johannson sang die Marie und Fritz Soot den Tambourmajor.

  178. Angesprochen werden die Wozzeck- Aufführungen. 66 Stunden lang ist die Zugreise nach Leningrad, wo am 11. Juni 1927 eine „geschlossene Arbeitervereins-Vorführung“ der Oper und am 12. Juni die „öffentliche Generalprobe“ stattfinden wird. Am 17. Juni 1927 kommt Berg um 11 Uhr 25 wieder in Wien mit der "Nordbahn" an.

  179. Bergs Mutter stirbt am 19. Dezember 1926.

  180. Zur Zystenoperation Helene Bergs siehe Note 421.

  181. Zu erinnern ist hier an die schöne Studie André Gides über Dostojewski, die in mancher Hinsicht ein Selbstporträt ist. Gustav Mahler ermunterte Schönberg und seinen Schwarm-Kreis zur Dostojewski-Lektüre. Berg schenkt seiner Frau Dostojewski-Briefe. Betrachtet man die Photographie von Dora Diamant – zu sehen z. B. auf S. 184 in dem Band „Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben“, hrsg. von Klaus Wagenbach, Berlin 1983 – so wird die Dostojewski- Anspielung Kafkas deutlich.

  182. Franz Kafka begann mit dem Roman „Das Schloß“ 1922. Siehe: Franz Kafka, Das Schloß. Gesammelte Werke, Band III, hrsg. von Max Brod, Frankfurt a. Main 1976. Am 14. Mai 1925 schenkt Alban Berg seiner Frau den Roman Kafkas: „Hier, mein Pferscherl, ‚Das Schloß‘ von Franz Kafka. Ein anderes kann ich Dir ja doch nicht kaufen.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 535. Im August 1928 schreibt Berg an Morgenstern: „Hast Du Bücher (...), also moderne Romane, die Du mir leihen kannst? Es ist auch kein Malheur, wenn sie spannend – ja nur spannend sind. Gerade in Zeiten angestrengter Arbeit, brauch ich solche zeitweise Ablenkung, um auszuspannen (...) Hast Du noch Kafkas: Amerika?“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 211.

  183. Dem Leben und Sterben der Dora Diamant, der letzten Geliebten Franz Kafkas, widmete sich Kathi Diamant, eine amerikanische Journalistin und Mitarbeiterin der Universität San Diego. Das Interesse an Dora Diamant ist durch die Namensverwandtschaft geweckt worden. Die Spur führte nach London, wo Dora Diamant im Alter von 53 Jahren verstorben ist.

  184. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Milena, hrsg. von Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt a. Main 1986, M 37.

  185. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Felice, hrsg. von Erich Heller und Jügen Born, Frankfurt a. Main 1976.

  186. Grete Bloch war eine Freundin von Felice Bauer und sie machte die Bekanntschaft mit Kafka im Jahre 1913. Kafka schreibt am Roman Der Heizer.

  187. „Liebste, wie ich aus Deinem Brief mein Leben sauge, das kannst Du Dir nicht vorstellen.“ In: Franz Kafka, Briefe an Felice, a. a. O; FB 406.

  188. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Milena, a. a. O; M 37. Vgl. das Gedicht Ingeborg Bachmanns Was wahr ist. Die dritte von sechs Strophen lautet: „Was wahr ist, zieht der Erde einen Scheitel, / kämmt Traum und Kranz und die Bestellung aus, / es schwillt sein Kamm und voll gerauften Früchten / schlägt es in dich und trinkt dich gänzlich aus.“ Das Bild vom ausgetrunkenen Menschen erinnert an Bachmanns Freund Paul Celan: „An den langen Tischen der Zeit / Zechen die Krüge Gottes. / Sie trinken die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden / (...) / sie führen das Leere zum Mund wie das Volle / und schäumen nicht über wie du und ich.“

  189. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Felice, a. a. O; FB 267.

  190. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Felice, a. a. O; FB 264.

  191. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Milena, a. a. O; M 313.

  192. Siehe: Franz Kafka, Briefe an Felice, a. a. O; FB 477.

  193. „Nichts weist in dem unspektakulären Straßendorf [in Kierling] darauf hin, daß dort einer der Großen der Weltliteratur seine letzten Tage verbrachte. Auf den ersten Blick ist auch der graue Gründerzeitbau am Ortsrand ein gewöhnliches Wohnhaus. Ursprünglich befand sich darin ein billiges Privatsanatorium, besser gesagt: eine Sterbeklinik. Als Franz Kafka am 19. April 1924 eintraf, blieben im noch 46 Tage. Seine Lebensgefährtin Dora Diamant begleitete ihn und der Freund Robert Klopstock. In der zweiten Etage, wo sie Zimmer bezogen, gibt es auf dem Flur noch das alte Waschbecken, die Balkontür steht offen, im Park wächst jetzt Gemüse. Franz Kafka saß oft auf der Veranda, genügsam, bescheiden, keine 46 Kilo zum Schluß. Still ist es im kümmerlich ausstaffierten Gedenkraum, kein weiterer Besucher stört die Ruhe: verwaschene Jugendstilgardinen, an den Wänder Photos der drei Freunde, darunter das letzte Porträt Kafkas, mit diesen großen scheuen Augen, die man nicht vergißt. In einer Vitrine abgegriffene Bücher: ‚Der Prozeß‘, ‚Das Schloß‘, ‚Amerika‘. Daneben ein Faksimile des letzten Briefs, geschrieben wenige Stunden vor dem Ende. Er rät den Eltern von einem Besuch ab, weil er ‚noch immer nicht sehr schön, gar nicht sehenswert‘ sei. ‚Sollen wir es nicht also vorläufig bleiben lassen, meine lieben Eltern?‘“ Zit. nach: Rudolf Maria Bergmann, Kulturgeschichten aus dem Wienerwald, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Okt. 2001, Nr. 242.

  194. Franz Kafkas wuselndes Auf und Ab der Schriftbewegung, das „Reiten auf einer Feder“ (Gustav Flaubert) ist in den „Gesprächsblättern“ zu sehen - unvergeßlich bleibt die Zeile: „Wie wunderbar das ist, nicht? Der Flieder-sterbend trinkt er, sauft er noch. Das gibt es nicht, daß ein Strebender trinkt“. Zu den „Gesprächsblättern“ bemerkte Max Brod der Nachlaßverwalter Kafkas: „Während der schrecklichen qualvollen Todeskrankheit (Kehlkopftuberkulose) hatte man Kafka im Sanatorium Kierling empfohlen, nicht zu sprechen. Er hielt sich wie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, streng an die Weisung. Mit Dora Diamant (Dymant) und Robert Klopstock, dem Medizinkandidaten, die ihn in hingebungsvoller Freundschaft bis zum letzten Augenblick pflegten, sowie auch mit dem Personal verständigte er sich meist durch Notizen auf Zetteln. Oft waren diese Notizen nur Andeutungen, die Freunde errieten den Rest. Aus den im Besitz von Dr. Robert Klopstock (New York) befindlichen Originalen wird im folgenden eine kleine Auswahl veröffentlicht. Sehr vieles, was sich auf körperliche Zustände des Kranken bezieht, ist weggelassen.“ Die „Gesprächsblätter” sind abgedruckt in: Franz Kafka, Gesammelte Werke, Briefe 1902-1924, hrsg. von Max Brod, New York 1958, S. 485ff. Mein Interesse für die Auslassungen führte mich zu Hans Gerd Koch (Gesamthochschule Wuppertal), der mir telephonisch mitteilte, daß sich der ungekürzte Autograph Kafkas in Händen der Erbin von Max Brod befindet und nicht einsehbar ist. Zu Kafkas Kunstprosa, Tagebüchern und Briefen siehe: Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. Main 1976. Weiters: Maurice Blanchot, Von Kafka zu Kafka, Frankfurt a. Main 1993. Kafka wird bei Blanchot als ein Schriftsteller vorgeführt, der für das Schreiben alles opferte – die Liebe, das Glück, sogar die „Literatur“, vor allem jedoch sich selbst - und darüber hinaus, um das Opfer vollkommen, nämlich vollkommen sinnlos zu machen – einen Großteil seiner Texte zur Vernichtung bestimmte. Kafkas testamentarische Verfügung, den Nachlaß zu vernichten, ist Max Brod nicht gefolgt.

  195. Erwin Stein (1895-1985), Dirigent und Musikschriftsteller, war ein Schüler Arnold Schönbergs. Schriften: „Alban Berg und Anton Webern“, London 1922; „Einige Bemerkungen zu Schönbergs Zwölftonreihen“, Wien 1926.

  196. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477.

  197. Im Frühjahr 1910 arbeitet Berg an der Fertigstellung des Streichquartettes, op. 3; die Uraufführung erfolgte am 24. April 1911 in Wien. Die Komposition gilt als Abschlußwerk von Bergs Studienzeit bei Schönberg. Am 4. Oktober 1924 wurde op.3 im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien aufgeführt. Siehe: F21 Berg 3135.

  198. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Eintragung Bergs mit roter Tinte am Ende der Einleitung von Erwin Stein.

  199. Berg las die Schriften von Sigmund Freuds Schüler Wilhelm Fließ. Siehe: Vom Leben und vom Tod, Biologische Vorträge 1909 (Jena 1914). Der Berliner Psychoanalytiker vertrat die Ansicht, daß das Leben von Frau und Mann von Geburt an in periodischen Zyklen verlaufe und dabei von den Zahlen 28 und 23 bzw. deren Vielfachen bestimmt werde. In einem Brief an Arnold Schönberg, am 15. Juni 1914 weist Berg auch auf seine Schicksalszahl „23“ hin (siehe: F21 Berg 480/399) und in einem Brief an Hanna Fuchs-Robettin äußert er am 4. Dez. 1929: "Im Februar trete ich in mein 46. Lebensjahr. 46 das ist: zweimal 23! Ich spüre, mehr als das: nun wird sich’s entscheiden" Die Zahl 23 läßt sich in der rhythmischen Struktur des Kammerkonzertes für Klavier und Geige mit 13 Bläsern, in der „Lyrischen Suite“ und in der „Weinarie“ wiederholt nachweisen.

  200. Willi Reich, Kritiker und Musikschriftsteller (1898-1980), Bergs Freund und Schüler war auch ein Dokumentarist seines Lebens und Schaffens. Reich redigierte die Wiener Musikzeitschrift 23, die in den Jahren 1932-1937 erschien, beim Anschluß Österreichs an Hitler-Deutschland flüchtete Reich in die Schweiz. Schriften: Alban Berg, Berlin 1930; Alban Berg (mit Schriften von Berg und Beiträgen von Th. W. Adorno und Ernst Krenek), Wien/Leipzig/Zürich 1937.

  201. „Am 13. September 1874 wurde Arnold Schönberg geboren, am 13. Juli 1951 ist er gestorben. Zahlreich sind die Berichte über die Unglückszahl 13, vor der er sich ein Leben lang gefürchtet hat. Auch Alban Berg starb an einem Tag, der jene 23, die er als ‚Schicksalszahl’ empfand, im Datum trug. Vielleicht steckt im Zahlenmystizismus der Wiener Schule ja doch mehr als bloß banaler Aberglaube: Vielleicht drückt sich in ihm die déformation professionelle des autonomen Künstlers aus, für den das Aufspüren und Entschlüsseln geheimer Gesetzlichkeiten zur zweiten Natur geworden ist.“ Zit. nach: Julia Spinola, Am 13. muß man auf alles gefaßt sein. Der Komponist Arnold Schönberg unterwarf das Werk dem Gedanken und das Leben dem Werk, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.161, 14. Juli 2001. Herbert Fuchs-Robettin schreibt im Oktober 1925 an Alban Berg: „Prag, 26.Okt. 1925. Mein lieber Herr Alban Berg, ihre Zahlenmystik, lieber Herr Berg, ist zwar auf einem anderen System gebaut als meine, es wird sie aber interessieren, daß auch letztere recht merkwürdige Zusammenhänge aufreißt. Die Schicksalszahl meines seligen Vaters- als solche ihm gut bewusst- war die 13. Nun starb er genau am 13.Tag des 13. Monats nach meiner seel. Mama! [gezeichnet] Hanna Fuchs/ Herbert Fuchs Robettin.“ Siehe: F 21 Berg 751/3.

  202. „23. 5. 25 Liebwerter Herr Fuchs-Robettin, verehrte gnädige Frau.“ Berg an Herbert und Hanna Fuchs-Robettin am 23. Mai 1925.

  203. „Das mit ’29. 9. 1925‘ datierte Skizzenheft (F 21 Berg 76/I) enthält Themenentwürfe, die Satzeinteilung, die rhythmischen Proportionen, die durch ihre Zahlensymbolik die Taktzahl und das Programm der Musik bestimmen. Ferner hat Berg ein rhythmisches ‚Pulsmotiv‘ für das Ostinato des 5. Satzes entworfen, das sich aus der Kombination der Ziffer 5 (die Zahl von Hanna Fuchs) und 23 (die Zahl Bergs) ergibt und sowohl die Taktart als auch die Abschnitte des Satzes bestimmt. Berg gibt in diesem Satz die Rhythmuselemente mit ‚5er Rhythmus auf 8tel = 5 Takte, auf 4tel = 10 Takte, auf ganze Takte 15‘ an. Die rhythmische Einheit ( (...) = 5, 1 : 1; (...) = 10, 1 : 2; (...) = 15 Takte, 1 : 3) wird damit zum kleinsten Element der Komposition.“ Zit. nach: Alban Berg. 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, a. a. O; S. 82.

  204. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna, ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925]. Über die mysteriöse Entsprechung der Zahlen und Daten bei Alban Berg wären die Surrealisten entzückt gewesen: „(...) charakteristisch ist Bergs Besessenheit in Bezug auf Zahlensymbolik: Schon im Wozzeck, und wieder in der Lyrischen Suite, wo die 23 – seine Schicksalszahl seit er an diesem Tage des Monats den ersten Asthmaanfall erlitten hatte- und die 10, die er mit Hanna identifizierte (die Zahl der Buchstaben ihres Namens?)- eine wesentliche Rolle spielen. Ebenso wie im Kammerkonzert die Ziffern 3,5 und 15 das Trio der Freunde, die 5 Jahrzehnte des Meisters, und die Besetzung in des letzteren Kammersymphonie versinnbildlichen (allerdings nur, wenn der Dirigent nicht mitgezählt wird). Bergs numerologische Geheimniskrämerei, die sich übrigens auch auf seine Metronomangaben erstreckt, ist einer Denkweise verwandt, die, wie wir gesehen haben, wesentlich weiter zurückliegt als Romantik und Barock, und dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für gewisse Aspekte seiner dodekaphonischen Verfahrensweisen. Sein anfängliches Zögern, bevor er sich dem Zwölftonsystem ergab, ist wohlbekannt; aber sicherlich war es nicht bloß der Wunsch, seine Loyalität dem verehrten Lehrer gegenüber mit dem Streben nach kompositorischer- und besonders harmonischer- Freiheit in Einklang zu bringen, wenn er zwar in Lulu verschiedene Reihen verwendete, aber dennoch an deren Identität mit der Grundreihe glaubte, weil er sie aus dieser dadurch entwickelt hatte, daß er ihre jeweils fünfte oder siebente Note aneinanderreihte, oder erst eine, dann zwei, dann drei Noten ausließ und dann wieder drei, zwei und eine. Wenn man eine so abgeleitete Reihe mit dem Original vergleicht, kann es kaum einen Zweifel geben, daß Berg so wie auch der Hörer selbst, die Ableitung als einen durchaus der Vergangenheit Angehörigen, in der Gegenwart nicht wahrnehmbaren Akt verstanden haben muß. Berg zum Unterschied von Schönberg und Webern, teilt mit den Komponisten der frühen Renaissance eine Mentalität, die ganz in Vergessenheit geraten ist und derzufolge gewisse Aspekte eines Kunstwerks nicht weniger wertvoll werden, daß sie eine geheime, abstrakte Existenz führen. Nur handelt es sich diesmal nicht um allgemein gültige, religiöse oder philosophische Ideologien, sondern um die psychologische Eigenart eines Individuums.“ Peter Stadlen, Berg’s Cryptography, in: Alban Berg Studien. Alban Berg Symposium Wien 1980, a. a. O; S. 171ff. Siehe weiters: Alban Berg und die Zahlen, Studia Musicologica Academiae Scientiorium Hungaricae 9, 1967.

  205. Siehe: Derek Jarman, Chroma. Ein Buch der Farben, Berlin 1995, S. 183.

  206. Siehe: Albrecht Dürer, Melencolia I., Kupferstich, 1514. „Die tief in sich versunkene geflügelte Melancholie sitzt, den Kopf auf die Linke gestützt, einen Zirkel in der Rechten, inmitten technischer und mathematischer Geräte und Symbole; vor ihr liegt eine Kugel. Zirkel und Kreis (und also auch die Kugel) sind nach der alten Übersetzung des Ficino das Denksymbol der Melancholie. (...) Bei Dürer wird also der Saturndämon unschädlich gemacht durch denkende Eigentätigkeit der angestrahlten Kreatur; das Planetenkind versucht sich durch eigene kontemplierende Tätigkeit dem mit der ‚unedelst complex‘ drohenden Fluch des dämonischen Gestirns zu entziehen. Der Zirkel des Genies, kein niedriges Grabscheit.“ Aby Warburg, Gesammelte Schriften (1932), Neudruck, hrsg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998, S. 523ff. Siehe weiter: Peter-Klaus Schuster, Melencolia I, Dürers Denkbild, 2 Bde; Berlin 1991; Raymond Klibansky, Erwin Panofsky u, Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. Main 1990. Die „Melencolia I“. von Albrecht Dürer wurzelt, Aby Warburg zufolge, „tief im ‚Urmutterboden heidnisch-kosmologischer [Stern] Gläubigkeit.“ (...) Nach Warburg war die „Melancolia I“. als ein Trostblatt gegen Saturnfürchtigkeit (...) Maximilians‘ gedacht. (Brief Warburgs 1916, in: Warburg-Archiv, London) Der Ausgangspunkt für seine Interpretation der Dürer’schen Melancholie war von Giehlows Deutung dieses Kupferstiches angeregt worden. Im Gegensatz zu ihm sieht Warburg jedoch das Zahlenquadrat auf dem Melancholiestich nicht als ein Symbol für die geniale Erfindungskraft des saturnischen Melancholikers, sondern als magisches Zahlenquadrat des Jupiter, das als Hilfsmittel gegen den schädlichen Einfluß des Saturn dienen sollte. Hierfür gibt Warburg in seiner 1920 veröffentlichten Arbeit 'Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten' das arabische Buch 'Picatrix' als Nachweis an.“ In: Aby Warburg, Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde, Katalog zur Ausstellung Aby Warburg. Mnemosyyne (25. 1. 1993-13. 3. 1993, Akademie der bildenden Künste, Wien), Herausgeber des Kataloges: Uwe Fleckner, Robert Galitz, Claudia Naber und Herwart Nöldeke, Hamburg 1993, S. 287, 288. Konzept und Organisation der Warburg- Ausstellung: Transmediale GesellschaftdaedalusWien.

  207. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Bergs Eintragung mit roter Tinte gegenüber Seite 1.

  208. „7. 6. im Zug“ [Berg an Hanna am 7. Juni 1928].

  209. Derek Jarman, 1942 in Dover geboren, 1994 in London gestorben. Maler, Dichter und Filmemacher. Filme: „Sebastiane“ (1975), „The Tempest“ (1979), „Caravaggio“ (1986), „War Requiem“ (1988), „The Garden“ (1990), „Wittgenstein“ (1992), „Blue“ (1993). Bücher: „Modern Nature“ (1991), „At Your Own Risk“ (1992), „Blue“ (1993), „Derek Jarman’s Garden“ (1995).

  210. Eine Theorie der Handschriftendeutung entwickeln Klages und Mendelssohn. 1930 erscheint in Leipzig das Buch von Anja und Georg Mendelssohn, „Der Mensch in der Handschrift“, darin heißt es „daß unsere Buchstabenschrift aus einerBilderschriftentstanden ist. Alle unsere Buchstaben waren Bilder, und bei einigen von ihnen ist das zugrunde liegende Bild auch noch ohne weiteres erkennbar (...) Die Buchstaben stehen seit einem gewissen Punkt ihrer Entwicklung (...) auf der Zeile, wie ihre Urbilder, Menschen, Tiere und Dinge, auf dem Erdboden standen. Man darf sich durch die Tatsache der unter die Erdoberfläche stoßenden Unterlängen nicht davon abhalten lassen, die Beineaufder Zeile zu suchen, wenn man sich Buchstaben in körperliche Darstellungen zurückverwandelt. Auf gleicher Höhe, daneben, können in anderen Buchstaben Kopf, Auge, Mund, Hand stehen, ebenso wie in der frühen Kinderzeichnung, die eine Zusammenordnung und Proportionierung von Körperteilen noch nicht kennt.“ Der Thurgauer Meister Peter Flötner schuf um 1535 ein „Menschenalphabet“ – einzelne Figuren, dann wieder Körperteile oder mehrere Leiber bilden die anthropomorphen Buchstaben: die Buchstaben sind nicht bloß Träger semantischer Bedeutung. In der Klassik verliert sich das Interesse am Menschenbuchstaben, im 19. Jahrhundert wird der Buchstabe wieder als visuelles Medium gefeiert. Siehe: Joseph Kiermeier-Debre, Fritz Franz Vogel, Menschenalphabete. Nackte Models. Wilde Typen. Modische Charaktere, Marburg 2001. Weiters: Erte. Das Druckgraphische Werk, hrsg. von Marshall Lee, New York 1982, dt. Frankfurt a. Main 1983, auf Seite 76-101 ist Ertés ABC zu sehen.

  211. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Bergs Eintragung mit roter Tinte auf Seite 11, Beginn des II. Satzes, „Andante amoroso“ – „amoroso“ ist rot unterstrichen.

  212. Die früheste Komposition op.1 widmete Berg seiner Mutter: „Mein erster Walzer op.1. Meiner lieben Mama gewidmet“, siehe: F21 Berg 1. Siehe auch die Porträtphotographie, die mit schwarzer Tinte überschrieben ist: „Meiner lieben guten Mutter von ihrem dankbaren Sohn“: F21 Berg 3389. Siehe weiter die drei mit Bleistift beschriebene Blätter, 20. Juni 1925 „Dir zu lieb, liebste Mama, will ich alles tun.“

  213. Um an Hannas Seite sein zu können, wünscht sich Berg eine Zusammenkunft in Kamnitz herbei. Siehe: „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. Und vor dem 23. Juli 1925].

  214. Über die Ausstellung „Raphaël: Grâce et beauté“ im Musée du Louxembourg, Paris im Winter 2001 berichtet Wilfrid Wiegand: „Das Schlußbild der Ausstellung ist die Fornarina, das Portrait der schönen Bäckersfrau, die Raffaels letzte Geliebte war. Mit nacktem Oberkörper, die Hand vor der Brust, sieht sie uns mit weit geöffneten dunklen Augen an, eine antike Statue aus Fleisch und Blut. Mehr als jede andere Gestalt Raffaels, ist die Fornarina zur Legende geworden. Schließlich wurde schon zu seinen Lebzeiten herumerzählt, wie ausschweifend er lebte, weil das sexuelle Glück ihm als Stimulans seiner harmonisch entspannten Kunst unentbehrlich war. Die Fornarina war seine Komplizin, und die Verehrer Raffaels haben ihr Porträt vermutlich mit Gefühlen der Dankbarkeit betrachtet, als wäre es ein Denkmal. Schließlich hatte sie mitgeholfen, den göttergleich Hochbegabten in jene Stimmung zu versetzen, die ihn zur Kunst überhaupt erst fähig machte.“ Zit. nach: Wilfrid Wiegand, Er hat die Mona Lisa sofort verstanden, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Oktober 2001, Nr. 242.

  215. Das Haar ist für Berg Fetisch-Objekt par excellence, die Haare der Kinder Hannas, das Haarschneiden, das wellenartige Haar von Hanna Fuchs und das im Sonnenlicht glänzende Haar Helenes beglücken den Komponisten. Charles Baudelaire hat eine (unübersetzbare) Haarphantasie mit dem Titel „La chevelure“ („Das Haar“) geschrieben. Baudelaire betont die animalisch-mythische Dimension des Haupt- und Schamhaares. Siehe: Inge Stephan, Das Haar der Frau. Motiv des Begehrens, Verschlingens und der Rettung, in: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, hrsg. von Claudia Benthien und Christoph Wulf, Reinbek bei Hamburg 2001.

  216. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  217. „Welch‘ eine Nacht!“ [Berg an Hanna ohne Datum, 6./7. November 1926].

  218. „16. Nov. 26 im Zug von Prag nach Pilsen“ [Berg an Hanna am 16. Nov. 1926].

  219. „Lieber berümter Komponist und Tante Helene. Ich danke vielmals für das wunderbare Geschenk. Uns freut es sehr und wir werden oft damit spielen. 1000 Grüsse schickt Euch Munzo“. Hannas Sohn Frantisek, genannt „Munzo“, sieben Jahre alt, schrieb diese Zeilen mit schwarzer Tinte eigenhändig an Alban Berg. Im selben Brief heißt es weiter: „Liebe Tante Helene und berühmter Komponist. Danke für die schönen Spielsachen. Ich schicke Dir viele Grüße und Bussis. Danke! Danke für die schöne Trompete und das schöne Windrad. Bitte kommt bald zu uns. Mir geht es wunderbar gut. Liebe Tante Helene, die Hunde lassen Dich vielmals grüßen und Bussis schicken sie Dir. Ich weiß nichts mehr. Grüße und Bussis von Eurer Dodo.“ Dorothea, gerufen „Dodo“, ist die vierjährige Tochter von Hanna Fuchs Robettin. Der Brief ist mit Kindergekritzel unterzeichnet, die Gouvernante ergänzt: „Dodo diktierte oberen Brief ganz allein. Mit ‚Windrad’ meint sie die Ratsche. Handküsse und Grüße erlaubt sich zu senden.“ Siehe: F 21 Berg 753/5. Dem Brief ist ein Babyphoto beigelegt.

  220. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna, ohne Datum geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  221. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna, ohne Datum geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  222. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna, ohne Datum geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  223. „11.7.25“ [Berg an Hanna am 11. Juli 1925].

  224. Wie Note 223. Die vier Photographien, die Herbert und Hanna Fuchs-Robettin mit den Kindern Dorothea und Frantisek zeigen, befinden sich in Privatbesitz (Oberösterreich). Bergs Vorliebe für Photoalben insbesondere für Kinderphotos siehe den Brief an Helene Berg vom 11. April 1923: „Von Mödling heimgekehrt, ging ich direkt zu Deinen Eltern. Mama freute sich und zeigte mir alle ihre Bilder und Albums. An Pferschis [einer unter vielen Kosenamen für Helene B.] Kinderbildern delektierte ich mich. So unendlich, unsagbar lieb. ‚Zum Fressen‘. Die Bilder muß ich haben.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 508. 509.

  225. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  226. „16. Nov. 26 im Zug von Prag nach Pilsen“ [Berg an Hanna am 16. November 1926].

  227. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Seite 25.

  228. Die Autographen-Sammlung der Musiksammlung der Öst. Nationalbibliothek führt Eintragungsblätter, in der Name des Benützers und der Grund der Forschung aufgenommen werden. Die Eintragungen zur Widmungspartitur sind so spärlich - das kostbare Notenstück ist der Öffentlichkeit weithin unbekannt geblieben.

  229. „Natürlich: 23. 10“ [Berg an Hanna am 23. Oktober 1926].

  230. Siehe: Giovanni Segantini, „Le cattive madri“ (Böse Mütter, 1894). Im Jahre 1898 erwarb die Wiener Secession das Gemälde anläßlich einer Ausstellung mit 29 Werken Segantinis. Im selben Jahr veröffentlichte die Zeitschrift der Wiener Secession „Ver Sacrum“ Segantinis „Betrachtungen über die Kunst“, als Antwort auf eine Umfrage, die von europäischen Künstlerkreisen durch die von Leo Tolstoi in einem Artikel im „Le Figaro“ an die Künstler gerichtete Frage „Was ist die Kunst?" ausgelöst wird. Insgesamt führte Segantini sechs Werke zu dem Thema „Böse Mütter“ aus: 2 Ölbilder (eines 1892, heute Liverpool, ein zweites im Jahre 1894, heute Wien, Öster. Galerie) und ihnen entsprechend je 2 Sgraffiti und 2 Zeichnungen. Die Bestimmung der Frau in Segantinis Augen war die Mutterschaft. In seinen in „Ver Sacrum“ publizierten Brief-Essay (1898) äußerte der Maler zu dieser Serie raunend: „(...) als ich die schlechten Mütter strafen wollte und die eitlen und unfruchtbaren Wollüstigen, malte ich, die Strafe im Fegefeuer.“ Siehe: Annie-Paule Quinsac, Die Mutter, der Tod und die katholische Tradition im Werk von Giovanni Segantini, in: Giovanni Segantini. 1858-1899, Ausstellungskatalog Kunsthaus Zürich, 9. Nov. 1990 bis 3. Feb. 1991, S. 47ff.

  231. Baudelaires „Les Fleurs du Mal“ sollten ursprünglich „Les Lesbiennes“ heißen. Der Gedichtband enthielt u. a. die beiden sittenwidrigen Gedichte LXXX und LXXXI mit den Überschriften „Lesbos“ und „Les Femmes damnées“, die bis „in die allerintimsten Einzelheiten das Treiben der Tribaden“ schildern, wie der Staatsanwalt, „Herr Pinard“, ausführte: „Ein Buch vor Gericht zu ziehen, weil es gegen die öffentliche Moral verstößt, ist stets eine heikle Angelegenheit. Führt das Verfahren zu keiner Verurteilung, so bereitet man dem Verfasser einen Erfolg, ja fast ein Piedestal; er triumphiert und man hat ihm gegenüber den Schein des Verfolgers auf sich genommen.“ Siehe: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke / Briefe, Band 4, hrsg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois, München 1975, S. 171ff. „Segantinis ‚Schlechte Mütter’ als Jugendstilmotiv den Lesbiennes eng verwandt. Die Lasterhafte erhält sich rein von Fruchtbarkeit, wie der Priester sich von ihr rein erhält. In der Tat beschreibt der Jugendstil zwei unterschiedene Linien, die der Perversion führt von Baudelaire zu Wilde und Beardsley; die hieratische über Mallarmé zu George. Kräftiger endlich zeichnet sich eine dritte Linie ab, die einzige, die stellenweise aus dem Bezirke der Kunst herausgetreten ist. Es ist die Linie der Emanzipation, die von den fleurs du mal ausgehend, die Niederungen, aus denen das ‚Tagebuch einer Verlorenen’ stammt mit den Höhen des Zarathustra verbindet. (Dies der Sinn, den man der Bemerkung von Capus unterlegen kann).“ Walter Benjamin, Malerei, Jugendstil, Neuheit, Konvolut S 7 a, 4; in: Das Passagen-Werk. Zweiter Band, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1982, S. 691.

  232. In der 515 Blätter umfassende Zitatensammlung Alban Bergs mit dem Titel „Von der Selbsterkenntnis“ finden sich im Heft 7 Abschriften aus Otto Weiningers „Geschlecht u. Charakter“. Die Passage „Von der Mutterschaft und Prostitution beim Weibe“ lautet: „Es bleibt demnach nichts übrig als zwei angeborene entgegengesetzte Veranlagungen anzunehmen, die sich auf die verschiedenen Frauen im verschiedenen Verhältnis verteilen. Die absolute Mutter und die absolute Dirne. Zwischen beiden liegt die Wirklichkeit: es gibt sicherlich kein Weib ohne alle Dirneninstinkte (viele werden das leugnen und fragen, woran denn das Dirnenhafte in vielen Frauen erkennbar sei, die nichts weniger als Kokotten zu sein scheinen; ich verweise diesbezüglich einstweilen nur auf den Grad der Bereitschaft und Willigkeit, sich von irgendwelchem Fremden unzüchtig berühren und diesen an sich anstreifen zu lassen; legt man diesen Maßstab an, so wird man finden, daß es keine absolute Mutter gibt.) Ebensowenig aber existiert ein Weib, das aller mütterlichen Regungen bar wäre; obgleich ich gestehen muß, außerordentliche Annäherungen an die absolute Dirne viel öfter gefunden zu haben, als solche Grade von Mütterlichkeit, hinter denen alles Dirnenhafte zurücktritt“. Siehe F 21 Berg100/ VII, fol 17', 18, 18', 19. „Unterschiedslos aber fühlt sich jede Frau, da das Weib nur und durchaus sexuell ist, da diese Sexualität über den ganzen Körper sich erstreckt und an einigen Punkten, physikalisch gesprochen, bloß dichter ist als an anderen fortwährend und am ganzen Leibe, überall und immer von was es auch sei, ausnahmsloskoitiert. Das was man gewöhnlich als Koitus bezeichnet ist nur ein Spezialfall von höchster Intensität. Die Dirne will von allem koitiert werden- darum kokettiert sie auch, wenn sie allein ist und selbst vor leblosen Gegenständen, vor jedem Bach, vor jedem Baum- die Mutter wird von allen Dingen, fortwährend und am ganzen Leibe, geschwängert. (...)“ Siehe: F 21 Berg 100/ VII, fol 19, 20.

  233. Brief an Helene Berg vom 16. Juni 1921, in: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 461.

  234. Für die Bühnenmusik in „Wozzeck“, II. Akt, 4. Szene (Wirtshausgarten) setzt Berg folgende Instrumente ein: 2 Fiedeln (um einen ganzen Ton höher gestimmte Geigen), 1 Klarinette in C, 1 Ziehharmonika bzw. Akkordeon, 1 Gitarre, 1 Bombardon in F (bzw. Baßtuba). Siehe die mit Bleistift und Tinte ausgeführten Skizzen zum II. Akt, 4.Szene: F 21 Berg 13/I.

  235. Siehe: Paralipomena Zum Woyzeck, in: Georg Büchner, Werke und Briefe, München 1965, S. 244-266. Im selben Buch findet sich auf S. 327 der Nachruf auf Georg Büchner, geschrieben von Wilhelm Schulz am 28. Februar 1837, die Schlußpassage lautet: „Auf die erste Nachricht von seiner Krankheit eilte seine Verlobte [Minna Jägle] an das Krankenbett ihres Bräutigams. Die Nähe der Geliebten leuchtete freundlich in seine Träume hinein, und seine sichtbar freudige Bewegung weckte einen letzten Schimmer der Hoffnung bei denen, die ihm nahe standen. Aber es war nur ein kurzes Aufflackern des verglimmenden Lebens! Von Landsleuten und Freunden umgeben starb er am 19. Februar [vierundzwanzigjährig] nachmittags gegen vier Uhr, und seine treue Braut schloß ihm das gebrochene Auge.“

  236. Georg Büchner starb 1837, 38 Jahre nach seinem Tod entzifferte Karl Emil Franzos, ein aus Galizien stammender Schriftsteller, die schwer leserlichen Manuskripte zu Woyzeck, die seine Braut Minna Jägle aufbewahrt hatte. Alban Berg benützte die im Jahre 1913 im Insel-Verlag erschienene „Wozzeck-Lenz“-Ausgabe. Aus der Franzos-Ausgabe hat er die "Raufszene" II. Akt, 5. Szene in die Oper „Wozzeck“ integriert, an der Textur für die Oper arbeitete er in den Jahren 1917 bis 1919. In dem 78-seitigen Druckwerk „Wozzeck-Lenz“. Zwei Fragmente (Leipzig 1913) finden sich viele Eintragungen in Blei- und Farbstift von Alban Berg. Siehe: F21 Berg 128. Siehe weiter: Particell, mit eigenhändigem Titel: „Georg Büchners Wozzeck (in der Fassung von Karl Emil Franzos.) Oper in drei Akten (15 Szenen) von Alban Berg op.7. (Particell).“ Die Komposition der Oper beendete Berg im Juni 1922. Siehe: Wozzeck. Partitur mit Titel: „Georg Büchners Wozzeck. Oper in 3 Akten (15 Szenen) von Alban Berg Op. 7.“ Das Original der Partitur befindet sich in der Library of Congress, Washington.

  237. Siehe: Georg Büchner, Woyzeck, in: Werke und Briefe, a. a. O; „Kaserne“, S.129.

  238. Siehe: Georg Büchner, Woyzeck, in: Werke und Briefe, a. a. O; Mariens Kammer, S. 128. Die Büchner-Szene entspricht in der Oper der 1. Szene, III. Akt „Mariens Kammer“. Die Bibelstelle ist gekürzt.

  239. Siehe: H. de Lubac, Exégèse mediévael. Les quatres sens de l’Écriture, Paris 1959-1964.

  240. Albert der Große verfaßte über fünfzehn umfangreiche Schriften über die Jungfrau Maria. Siehe: Albert der Große, Mariale, sive Quaestiones super Evangelium, Missus est Angelus Gabriel etc. CCV, hrsg. von A. und E. Borgnet, Opera omnia, XXXVII, Paris 1898, S. 61-63. Eine detailierte und kommentierte Liste der gesicherten Werke Albert des Großen, siehe: W. Fauser, Die Werke des Albertus Magnus in ihrer handschriftlichen Überlieferung, Münster 1982. Antonin von Florenz, Summa theologiae IVa, 15, 14; IV Spalte 999-1001, in: Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz (Nachdruck der Ausgabe Verona 1740).

  241. Siehe: Antonin von Florenz, Summa theologiae, IVa, 15, 14; IV, Spalte 1001f.

  242. Siehe: Antonin von Florenz, Summa theologiae, IVa, 15, 14; IV, Spalte 1002-1008.

  243. Siehe: M. Lisner, Farbgebung und Farbikonographie in Giottos Arenafresken, in: Mitteilungen des Kunsthistorischen Institutes in Florenz, XXIV, 1985, S. 1-78. Zum Verkündigungsfresko Giottos in Padua siehe weiter: Laura Jacobus, Giotto’s Annunciation in the Arena Chapel, Padua, in: The Art Bulletin, Bd. 81, März 1999.

  244. Siehe: Albert der Große, De laudibus Beatae Mariae Virginis, hrsg. von A. u. E. Borgnet, Opera omnia, XXXVI, Paris 1898, S. 1-879. Maria wird mit eintausendsiebenhundert Spalten gerühmt.

  245. Siehe: U. Baldini und E. Morante, L’opera completa dell’Angelico, Mailand 1970; dt. Das Gesamtwerk von Fra Angelico, Kunstkreis Luzern-Freudenstadt-Wien, o. J. Siehe weiter die vorzügliche Studie von Georges Didi Huberman, Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration, München 1995. Vgl. S. Orlandi, Beato Angelico. Monografia storia della vitaedelle opera con un ' appendice di nuovi documenti inediti, Firenze 1964.

  246. Die Fresken von San Marco in Florenz wurden zwischen 1975 u. 1983 restauriert. Siehe: D. Dini und E. Ferroni, Prospettive per la conservazione degli affreschi, in: Scritti di storia storia dell’ arte in onore di Ugo Procacci, Mailand 1977. Die große Verkündigung Fra Angelicos (Angelico malte im Kloster zwei Verkündigungsbilder) blickt auf die Kreuzigungsszene, die der Dominikanermönch auf die gegenüberliegenden Seite des Nordkorridors pinselte. L. Réau weist in „Iconographie de l'art chrétien“ auf die Werke hin, in denen gleichzeitig die Themen der Verkündigung, der Erschaffung Adams und der Kreuzigung aufscheinen.

  247. Albert der Große erläutert in „De laudibus Beatae Mariae Virginis XII“, 1 a. a. O; S. 605-607, warum der Garten der Maria einhortusconclusus - ein verschlossener Garten – sein mußte: Weil Maria den äußeren Sinnen unzugänglich war, weil weder die Sünde noch Satan ihr etwas anhaben, sie "deflorieren" (D. Huberman) konnten, weil sie sowohl vor wie nach der Geburt Jungfrau blieb. Siehe dazu auch das Hohenlied Salomons : „Hortus conclusus, soror mea, sponsa.“ „Du bist ein verschlossener Garten, meine Schwester, liebe Braut“. Siehe weiters: H. W. van Os, Marias Demut und Verherrlichung in der sienesischen Malerei 1300-1450, Rom 1969. Albert der Große erläutert in Mariale XX, a. a. O; S. 44.47, daß die Augen Marias schwarz seien und in erster Linie zum Weinen bestimmt sind. Zur Sprache der Engel siehe: Antonin von Florenz, Summa theologiae IIIa, 31, 6; III, Spalte 1562-1576, a. a. O.

  248. Siehe: Honorius Augustodunensis, Expositio in Cantica canticorum, P. L; CL XXII, Spalte 368. Zur Pflanzensymbolik der Jungfrau Maria: M. A. Savoie, A Plantair" in Honor of the Blessed Virgin Mary Taken fromaFrench Manuscript of the XIVth Century, Washington: The Catholic University of America 1933.

  249. Siehe: Thomas von Aquin, De differentia Verbi divini et humani, hrsg. und franz. übersetzt von Bandel, Opuscules III, Paris 1984, S. 135-141, dt. Übersetzung von F. Albrecht, Würzburg 1896. Siehe umfassend: Thomas von Aquin, „Compendium theologiae CCI“, dt. Übersetzung von F. Albert, Würzburg 1896.

  250. Siehe: Albert der Große, Mariale CLI bis CLIV, a. a. O ; S. 220-226.

  251. Zur Unterschrift hat man bisher keine Quelle gefunden. Siehe: V. Alce, Cataloghi ed indice delle opere del Beato Angelico, in: Beato Angelico. Miscellanea di studi, Rom 1984.

  252. Siehe: Georg Büchner, Woyzeck, „Wirtshaus“ in: Werke und Briefe, a. a. O; S. 125.

  253. Siehe: Gilles Deleuze, Zola und der Riß, in: Logik des Sinns. Ästhetica, Frankfurt a. Main 1993, S. 385ff.

  254. Zu erinnern ist hier an die Schwimmhaut zwischen den Fingern der begehrten Frauen in Kafkas Roman Das Schloß. Ritter Leopold von Sacher-Masoch wirft seiner Venus einen Pelz um. Siehe: Leopold Sacher-Masoch, Venus im Pelz und andere Erzählungen, hrsg. von Helmut Strutzmann, Wien/München 1985. Alban Berg war ein begeisteter Leser der Venus im Pelz.

  255. „Lulu. Oper in drei Akten (7Szenen) von Alban Berg nach den Tragödien ERDGEIST und PÜCHSE DER PANDORA von FRANK WEDEKIND“: F 21 Berg 133/I. Das Particell wurde im April 1934 fertiggestellt, die Singstimmen sind vollständig ausgeführt, der Orchesterpart ist auf zwei bis drei Systemen mit spärlicher Instrumentationsangabe notiert. Im Herbst 1935 nahm Berg die Instrumentation wieder auf und gelangt bis Takt 268, III. Akt. Wie auch bei Wozzeck entstehen Sinfonische Stücke aus der Oper „Lulu“, genannt „Lulu-Suite“: Im Mittelpunkt der Sinfonie steht das Lied der Lulu. Die Uraufführung der zweiaktigen „Lulu“ fand am 20. Juni 1937 im Stadttheater Zürich statt, Franz Werfel und Ernst Krenek hielten einleitende Vorträge. Der Wiener Komponist Friedrich Cerha bearbeitete nach Skizzen Alban Bergs den III. Akt von „Lulu“, und am 24. Februar 1979 fand die dreiaktige Aufführung der Oper „Lulu“ im Théâtre National de l’opéra in Paris statt. Am Pult: Pierre Boulez, Bühnenbild und Regie: Patrice Chereau. Siehe: Alban Berg, Partitur zum 3. Akt der Oper Lulu. Integrale Fassung bearbeitet von Friedrich Cerha; Originalhandschrift Cerhas auf Transparent, Tinte, 291 Bl; Universal Edition, Wien. Das Theatro Massimo im sizilianischen Palermo setzte wieder den „Lulu“-Torso im Jahre 2000 auf den Spielplan. Ein Mitschnitt der Aufführung ist zu hören auf Arte Nova 74321870702, 2 CDs. Zur Kompositionsstruktur von „Lulu“ siehe: Metronomaufzeichnungen für die ganze Oper und frühes Skizzenheft: F 21 Berg 28/14; Tonreihen und Themen zu den Hauptrollen: F 21 Berg 28/ XVII, XIX, XX; Grundreihe der Oper mit allen Transpositionen und Inversionen: F 21 Berg 28/XLIX; Particell zum 3. Akt der Oper Lulu: F 21 Berg 29/III; Partitur (Fragment) zum 3. Akt: F 21 Berg 30.

  256. Am Gut „Berghof“ hält Berg Hunde, ein Männchen namens Nero und ein Weibchen namens Lulu. Die denkwürdige Zeile „Lulu: das wahre, das wilde schöne Tier“ findet sich bei Frank Wedekind, „Die Büchse der Pandora“ (Prolog des Tierbändigers), in: Ders; Gesammelte Werke, München 1964, S. 193.

  257. Siehe: Hans Ferdinand Redlich, Alban Berg. Versuch einer Würdigung, a. a. O; S. 260.

  258. Siehe: Alban Bergs Brief an Helene Berg vom 30. April 1933, in: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 620.

  259. Instrumente in der Orchester- und Bühnenmusik der Oper Wozzeck: (1) Besetzung des grossen Orchesters: 4 große Flöten (auch kleine), 4 Oboen (4. auch Englischhorn), 4 Klarinetten in B (1. auch in A, 3. und 4. auch in Es), 1 Baßklarinette in B, 3 Fagotte, 1 Kontrafagott, 4 Hörner in F, 4 Trompeten in F, 4 Posaunen (1. Alt-, 2. und 3. Tenor-, 4. Baßposaune), 1 Kontrabaßtuba, 2 Paar Pauken, Becken (1 Paar, 1 freihängendes und ein an der großen Trommel befestigtes), große Trommel, mehrere kleine Trommeln, Rute, großes (sehr tiefes) Tamtam, kleines (sehr hohes) Tamtam, Triangel, Xylophon, Celesta, Harfe, Streicher (wengistens 50-60). Auf der Bühne: Mehrere kleine Trommeln (I. Akt, 2. Szene). Eine Militärmusik (I. Akt, 3.Szene): 1 Piccolo, 2 große Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten in Es, 2 Fagotte, 2 Hörner in F, 2 Trompeten in F, 3 Posaunen, 1 Kontrabaßtuba, Große Trommel mit Becken, kleine Trommel, Triangel. Eine Heurigen-(Wirtshaus-) Musik (II. Akt, 4.Szene): 2 Fiedeln (um einen ganzen Ton höher gestimmte Geigen), 1 Klarinette in C, 1 Ziehharmonika bzw. Akkordeon, 1 Gitarre, 1 Bombardon in F (bzw. Baßtuba). Ein Piano (III. Akt, 3.Szene). Womöglich abgesondert vom grossen Orchester: Ein Kammerorchester (II. Akt, 3.Szene) in der Besetzung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie: 1 Flöte (auch Piccolo), 1 Oboe, 1 Englischhorn, 1 Es-Klarinette in A, 1 Baßklarinette in B, 1 Fagott, 1 Kontrafagott, 2 Hörner inFund ein Solo-Streichquartett.

  260. Siehe: Gerhard Fischer, „Weiße Wäsche – silbriger Rauch – schwarzer Ruß. Wien: Eine Archäologie der Hauptstadt im 19. Jahrhundert“. Vier Text-Bild-Bände, zwei Materialienbände, Wien 1996.

  261. Siehe: Robert Schumann, „Dichterliebe“, op. 48 (1844). Die Originalfassung von „Dichterliebe“ enthielt zwanzig Lieder, doch die Verleger forderten eine Verkürzung auf sechzehn Gesänge. Das erste Lied von op. 48 „Im wunderschönen Mai“ schließt mit einer einfachen Dissonanz, dem Dominantseptakkord. Charles Rosen erläutert: „Ohne auch nur einen Moment das Tonartensystem anzutasten, stellt Schumann hier die grundlegende tonale Struktur auf den Kopf. Abgesehen von Formen wie der Toccata und der Fantasie, die als freie Improvisationen wirken sollen, geht es in der üblichen tonalen Verfahrensweise entsprechend darum, einen Ruhepunkt, einen zentralen Dreiklang zu definieren, sich dann von ihm zu entfernen, um schließlich ein oder mehrere Male zu ihm zurückzukehren. Schumanns Lied jedoch beginnt mit einem traditionell ungefestigten Akkord, bewegt sich zu einem Ruhepunkt, einer gefestigten Kadenz fort und kehrt zu dem ungefestigten Akkord als seinem Ziel zurück. Für diese Konzeption ist es entscheidend, daß der Beginn bei seinem nochmaligen Erscheinen unverändert ist, so daß sich die Möglichkeit einer unendlichen Wiederholung ergibt. In ihrer Anlage ist diese Struktur vollendet, obwohl ihr Anfang wie ihr Ende klanglich offen sind. Der Schluß wird nicht durch Ruhepunkte gekennzeichnet, sonder durch ein potentiell unendliches Schwingen, das seinen adäquaten Ausdruck in den zwei Strophen findet. Wir haben ein vollkommenes romantisches Fragment vor uns, das auf seine Art ausgewogen und doch instabil ist – in sich selbst geschlossen, ist es ein fragmentarisches Bild des Unendlichen, der Wiederkehr des Frühlings, des neu erwachenden Verlangens. (...) Das romantische Fragment (...) hatte vor Schumanns Dichterliebe bereits eine lange Tradition in der Literatur: Es wardasAusdrucksmittel der frühromantischen Bewegung in Deutschland, vor allem im Jenaer Dichterkreis, einen Zusammenschluß junger Künstler, Philosophen, Wissenschafter und Dichter im Jena des ausgehenden 18. Jahrhunderts (...) Friedrich Schlegel ist gewissermaßen der Schöpfer des literarischen Fragments; er gab folgende Definition dieser Form (...): Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ In: Charles Rosen, Musik der Romantik. Aus dem Amerikanischen von Eva Zöllner, Salzburg/Wien 2000, S. 70, 71. Das Mai-Lied Schumanns sollte man unbedingt von Charles Panzéra gesungen hören. Die Stimme Panzéras war auch die geliebte Stimme von Roland Barthes. Man kaufe: GEM CD 99/19 – Charles Panzéra with Alfred Cortot and Magdeleine Panzéra-Baillat (Schumann: Dichterliebe, Fauré: La Bonne Chanson, Duparc and Fauré songs). Das dreizehnte Lied aus Dichterliebe, „Ich hab’ im Traum geweinet“ ist „vielleicht das erste Musikstück, in dem die leere Stille eine gleich große, wenn nicht gar eine größere Rolle spielt als die Töne selbst. Über zwei Strophen hinweg sind Singstimme und Klavier voneinander isoliert, nur mit dem erneuten Aufleben der Erinnerung kommen sie zusammen.“ In: Charles Rosen, a. a. O; S. 236. Der Liedtext aus der Feder Heines lautet: „Ich hab’ im Traum geweinet, / Mir träumte, du lägest im Grab. / Ich wachte auf, und die Träne / Floß noch von der Wange herab. / / Ich hab’ im Traum geweinet, / Mir träumt, du verließest mich. / Ich wachte auf, und ich weinte / Noch lange bitterlich. / / Ich hab’ im Traum geweinet, / Mir träumte, du wärst mir noch gut. / Ich wachte auf, und noch immer / Strömt meine Tränenflut.“ Zwischen Mensch und Fatum liegt ein Meer von Tränen sagt der römische Epiker Vergil. „Im ersten Gesang der Aeneis wird geschildert, wie Aeneas nach überstandener Seenot unerkannt in Karthago durch die Säle des Palastes der Dido wandelt und plötzlich vor den Bildern des Unterganges Trojas steht. Erschüttert sieht er im Bilde wieder, was er selber real erlebt und erlitten hatte. Wieder schwimmen die Lichter seiner Augen, natantia lumina und er (...) spricht die Worte: sunt lacrimae rerum, die, nächst den zahllosen Versen über das Fatum, eine Weltanschauung sind. (...) Der Halbvers ist durch und durch lateinisch, er sagt nicht bloß (...) daß gewisse Dinge von den Menschen beweint werden, sondern auch daß die Dinge selber ihre Tränen haben, oder besser, daß da Dinge sind, die mit keiner anderen Antwort zufrieden sind als mit Tränen, die durch nichts wirklicherkanntwerden, durch nichts anderes wirklich ausgeglichen werden können als durch Tränen und zuweilen selbst durch sie nicht: aut possit lacrimis aequare labores, als wögen Tränen unsere Tränen auf.“ Siehe: Vergil, Hirtengedichte, übersetzt und kommentiert von Theodor Haecker, Frankfurt a. Main; 1958, Achtes Kapitel: Tränen, S. 130-138.

  262. „Im Körper des Verliebten ist das Herz unaufhörlich damit beschäftigt zu springen. Als ein Organ, das durch die Verdichtung eben jenes Blutes gebildet wird, das in ihm sprudelt, steht das Herz für das Prinzip des Lebendigen; es ist das erste und letzte Glied einer biologischen Kette. Beim Embryo als erstes angelegt, beginnt es sich von allen anderen Körperteilen zu bewegen; ist der Tod schon eingetreten, schlägt es noch weiter, wie man sagt. Es vergeht als letztes, so wie es als erstes entstanden ist.“ Marcel Détienne, Dionysos. Göttliche Wildheit, München 1995. Siehe weiter: Das Herz im Kulturvergleich, hrsg. von Georg Berkemer und Guido Rappe, Berlin 1996.

  263. „Das Gehör ist unsere heroische Öffnung hin zur Unordnung und Konfusion.“ Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a. Main 1987, S. 191. „Jeder der Sinne hat seine rein physischen Annehmlichkeiten wie der Geschmacks- und Geruchssinn; vor allem das Ohr hat seine ganz eigenen; und es hat den Anschein, daß es umso sensibler reagiert, je seltener sie in der Natur sind. Auf tausend angenehme Sinneseindrücke, die uns der Gesichtssinn liefert, kommt vielleicht nur ein einziger, der uns auf dem Wege über das Gehör erreicht. Alles im Universum scheint für die Augen geschaffen zu sein und nahezu nichts für die Ohren. Deshalb ist von allen Künsten diejenige, die den größten Vorteil hat, mit der Natur zu rivalisieren, die Kunst der Akkorde und des Gesanges.“ Marmontel, J.-F; Artikel „Arts libéraux“, in: Supplément à l’Encyclopédie, Bd. 1, Amsterdam 1776. Es existiert ein Ölbild, betitelt, „Das Gehör“ in einer Kopie nach einem um 1655 entstandenen heute verschollenen Original von J. H. Schönfeld, das einen Geiger beim Stimmen seines Instrumentes zeigt. Von diesem Gemälde ausgehend, hat sich ein interdisziplinäres Studien- Projekt unter Leitung von Gerhard Fischer zu Mozarts Zauberflöte entwickelt. Siehe weiter: Katalog der Universität Mozarteum Salzburg, Das Gehör. Mozarts Zauberflöte im Stimmengewirr der Aufklärung, Salzburg 1998.

  264. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Seite 26 Eintragung Bergs mit roter Tinte.

  265. Siehe: Alberto Giacometti, „Atelier (vorn)“, 1932, Bleistift, 32,7 x 49,3 cm. Alberto Giacometti, „Atelier (gegen hinten)“, 1932, Bleistift, 31,8 x 45 cm, Kupferstichkabinett Basel. Vgl. Reinhard Hohl, Giacomettis Atelier im Jahr 1932, in: Die Erfindung der Gegenwart, a. a. O; S. 162- 176. Siehe auch: Georges Didi-Huberman, Le Cube et le visage. Autour d'une sculpture d' Alberto Giacometti, Paris 1993.

  266. In den Sog des Steinblockes auf Dürers Stich wird der Geologe, Maler und Bildhauer Per Kirkeby kommen, an den Polarforscher Eigil Knuth schreibt er: „Und auf diesem Stich, der große ‘dumpfe’ Steinblock: die endgültige und uninterpretierbare Tektonik, von der wir umgeben sind und als die wir alle enden.“ Per Kirkeby, Brief an den Polarforscher Eigil Knuth, in: Die Erfindung der Gegenwart, a. a. O ; S. 187.

  267. Zur Rezeption des Japonismus im Europa des späten 19. Jahrhunderts: Über eine japanische Ausstellung mit 700 Nummern in der Wiener Secession im Februar 1900 berichtet Richard Muhr: „Nichts Falsches, keinen leeren Schein, nichts Unpersönliches können diese Söhne einer vieltausendjährigen Cultur ertragen. Jedes Geräth, das sie um sich dulden, jede Vase, jeder Wandschirm muß ein apartes Juwel sein. Jedes Bild ist mit dem Besitzer verwachsen. Jede Blume, die er wählt, ist ein Stück seiner selbst.“ In: Richard Muhr, Studien und Kritiken, Bd. 1, Wien 1900, S. 41-45. Siehe auch: Klaus Berger, Japonismus in der westlichen Malerei 1860- 1920, München 1980. Der Einfluß der fernen Ostens ging auch an Berg nicht vorüber. Da ist Bergs Aschenbecher mit Buddha. Es heißt, Helene Berg mußte bei jeder Aufführung den Buddha in der Hand halten.

  268. Auf die Einschreibung des Leibes in einem systematischen Raum von Zeichen geht Roland Barthes in dem Text „Der Geist des Buchstabens“ (1973) ein. Barthes verweist auf Paul Claudel, der auf die Kunst der NÔ-Spiele im Theater und die der Haikus in der Poesie aufmerksam gemacht hatte. Die Haikus, die Claudel in Cent phrases pour éventail selbst mit dem Pinsel gemalt hatte, inspirierten Barthes zu einer Japanreise und zu dem Essay „Das Reich der Zeichen“ (1970, dt. 1981). Zu den Japanvorstellungen Claudels siehe: (1) Ideogrammes occidentaux (1926, Faksimile-Ausgabe des Autographs; erste gedruckte Ausgabe Paris Trirème 1944) und (2) Un coup d’œil sur l’âme japonaise, Paris 1923, dt. Ein Blick auf die Seele Japans, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Heidelberg 1960. Ein Gedichtband Paul Claudels trägt den Titel: Der Schrei aus der Tiefe (Paderborn 1939). Roland Barthes, der Meisterdenker, war auch ein Mann der Musik und der Kalligraphie. „In Japan und in Marokko hatte er eine Art Fortzsetzung der Schrift kennengelernt, eine Metamorphose jener Handbewegungen, mit denen man Buchstaben zeichnet: die Kalligraphie. In Japan wird (genauso wie in China, das Barthes erst später kennenlernen sollte) makellos gezeichneten Buchstaben hoher Wert beigemessen, so daß es als höchstes Kompliment gilt, wenn man jemanden eine ‘schöne Schrift’ zuerkennt. Auch sind die Werke der Kalligraphie (Tusche, Pinsel, Papier) dieselben wie die der Malerei, und oft gehen Gedicht und Zeichnung ineinander über: 'Wo beginnt die Schrift? Wo beginnt die Malerei?' lautet eine Bildunterschrift zur Reproduktion von Yokoi Yayûs Tuschezeichnung Die Champignon-Suche in das Reich der Zeichen. In Japan hatte Barthes jenes Spiel von Hand und Pinsel kennengelernt, das dem Signifikanten plötzlich eine Bedeutung verleiht, die über die des Signifikats hinausgeht. Er wird ihm später in vielfältiger Form in Marokko begegnen.“ In: Louis-Jean Calvet, Roland Barthes. Eine Biographie, Frankfurt a. Main 1993, S. 267ff. In einem 1973 gegebenen Interview bezeichnete Roland Barthes sich als Sonntagsmaler und er wird über fünfhundert Pastellbilder, Aquarelle und Tuschezeichnungen hinterlassen, wobei er als Malgrund häufig eines seiner vielen Briefpapiere verwendet hat, mit den Briefköpfen Collège de France, der École pratique des hautes études oder seines Hauses in Urt. Siehe: Roland Barthes, Carte. Segni, Mailand 1981.

  269. Siehe Stichvorlagen zur „Lyrischen Suite“: Alban Berg macht die 1. Korrektur am 19. Februar 1927, siehe F21 Berg 77/IX, die 2. Korrektur am 27. September 1927, siehe F21 Berg 77/VI. Sämtliche Korrekturfahnen der Stichvorlagen siehe F21 Berg 77/I-X. Anweisungen für den Druck der „Lyrischen Suite“ siehe F 21 Berg 76/ VII/ Bl.8. Notizen in Blei- und Farbstift über die Art der Notation und Korrekturfahnen siehe F21 Berg 76/XIV. Partitur der „Lyrischen Suite“: Druck 1927, mit Korrekturen, die dann 1937 eine weitere Auflage nötig machten, siehe: F21 Berg 77/VIII. Otto Jokl an Alban Berg, 12. Juni 1928: „Anbei Korrekturexemplar der Lyrischen Suite“. Universal Edition A. G. Wien, Leipzig 1927 – Druck mit Eintragungen in Blei- und Farbstift von Jokl und Berg, Alban Berg-Stiftung. Partitur(druck), Photokopie des Originals – Bergs Handexemplar mit Eintragungen siehe: F21 Berg 77/IX.

  270. Siehe: Sigrid Metken, Ich schnitt’ es gern in alle Rinden ein zur Kunst der alten und neuen Zeit. Ein Thema der Pastrorale und romantischen Erinnerung. In. Kunst & Antiquitäten II, 89, S. 22- 32. Nicht nur spitze Messer der liebestaumelnden Menschen graben sich in Baumrinden, auch das Reich der Insekten nistet in der Wärme der Baumringe.

  271. Siehe: Sextus Propertius, Elegien I/18, dt. von Franz Buecheler, in: Latinische Gärten, hrsg. von Karl Preisendanz, Frankfurt a. Main?...

  272. Siehe: Alfred Pigler, Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. II, Budapest/Berlin 1956.

  273. Siehe: Apollodor, Biblioteca III/12 und Ovid, Heroides V/21-32.

  274. Siehe: Giovanni Francesco Barbieri, gen. Guercino (1591-1666), AngelicaeMedoro, um 1640, Federzeichnung, laviert, 258 x 380 mm, Privatsammlung London.

  275. Siehe: Jacques Blanchard (1600-1638), Angélique et Médor, um 1631-1633 (?), 122 x 176 cm, Metropolitan Museum of Art, New York.

  276. Siehe: Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872), Angelica und Medor, Fresken (1825/26) im Ariostzimmer der Villa Massimo, Rom.

  277. Marcel Röthlisberger deutet eine bemalte Holztafel von Claude Lorrain als Landschaft mit Oenone. Siehe: De Bril à Claudes: tableaux inedits, in: Revue de l’Art 5/1969, S. 59f.

  278. Franz Schubert, „Die schöne Müllerin“, op. 25. Ein Zyklus von Liedern von Wilhelm Müller. Die erste Strophe des 16. Liedes „Die liebe Farbe“ im Zyklus „Die schöne Müllerin“ lautet: „In grün will ich mich kleiden, in grüne Tränen weiden: mein Schatz hat’s Grün so gern, mein Schatz hat’s Grün so gern. Will suchen einen Cypressenhain, eine Heide von grünen Rosmarein: Mein Schatz hat’s Grün so gern, mein Schatz hat’s Grün so gern.“

  279. „Winterreise“. Ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte componirt von Franz Schubert, op. 89. Über die Entstehung der Winterreise berichtet Schuberts Freund Josef von Spaun: „Schubert wurde durch einige Zeit düsterer gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.“

  280. „Oktober 1931“ [Berg an Hanna im Oktober 1931]

  281. Siehe: Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, erste Fassung, München 1917. In Gottfrieds Kellers augenzwinkernden Novelle Die mißbrauchten Liebesbriefe verläßt ein Mann seine Ehefrau, um aus der Ferne mit Briefbotschaften ihr Herz für das Schöne zu erwärmen. Die Frau, schon lange vom Nachbarn verehrt, leitet die Post ihres Mannes in veränderter Abschrift an diesen weiter, der darauf glühend antwortet. Die Frau kopiert die Zeilen und schickt diese an ihren Ehemann weiter. Der Betrogene ringt nach Luft: „Sie nimmt die treuen, ehrlichen Ergüsse, die Briefe des Gatten, verrenkt das Geschlecht und verdreht die Namen und traktiert damit, prunkend mit gestohlenen Federn, den betörten Genossen ihrer Sünde! So entlockt sie ihm ähnliche Ergüsse, die in sündiger Glut brennen, schwelgt darin, ihre Armut zehrt wie ein Vampyr am fremden Reichtum, doch nicht genug! Sie dreht dem Geschlecht abermals das Genick um, verwechselt abermals die Namen und betrügt mit tückischer Seele den arglosen Gemahl mit den neuen erschlichenen Liebesbriefen, das hohle und doch so verschmitzte Haupt abermals mit fremden Federn schmückend!“ Gottfried Keller, Die mißbrauchten Liebesbriefe, in: Sämtliche Werke, hrsg. von C. Heselhaus, Band II, München 1979, Seite 350. Einen musterhaften „Dokumentenband“ aus dem Jahre 1927 über Gottfried Kellers Malerei und die Korrespondenz mit Marie und Adolf Exner lobte Walter Benjamin: „Kellers Briefe sind fast ausnahmslos wichtig. Nicht als Dokumente des Lebenslaufes, den man ja angeblich bei keinem Dichter weniger als bei dem, von dem jeweilen die Rede ist, von seinem Werk trennen kann, sondern im ernsthaften Sinn: nämlich stilistisch und charakterologisch. In ihnen konnte er sich weit eher als im Werk in die tausendspiraligen Gehäuse seiner Wortform zurückziehen, schnöde aus ihnen schnuppernd oder grämlich darin verschwindend. (...) Nicht nur als ungekürzter Briefwechsel, sondern auch durch seine Beigaben, seine Ausstattung ist dies ein musterhafter Dokumentenband zu Keller. Schöne, farbige Wiedergaben Kellerscher Malereien, geschmackvoll gewählte Porträts der Korrespondenten, ein ausreichendes Namenregister und der bemerkenswert schöne Druck machen ihn zu einer sehr erfreulichen Neuerscheinung.“ Gemeint ist der Band: Aus Gottfried Kellers glücklicher Zeit. Der Dichter im Briefwechsel mit Marie und Adolf Exner, Wien 1927. Siehe dazu: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt a. Main 1972, S. 84.

  282. Zit. nach: G. W. Sebald, Her kommt der Tod die Zeit geht hin. Noten zu Gottfried Keller, in: Ders; Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, München 1998, S. 97-126.

  283. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3477, Bergs Eintragung mit roter Tinte auf Seite 46 zu Beginn des IV. Satzes, Adagio appasionato. Appasionato ist blutvoll unterstrichen.

  284. (.)

  285. Siehe: Coreggio, Jupiter und Io, Öl auf Leinwand, 163,5 x 70,5 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.

  286. Ovid erzählt in den „Metamorphosen“, Erstes Buch, Vers 568-750 die Geschichte von Jupiter und Io: „Jupiter und Io ( I ) In Haemonien liegt ein Hain, rings von bewaldeten Steilhängen umschlossen; er heißt Tempe. Durch dieses Tal wälzt der Penëus, der tief im Pindus entspringt, seine schäumenden Wellen, und in wuchtigem Absturz ballt er Wolken zusammen, von denen zarte Nebelschleier flattern; den Gischt läßt er auf die Wipfel des Waldes regnen, und sein Getöse ermüdet nicht nur die Nachbarschaft. Dies ist das Haus, dies ist der Wohnsitz, dies sind die Gemächer des großen Stromes; hier thronte er in einer Felsengrotte und sprach Recht über Wellen und Nymphen, die sie bewohnten. Dort kommen zuerst die Flüsse der Gegend zusammnen, ohne so recht zu wissen, ob sie den Vater beglückwünschen oder ihm Trostworte zu sprechen sollen: Sperchios, von Pappeln umsäumt, der rastlose Enipeus, der altersgraue Apidanus, der sanfte Amphrysos und Aeas: bald kamen noch andere Flüsse, die vom Schwung fortgetragen, ihre Wogen, die von den Irrwegen ermüdet sind, ins Meer münden lassen. Nur Inachus fehlt. Tief unten in seiner Höhle versteckt, vermehrt er sein Wasser durch Tränen und trauert - der Ärmste! - um seine Tochter Io, als hätte er sie verloren. Er weiß nicht, ob sie noch am Leben ist oder schon unter den Toten weilt; doch, da er sie nirgends findet, glaubt er, sie sei nirgends, und befürchtet im Herzen das Schlimmste. Jupiter hatte sie vom väterlichen Strom heimkehren sehen und zu ihr gesagt: ‚Mädchen, du bist Jupiters würdig, und doch wirst du durch dein Ehelager nur irgendeinen gewöhnlichen Sterblichen glücklich machen. Geh in den Schatten der tiefen Wälde’, und er hatte auf die schattige Stelle hingewiesen,’ während es heiß ist und die Sonne in der Mitte ihrer Bahn am höchsten steht. Wenn du dich aber fürchtest, allein deinen Fuß in die Schlupfwinkel der wilden Tiere zu setzen, so wisse: Du wirst die Abgeschiedenheit des Waldes unter dem Schutze eines Gottes betreten, und zwar keines Plebejers unter den Göttern: Ich bin’s, der das Himmelsszepter in der gewaltigen Hand hält, der die zuckenden Blitze schleudert. Flieh nicht vor mir!’ Sie floh nämlich. Schon hatte sie die Triften von Lerna und das mit Bäumen bepflanzte lyrceïsche Gefilde verlassen, als der Gott die Lande weit und breit in Nebel hüllte, die Fliehende aufhielt und ihr die Ehre raubte. Unterdessen schaute Iuno mitten auf die Felder hinab und wunderte sich, daß am hellichsten Tage die flüchtigen Nebel den Eindruck erweckten, als wäre es Nacht, und bemerkte, daß sie weder vom Fluß kamen noch von der feuchten Erde aufstiegen. Dann schaute sie sich um, wo ihr Mann wohl sei; kannte sie doch die Schliche ihres Gemahls, den sie schon so oft ertappt hatte. Nachdem sie ihn im Himmel nicht gefunden hatte, sprach sie: ‚Täuscht mich nicht alles, so werde ich hier getäuscht.’ Sie ließ sich von der Höhe des Äthers herab, stellte sich auf den Erdboden und gebot den Nebeln zu weichen. Jupiter hatte das Kommen seiner Gattin vorausgeahnt und die Inachustochter in eine strahlend weiße Kuh verwandelt.Auch als Rind ist sie schön! Saturnia lobt das Aussehen der Kuh, obwohl es ihr schwer fällt, und fragt, wem sie gehöre, wo sie herkomme und aus welcher Herde sie sei - als wüßte sie nicht die Wahrheit. Jupiter lügt, sie sei aus der Erde entstanden, um die Fragen nach der Herkunft abzuschneiden. Da erbittet Saturnia die Kuh als Geschenk. Was tun? Grausam ist’s, die Geliebte zu verschenken; sie nicht herzugeben ist verdächtig; zu dem einen rät die Scham, von dem andern rät die Liebe ab. Über die Scham hätte die Liebe den Sieg davongetragen; aber würde der Schwester und Gattin ein so kleines Geschenk wie eine Kuh abgeschlagen, dann könnte es so aussehen, als wäre es keine Kuh. Nachdem sie die Nebenfrau zum Geschenk erhalten hatte, legte die Göttin dennoch nicht alle Furcht ab; sie hatte Angst vor Jupiter und argwöhnte Untreue, bis sie Io dem Argus, dem Sohn Arestors, zur Bewachung übergab. (...)“. In: Ovid, „Metamorphosen“. Erstes Buch, „Jupiter und Io“. In deutsche Prosa übertragen von Michael von Albrecht, München 1981/1987, S.24-29.

  287. Coreggio, Eva reicht den Apfel, Rötelzeichnung, 11,6 x 10,4 cm, Louvre, Paris.

  288. In: Jean Starobinski, Gute Gabe, schlimme Gaben. Die Ambivalenz sozialer Gesten, Frankfurt a. Main 1994, S. 8. Starobinski weist auf die symbolische Affinität von Apfel und weiblicher Brust hin. In der gesamten idyllischen Literatur sind Apfel und andere kleine Gaben, im Tausch, die empfangenen und gegebenen Küsse. Siehe: Meyer Schapiro, Les pommes de Cézanne. Essai sur la signification de la nature morte, in: Style, artiste et société, Paris 1990, S. 17.

  289. Siehe: Coreggio, Gli affreschi nella cupola del Duomo di Parma, Artegrafica Silva, Parma o. J.

  290. „Natürlich: 23. 10“ [Berg an Hanna am 23. Okt. 1926].

  291. Siehe: Alexander Scriabin (1872-1915), Sonate Nr. 4, op 30 (1903). Der I. Satz der Sonate zeigt die Verwandschaft zu dem Präludium Tristan. Skriabin war den Theorien Nietzsches, dem Philosophiefürst Trubetskoi und den geheimen Lehren der führenden Theosophin Madame Blawatski zugewandt, dies führte nach und nach zu einer asymptotischen Annäherung mit der Mystik des Ostens, mit den Lehren des Sanskrit. Für die Sonate op. 4 schrieb Skriabin ein Gedicht: „Durch einen dünnen Schleier transparent auf Wolken / Schimmert ein Stern sanft, fern und einsam. / Wie wunderschön! Das geheimnisvolle Azur / Seines Scheins lockt micht, verlockt mich.../ Gewaltiges Verlangen, sinnlich, irrig, süß.../ Nun! Freudig fliege ich empor zu dir, / Frei fliege ich. / Irrer Tanz, gottähnliches Spiel.../ In meiner Sehnsucht komme ich näher.../ Trinke dich, mehr von Licht, du Licht meines selbst...“

  292. Siehe Widmungspartitur F21 Berg 3374, V. Satz, Seite 57-76.

  293. Die Beziehung des Berg-Tons zum Schumann-Ton ist evident. Marcel Beaufils hat Schumanns Musik hervorragend gedeutet. Alban Berg muß Beaufils in Wien kennengelernt haben, denn im Nachlaß findet sich die Visitenkarte von Marcel Beaufils mit folgender Aufschrift: „Agrégé de l’Universite Centre des Hautes Etudes FrancaisesIUniversitätsplatz Vienne 1“. Beaufils Schumann-Buch ist bislang unübersetzt geblieben, es trägt den Titel La musique pour piano de Schumann. Préface de Roland Barhes, Paris 1979. Zu Schumann siehe weiter: Ernst Burger, Robert Schumann, eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, Mainz 1999. Das romantische Lied durchzieht das gesamte 19. Jahrhundert. Sein glühender Kern ist das Lied Schuberts und Schumanns, Schubert hat 650 Lieder geschrieben, Schumann 250. Robert Schumann widmete Clara Schumann 140 Lieder im Jahre 1840, dem Jahr seiner Heirat. Diese Liedkomposition kann als eine der erstaunlichsten kompositorischen Eruptionen der gesamten Musikgeschichte gelten, nicht allein durch die Zahl der rund 140 Lieder, sondern auch durch Qualität und poetische Eigenart. Eine derartige psychologische Verdichtung, das Eindringen in die Nachtzeit der menschlichen Seele hatte es wohl nur noch bei Schubert gegeben und das Medium dieser tiefen Dimension ist in erster Linie das Klavier, das mit der Singstimme eine unlösbare Symbiose eingeht. Die Welt ist für Schumann nicht irreal, die Realität ist nicht unbedeutend. Durch ihre Titel, mitunter durch diskrete Ansätze zur Beschreibung verweist Schumanns Musik ständig auf die konkretesten Dinge: Jahreszeiten, Tageszeiten, Landschaften, Feste, Berufe. Diese Realität ist freilich von der Zergliederung der Spaltung bedroht. In diese von Halluzinationen geprägte Welt, trifft in Düsseldorf im Jahre 1853 der 20jährige Johannes Brahms. Schon früh klagte Schumann über Hörstörungen. Am 4.März 1846 notierte Clara Schumann im Tagebuch: „beständiges Singen und Brausen im Ohr“ und zwei Tage später: „merkwürdige Verstimmung des Hörorgans.“ 1854 sind Schumanns seelische Ressourcen erschöpft. Die „Kopfkrankheit“ bricht durch, „himmlische und höllische Musik“ fluten. Schumann will sich im Rhein ertränken, wird jedoch herausgefischt und 1854 in der Nervenheilanstalt Endenich bei Bonn bis zu seinem Tode im Jahre 1856 interniert werden. Am 10. April 1856 besuchte Johannes Brahms Robert Schumann in der von Doktor Franz Richarz geleiteten Anstalt, er betritt ein „dampfendes, stinkendes Zimmer“ (Peter Härtling). Seiner Schwärmerei für schöne Knaben folgend, hat Schumann ein Brahms-Porträt von Joseph Bonaventura Laurens an der Zimmerwand aufgehängt; auf dem Boden liegen Papiere, übersät mit Punkten, Strichen, Linien: „Er empfing mich freundlich und herzlich wie immer“, berichtet Brahms, „aber es durchschauerte mich- denn ich verstand kein Wort von ihm. Wir setzten uns, mir wurde immer schmerzlicher, er sprach immer fort, aber ich verstand nichts. Ich blickte wieder auf seine Lektüre. Es war ein Atlas und er eben beschäftigt Auszüge zu machen, freilich kindische. Über den Stieler' schen ‚Hand-Atlas über alle Theile der Erde (...) und über das Weltgebäude’ gebeugt, suchte Schumann nach Flüssen und schrieb sie auf einer Liste auf. Das Verfahren verfeinert sich im Laufe der Zeit, indem er auch die preußischen Gebirge einzeichnete: ‚Ich reise, ich verreise’“. Robert Schumann hat ein Land gefunden, wo die Gewässer Flecken von schönem Smaragdgrün und sattem Blau in der Landschaft machen, denn die handkolorierten Kupferstiche sind voll mit Blau. Stielers „Atlas enthält auch Karten von der Oberfläche des Mondes, der Sternbilder der nördlichen und südlichen Hemisphäre und einen Plan des Sonnensystems. Auch Vincent Van Gogh war in das Netzwerk „schwarzer Pünktchen, die auf der Landkarte Städte und Dörfer versinnbildlichen“ vertieft. Der Maler sammelte systematisch Karten und fertigte nach demselben Stieleratlas Landkarten-Kopien an. Der Nomade und Natur- Denker Van Gogh hat seine letzten zwei Lebensjahrzehnte in mehr als zwanzig Städten verbracht, 1886 brach er auf der Suche nach einer „tropischen Malerei“ in die Provence auf. 1888, mitten im Winter, erreicht er Arles und berichtet an den Bruder Theo: „Beim Anblick der Sterne verfalle ich immer wieder ins Träumen, genauso einfach, wie die schwarzen Punkte auf der Landkarte, die Städte und Dörfer bedeuten, mich zum Träumen bringen.“ (Van Gogh Brief 506). Siehe: Vincent Van Gogh, Sämtliche Briefe, 6 Bände, hrsg. von Fritz Erpel, Berlin-Ost 1965; siehe weiter: Gerhard Fischer, Van Gogh Briefe als geschriebene Zeichnung. Eine Rekonstruktion der karthographischen Skizzen aus der Amsterdamer Periode (Mai 1877-Juli 1878), in: Die Erfindung der Gegenwart, a. a. O; S. 257-269; Krankentagebuch von Dr. Franz Richarz über Robert Schumann – Aufzeichnungen aus der Endenicher Anstalt von Januar bis Oktober 1855, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste - Berlin.

  294. Siehe: Tizian, Himmlische und irdische Liebe, Öl auf Leinwand, 118 x 278 cm, Rom, Galleria Borghese. Zu Tizian, einem der größten Koloristen siehe Filippo Pedrocco, Tizian, München 2000. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  295. Siehe: J. G. Herder, Kritische Wälder oder Betrachtungen über Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen, in: Sämmtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Berlin 1878, S. 94. Zur Ästhetik des Klangs siehe: Hans-Georg Nicklaus, Klangkörper, in: TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft, Bd. 23, hrsg. v. Franz Böckelmann, Dietmar Kamper und Walter Seitter, Bodenheim 1998, S. 7-23. Weiters: H. G. Nicklaus, Die Maschine des Himmels. Zur Ästhetik und Kosmologie des Klangs, München 1994.

  296. Siehe: Th. W. Adorno, Anton Webern, in: Klangfiguren. Musikalische Schriften I = Gesammelte Schriften 16, Frankfurt a. Main 1978, S. 125. C. Lévi Strauss, der die Verwandtschaft zwischen Gedächtnis, Musik, Dichtung, Mythos und Traum betonte und diese universelle „wilde Sinnensprache“ als die direkteste Ausdrucksform der Realität betrachtete, weist in der Schrift Mythologica I (dt; 1971), auf eine Hierarchie der Geräusche hin: „Der Mensch kann die Geräusche schlecht wahrnehmen und unterscheiden, vielleicht aufgrund des gebieterischen Anspruches den eine privilegierte Kategorie von Geräuschen an ihn stellt, die der artikulierten Sprache.“ Auf das bloße Geräusch in Bergs op. 6 macht Adorno aufmerksam: „In der Geschichte von Alban Bergs machen die Drei Orchesterstücke op. 6, beendet in den ersten Wochen des Krieges, die eigentliche Cäsur. (...) Wenn Berg alle dialektische Bewegung seiner Musik an Modellen erprobt, nicht nur den thematischen im Sinne der Schönbergischen Variationstechnik, sondern auch an stilistischen, als sei alles Neue das er wagt aus der totalen Variation eines Erinnerten hervorgegangen – wenn er den kleinsten Uebergang noch am Formganzen bewährt, dann weist das erste der Stücke, das Präludium, technisch auf den Pierrot, eben den Mondfleck. Als sollte der Cäsur selber die Allegorie gefunden werden, tendiert er zur Krebsgestalt bis zur Lulu unablässig eingesetzt wird als paradoxe Möglichkeit der Wiederholung des Unwiederhohlbaren. Sie ist freilich im Präludium gleichsam erst skizziert. Der Ursprung seines Charakters ist unmittelbar der Schluß des letzten Klarinettenstückes. Wurde dieser, als Ausbruch eines scheinlos Wirklichen aus der Form, mit dem Dadaismus genannt, so gehört der Beginn des Präludiums der Sphäre des Bruitismus an als dem strengen Korrelat des Dadaismus in der Musik. Das blosse Geräusch ist der Grenzwert des musikalischen Atoms gegen die aussermusikalische Wirklichkeit der Waren: die strengste, freilich auch die ausdruckslose Figur des Banalen. Mit blossem Geräusch setzt das Präludium ein und in blosses Geräusch zerfällt es wie in Staub: die Musik dazwischen ist ein Gleichnis, wie überhaupt nur Musik dem Stummen sich entringe. Manche Ideen Mahlers haben, romantisch umkleidet, dem Gleichen gegolten: etwa im ersten Satz der dritten Symphonie. Ein System von Schlagzeug ohne bestimmte Tonhöhe: Tam tam, Becken, kleine, grosse Trommel setzt ein; jedes Instrument vom anderen rhythmisch so unterschieden, dass die Erscheinung zufälligen, ungeformten Geräuschs zustande kommt.“ Siehe: F 21 Berg 2494.

  297. Siehe: Tonbildfilm: Zur Vorführung im Frankfurter Gloria-Palast, in: Frankfurter Zeitung, 12. 10. 1928, nachgedruckt in: Schriften 2, Frankfurt am Main 1979, S. 409-411. Die Mehrzahl von Kracauers Artikeln in der FZ, von denen viele unter Pseudonym oder sogar anonym veröffentlicht wurden, können in seinen eigenen Klebemappen gefunden werden, siehe: Nachlaß Kracauer, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar.

  298. Siehe: Luc Ferrari, Presque rien nº 2 ( „fast nichts nr. 2“, 1977, 21’ 25’’) Luc Ferrari erklärte 1929: „Ich habe Projekte geschaffen, die sich nicht unbedingt mit dem rein musikalischen Anliegen befassen, darunter etliche die eine Zusammenarbeit verschiedener Zweige erfordern welche zu einem selben Baum gehören könnten. Ich habe das Anliegen, mit unterschiedlichen Mitteln flüchtige Überlegungen, Empfindungen, Intuitionen auszudrücken und gleichzeitig Einblicke in das tägliche Leben zu liefern. Als Ausdrucksmittel können Texte, Partituren, eletroakustische Kompositionen, Tonreportagen, Filme, audio-visuelle Schauspiele und dergleichen dienen.“ Presque rien nº 2 findet sich auf einer Schallplatte (harmonia mundi, France) zusammen mit dem Stück promenade symphonique à travers un paysage musical. Für Liebhaber wird auch auf die Wergo Schallplatte (WER 60046, Mainz) hingewiesen, auf der zwei Kompositionen zu hören sind: (1) Und so weiter pour piano électrique et bande magnétique, (2) Music Promenade. Mixage originale.

  299. Die Vokalpassage im VI. Satz der „Lyrischen Suite“ war das bestgehüteteste Geheimnis von Alban Berg. Man mag dabei vielleicht an Rodins schöne Marmorskulptur Le secret (Das Geheimnis, 1909) denken. Seit dem Tode Bergs im Jahre 1935 war die tatsächliche Kompositionsstruktur der Quartettsuite der musikalischen Öffentlichkeit verborgen geblieben. In Bergs eigens für das Kolisch-Quartett verfaßtem Kommentar zur Lyrischen Suite fand Baudelaires Gedicht in Übersetzung Stefan Georges keinerlei Erwähnung. Berg bezeichnete das Largo desolato lediglich als Liedform und ersetzt diese Formulierung sogar durch „durchwegs cantabile“. Nur wenige intime Freunde wie etwa Bergs Privatsekretär Julius Schloß (1902-1972) wußten von der textgebundenen Musik im VI. Satz. Berg widmete Schloß, der an den Korrekturarbeiten der Suite beteiligt war, im Jahre 1927 ein Druckexemplar der Lyrischen Suite mit folgenden Worten: „Meinem lieben Schloss – Der in den Tagen der Korrekturen an diesem Quartett wahrhaft bewiesen hat, dass er auch den Schlüssel zu meiner Musik hat.“ Das analytische Besteck der Musikwissenschaft lüftete Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts das Geheimnis. Die langjährige Detektivarbeit begann schon Hans Ferdinand Redlich, der einen chronologischen Index von Bergs Kompositionen, Bearbeitungen und Schriften anlegte. Nach Redlich galt der Autograph der „Lyrischen Suite“ als verschollen und sollte sich im Besitz der Erben Alexander Zemlinskys befinden. Redlichs Hinweis stützte sich vorerst auf eine falsche Information der Nachlaßverwalterin Helene Berg und der Universal-Edition vom 24. Nov. 1953. Der amerikanische Komponist und Musikwissenschaftler George Perle, der schon auf die harmonische Bedeutung von F und H im Wozzeck hingewiesen hatte, traf am 17. April 1968 auf Julius Schloß in New York und bat um Aufklärung, Schloß verriet jedoch nichts. Erst nach dem Tode Julius Schloß (26. Okt. 1972) wurden die Zusammenhänge deutlich. Perle erläutert: „After Schloss’s death on 26 October 1972 some of his papers found their way to McGill University in Montreal. Among these, as described by D. R. McLean of the University of Toronto ataChapter meeting of tthe American Musicological Society on 17 April 1988, is ‚a manuscript copy [in Schloss’s Hand] of the secret vocal part of the finale; [and] a second copy of the score with annotations on the secret program.‘ „ 1976 studierte Douglas M. Green die Partitur der Lyrischen Suite in der Musiksammlung der Öst. Nationalbibliothek und identifizierte im VI. Satz des Streichquartettes das Baudelairegedicht „De profundis clamavi“. Siehe: Douglas M. Green, Das Largo desolato der Lyrischen Suite von Alban Berg, dt. in: Österreichische MUSIKzeitschrift, 33. Jg; März 1978, Heft 3, S. 79ff. Die Umzingelung der „Lyrischen Suite“ fand ihren Abschluß mit den parallel laufenden Recherchen von George Perle, der bei der in New York lebenden Tochter von Hanna Fuchs, Dorothea Fuchs-Robettin, die Widmungspartitur und 14 Briefe Bergs an die Geliebte entdeckte. 1992 erfolgte der Ankauf durch die Öst. Nationalbibliothek. Siehe umfassend: George Perle, Style and Idea in the Lyric Suite of Alban Berg, New York, Pendragon Press, 1995; The Secret Program of the Lyric Suite, International Alban Berg Society Newsletter 5. (June 1977), dt. in: Öst. MUSIKZEITschrift 33. Jg; März 1978, Heft 3. Schon in einem Brief am 13. August 1976 informierte George Perle Douglas M. Green: „Ich glaube, daß es da spezifische Leitmotive und Transformationen von Leitmotiven gibt, die im Zusammenhang mit einem Liebeserlebnis stehen, und Metapher im großen wie kleinen Maßstab, die mit Liebe zu tun haben und mit jedem Aspekt von Liebeserfahrung, sowie mit dem Zusammenhang zwischen Liebe und Tod und dem ego. Die wesentliche musikalische Zelle, die mit all dem zu tun hat, ist eine Vier-Ton-Figur, die nach und nach sich herauskristallisiert und ihre spezifische ‚Tonalität’ in der B-A-F-H- Verbindung im dritten Satz findet. Das Trio estatico ist eine Exposition des vierten Satzes. Der vierte Satz ist in genau demselben Sinn wie die Musik, die das Ertrinken Wozzecks begleitet, ein Stück Programmusik. Die Climax in Takt 54/55 tritt auf einen Akkord ein, der dieselben vier Noten umfasst. Das Tristan-Motiv entsteht aus denselben vier Noten am Beginn von Takt 26 (des sechsten Satzes). Es taucht zum letzten Mal in der ersten Violine von Takt 34/35 auf.“ Am 30. Nov. 2001 fand im Wiener Musikvereinssaal (Brahms-Saal) die erste Aufführung der „Lyrischen Suite“ mit dem „Largo desolato“ statt: es spielte das Artis- Quartett, Gerlinde Illich (Sopran) sang das Baudelaire-Poem „De profundis clamavi“.

  300. Siehe: Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan VIII, 31. Siehe weiters: Goethes Wortschatz. Ein sprachgeschichtliches Wörterbuch zu Goethes sämtlichen Werken von Prof. Paul Fischer, geh. Studienrat, Leipzig 1929.

  301. „La quantité des mots est bornée, celle des accents est infinie.“ Siehe: Denis Diderot, Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui parlent, Paris 1965; Denis Diderot, Salon de 1765, hrsg. von Else Marie Bukdahl und Annette Lorenceau, Paris 1984.

  302. Anläßlich seines zweiten Besuches im Hause Fuchs-Robettin in Prag im November 1926 fiel Alban Berg in der Bibliothek mit „den fünf Noten“ wie zufällig ein Buch in die Hände: „Baudelaires Fleurs du mal, in dem auf Seite 46 (2 x 23) De profundis clamavi steht. (Wußtest Du das?)“ Siehe: „16. Nov. 26 im Zug von Prag nach Pilsen“ [Berg an Hanna am 16. Nov. 1926]. „Jedes vom Körper des geliebten Wesens berührte Objekt wird Bestandteil dieses Körpers, und das Subjekt klammert sich leidenschaftlich daran.“ Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe. Aus dem Französischen übersetzt von H.- H. Henschen, Frankfurt a. Main 1984, S. 178. In der Widmungspartitur auf Seite 77 steht am Seitenende zu lesen: „In diesem letzten Satz muß die C-Seite des Violoncellos aufHheruntergestimmt werden.“ Berg rahmt den schwarzgedruckten Buchstaben H mit roter Tinte ein.

  303. Siehe: Michael Müller, Die Lehre des hl. Augustinus von der Paradiesehe und ihre Auswirkung in der Sexualethik des 12. und 13. Jahrhunderts bis Thomas von Aquin, Regensburg 1954.

  304. Vgl. Denis Rougement: „Die Liebe und das Abendland“.

  305. Siehe: Claudio Monteverdi, „Ego dormio“, a 2 vocieB. c. In: Claudio Monteverdi, TOMO XVI. PSALMI E FRAMMENTI, Seconda Edizione riveduta MCMLXVIII, Printed in Austria 1968 Die Stichplatten dieses XVI. Bandes der Monteverdi-Gesamtausgabe gingen während des 2. Weltkrieges verloren. Für den Nachdruck wurde eines der seltenen Exemplare von Malipieros Privatdruck faksimiliert. Claudio Monteverdi, unzufriedener Hofkapellmeister in Mantua, reiste 1610 nach Rom, um bei Papst Paul V. für eine Anstellung als Kapellmeister anzusuchen. In seinem Handgepäck befindet sich eine in Venedig gedruckte Partitur, diese enthält eine sechsstimmige Messe mit dem Titel „Missa ille tempero“ und die Marienvesper „Vespro della Beata Virgine“. In diesem bedeutenden Werk des Frühbarock, das nicht selten mit Bachs „h-Moll Messe“ in Verbindung gebracht wurde, kreist der immerwiederkehrende Ruf „Sancta Maria, ora pro nobis.“ In dieser gottesergebenen Zeit hat Galilei in Venedig die Erforschung des Himmels und der Milchstrasse vorangetrieben. Mit einem erfundenen Fernrohr konnte Galilei am 7. Januar 1610 zur ersten Nachtstunde den Planeten Jupiter sehen und der Gelehrte wird die epochemachende Schrift Sternenbotschaft alsbald in lateinischer Sprache zu verfassen beginnen. Aus unbekannter Meisterhand existiert im selben Zeitraum ein Porträt Claudio Monteverdis - die Person: getragen von der Energie des Mondes, im Auge der Sterne Tanz.

  306. Siehe: Robert Bresson, Reihe Hanser 256, Reihe Film 15, München 1978. Weiters: Arnaud Phillipe, Robert Bresson, Paris 1986.

  307. Siehe: Georg Büchner, Woyzeck, „Am Teich“. „ERSTE PERSON. Halt! ZWEITE PERSON. Hörst du? Still! Dort! ERSTE. Uu! Da! Was ein Ton! ZWEITE. Es ist Wasser, es ruft: schon lang ist niemand ertrunken. Fort! es ist nicht gut, es zu hören! ERSTE. Uu! jetzt wieder! – wie ein Mensch, der stirbt! ZWEITE. Es ist unheimlich! So dunstig, allenthalben Nebelgrau – und das Summen der Käfer wie gesprungene Glocken. Fort! ERSTE. Nein, zu deutlich, zu laut! Da hinauf! Komm mit!“ In: Georg Büchner, Werke und Briefe, a. a. O; S. 132. Die über dem Ertrinkenden zusammenschlagenden Wellen komponiert Berg in Wozzeck im III. Akt, Takt 284.

  308. Zit. nach: Max F. Schneider, Arnold Böcklin. Ein Maler aus dem Geiste der Musik, Basel 1943, S. 6.

  309. Zit. nach: Ulrich Horstmann, Elend in Elfenbein. Huysman' s „Gegen den Strich“ – ein unbändiger Roman aus einer verlorenen Zeit, in: DIE ZEIT, Nr. 40, 26. September 1991.

  310. Über die Magie des treffenden Wortes bei Baudelaire zitiert Jean-Paul Sartre Léon Cladel: „Von der ersten Zeile an, ach, was sage ich, bei der ersten Zeile, beim ersten Wort muß man sich schlagen. War dieses Wort wirklich genau? Gab es die exakt angestrebte Nuance wieder? Achtung! Nicht freundlich mit liebenswürdig verwechseln, nicht höflich mit zuvorkommend, einnehmend mit nett, nicht verführerisch mit aufreizend, nicht anmutig mit lieblich. O nein, das sind keine Synonyme! Jeder dieser Ausdrücke hat eine ganz eigene Bedeutung, sie bezeichnen mehr oder weniger in der gleichen Vorstellungswelt, aber keineswegs in gleicher Weise das gleiche. Niemals, nie und nimmer darf man den einen für den anderen verwenden. Wir, die wir literarische und nur literarische Arbeiter sind, müssen präzis sein, müssenimmerden absoluten Ausdruck finden, oder aber darauf verzichten, die Feder zu führen, und als Pfuscher sterben ... Suchen wir also, suchen wir! Wenn das Wort nicht existiert, werden wir es erfinden. Aber erst sehen wir nach, ob es nicht doch existiert! Und alsbald wurden die Wörterbücher unserer Sprache hergeholt, aufgeschlagen, durchblättert, durchforscht voller Besessenheit und Inbrunst... Dann kamen die Lexika der fremden Sprachen an die Reihe. Man befragte das französisch-lateinisch, dann das lateinisch-französische. Eine gnadenlose Jagd. Nichts bei den Alten? Also zu den Modernen! Und der zähe Etymologe, dem der größte Teil der lebenden Sprachen ebenso vertraut war wie der größte Teil der toten Sprachen, vergrub sich in englische, deutsche, italienische und spanische Wörterbücher und jagte... diesem aufsässigen, unfaßbaren Ausdruck hinterher, den er am Ende jedesmal selber schuf, wenn es ihn in unserer Sprache nicht gab.“ In: Jean-Paul Sartre, Baudelaire. Ein Essay mit einem Vorwort von Michel Leiris und einem Nachwort von Dolf Oehler, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 70,71. In dem Essay Baudelaire weist Jean Paul Sartre auf die Zärtlichkeiten hin, die Baudelaire mit seiner Mutter tauschte: „In meiner Kindheit gab es eine Zeit, die von leidenschaftlicher Liebe zu Dir erfüllt war. Hör zu und lies ohne Furcht. Nie habe ich es Dir so offen gestanden. Ich erinnere mich an eine Spazierfahrt im Fiaker. Du kamst gerade aus dem Krankenhaus, in das man Dich eingewiesen hatte, und um mir zu beweisen, daß du an Deinen Sohn gedacht hattest, zeigtet Du mir Federzeichnungen, die Du für mich gefertigt hattest. Glaubst Du nun, daß ich ein furchtbares Gedächtnis habe?- Dann: der Platz Saint-André-des Arts und Neuilly; lange Spaziergänge und immer neue Zärtlichkeiten! Ich erinnere mich der Quais, die an jenem Abend so traurig waren. - Ach, das war für mich die schöne Zeit der mütterlichen Zärtlichkeiten ... Ich lebte immer in Dir, Du gehörtest mir ganz allein. Du warst Idol und Kamerad in einem.“ Brief Baudelaires vom 6. 5. 1861 an seine Mutter, Madame Aupick. In: Jean-Paul Sartre, Baudelaire, a. a. O; S.41.

  311. Siehe das Inventar von Gegenständen, die sich in Bergs Wohnung befanden, 17. Aug. 1926: F21 Berg 474/1-2. Eine Aufstellung von Bergs Bibliothek am 12. Nov. 1930, siehe F21 Berg 465/1-18. Das Dokument ist sehr aufschlußreich und beinhaltet eine Liste der Bücher 1 – 100; festgehalten werden Autor, Titel, Ausgabe, Anzahl der Bände, Einband, Illustration und Preis. In F21 Berg 465/1-18 kann man Bergs exquisite Musikbibliothek „Ganzleinen bzw. schöne Halbleinenbände“ nachlesen.

  312. Siehe: The Second Empire (1852-1870). Art in France under Napoleon III, Ausstellungskatalog des Philadelphia Museum of Art, 1978. Siehe weiters: Baudelaire 1848: Gedichte der Revolution, hrsg. und kommentiert von O. Sahlberg unter Mitarbeit von P. Fischer, Berlin 1977; Francois Porche, Der Leidensweg des Dichters Baudelaire, Deutsche Übertragung von Clara Stern, Berlin 1930.

  313. Charles Baudelaire hat das Gedicht „rêve parisien“ („Pariser Traum“) Constantin Guys (1805- 1892) gewidmet und in einem Aufsatz auf die Sehnsucht nach dem Morgenland in der Malerei bei Guys hingewiesen. Baudelaire hält den Blick der orientalischen Hure fest: „Elle porte le regard à l’horizon, comme la bête de proie; même égarement, même distraction indolante, et aussi, parfois, même fixité d’attention.“ Ch. Baudelaire, OEuvre complétes par Claude Pichois, Bd. II, Paris 1975/76, S. 359. Baudelaire rühmte Delacroix, Manet und Guys. Der Dichter sammelte Guys Darstellungen von Kokotten zu Fuß oder im Wagen und Frauen in Bordellen. Baudelaire liebte an Guys den „Verlaine des Bleistifts“ – die Straße wurde Guys zum Forschungsgebiet, zum Atelier. Walter Benjamin hat auf Guys und Nietzsche hingewiesen: „Die große physiognomische Ähnlichkeit von Guys und Nietzsche ist zu betonen. Nietzsche spricht dem indischen Pessimismus‚ jene ungeheure, sehnsüchtige Starrheit des Blicks, in welchem das Nichts sich spiegelt’ zu (...) Dazu ist zu vergleichen, wie Baudelaire den Blick der orientalischen Hure bei Guys (...) kennzeichnet: er ist auf den Horizont gerichtet; starre Aufmerksamkeit und tiefes Desorientiertsein durchdringen sich in ihm.“ Walter Benjamin, Baudelaire, Konvolut J 80 a, 5, in: Das Passagen-Werk, Erster Band, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1982, S. 467. „Die Wiege dieses echten Franzosen stand in Holland. Sein Geburtsschein (...) lautete: ‚Ernestus, Adolphus, Hyacinthus, Constantinus Guys, geboren zu Vlissigen, den 3. Dezember 1805' (...) Es liegt manche Skizze“, schreibt Georges Grappe in seiner schönen Monographie, „manches Werk von ihm vor, die einen sonderbaren, einen märchenhaften Orient darstellen, dessen wirkliche Lage man gern präzisieren möchte. Er schildert uns Basare, lange, enge, steile, schlängelnde, mangelhaft gepflasterte Gassen, über welchen die aufgezogenen Jalousien eine Art Dach zu bilden scheinen. Der Himmel ist kaum zu sehen, sein auffallendes Türkisblau flößt dem Beschauer Traurigkeit ein. In dieser Dekoration bewegen sich malerische Menschengruppen, die auf den Torschwellen herumliegen mit gestickten Jacken, buntem und armseligen Flitterwerk. Aus dem Ganzen steigt ein orientalischer Duft, an dem man sich gerne berauschen möchte (...) Der Balkan, Griechenland, die beiden Türkeien, Persien, Indien; wohin führten ihn seine Wanderungen? Die Mischung der Rassen, der Trachten, der Sitten, ein gewisser Anstrich verrufener Stadtteile sind wohl geeignet, uns zu verwirren. Von Präzision ist keine Spur; vielleicht ist es aber besser so, und wir haben keine Veranlassung, uns darüber zu beklagen. Eine Kleinigkeit Mysterium verdoppelt ja den Reiz dieser Skizzen, die der Künstler mit Vorliebe unbeendigt ließ (...). Baudelaire hat uns die Erscheinung unseres Künstlers bei der Armee verewigt: ‚Wer ist dieser Reiter mit dem weißen Schnurrbart, mit den scharf ausgeprägten Gesichtszügen, der, erhobenen Hauptes, die schreckliche Poesie des Schlachtfeldes einzuatmen scheint, während sein Pferd auf der Erde herumschnubbert, und sich seinen Weg durch die angehäuften Leichen, die zappelnden Füße, die in seltsamen Grimassen verzerrten Gesichter bahnt?’(...) Von der Straße aus, wo er als wahrhaftiger, anonymer, unbemittelter, aber leidenschaftlicher Zeuge der [Equipagen, Reiter und Uniformen] Beobachtungen machte, verfolgte er unermüdlich die Feerie. Man braucht nur in den Kartons der wunderbaren Nadarschen Sammlung diese Skizzen durchzublättern, in denen Guys für alle Zeiten seine Erinnerungen an die blendenden Visionen festgehalten hat. Sie sind von solcher Schönheit, so vollkommen, so naturgetreu, daß heute noch das Leben in ihnen vibriert (...) Der alte Guys mit seinen 65 Jahren (...) rollt immer tiefer in den Abgrund, bis in die Animierkneipen hinunter, wo man die ‚Grüne’, wie er den Absinth zu nennen pflegte, trinkt, bis zu den geschlossenen Häusern der Peripherie (...) er ist der Verlaine des Bleistifts. Man muß das Porträt gesehen haben, das ihm von Manet gewidmet wurde, um die Brüderlichkeit zu begreifen, die in vorgerückten Jahren diese wunderbaren beiden alten Kinder verband. Mit seiner Feder (...) schildert er auf eine rührende, beinahe liebevolle Weise die ganze Niedertracht dieser untersten Schichten der Menschheit (...) Er schwärmte für die reizvollen Bewegungen des Walzers, für das Ausrecken des Cancans, in welchem sich Clodoche mit den berühmten Cancaneuses, Alice-la –Provençale, Finette, Rosalba, Mimi-Belles-Dents austobte. Gutmütig betrachtete er den Reigen nach einer Gelegenheit lauernden Kokotten. (...) Die sinnlichen, geilen Gesten dieser Weiber, bei denen intime Wäsche, ein Strumpfband, auch dann und wann ein Stückchen nackter Haut zum Vorschein kommt, locken ihn an - die Aschenreste seiner Leidenschaft. Guys hält alle Etappen der grobsinnlichen Unzucht fest, er erfaßt die Geilheit der Gebärden, das sich Gehenlassen der Ausschweifung, diese 'Tristezza atroce della carne immonda', von welcher im d' Annunzio die Rede ist. Im Grunde wird dieses Werk dem ein Duft von Pulver, Pferdestall und Schminke entströmt, für spätere Generationen von größter Wichtigkeit sein. Es wird uns gewiß niemand in der Behauptung widersprechen, daß es das zuverlässigste, lebendigste Denkmal ist, das uns über das Zweite Kaiserreich geschenkt wurde.“ Siehe: Georges Grappe, Constantin Guys, Otto Beckmann Verlag, Berlin, o.J.

  314. Siehe: Charles Baudelaire, LXIII L’invitation au voyage (Einladung zur Reise), geschrieben am 1. Juni 1855.

  315. Siehe: Joris-Karl Huysman, À rebours, Paris 1977. Die L’art – pour l’art-Doktrin Huysmans hat die absolute Souverenität der Kunst gepredigt und beweist diese Selbstherrlichkeit da, wo es der schöne Schein am Schwersten hat: Im Verfall und im Verwesen, im Widerwertigen und Verkommenen, im Häßlichen und Siechen. In „ À rebours“ hält Huysman jeden verschwommenen morbiden Zustand erschöpfter Geister und trauriger Seelen fest.

  316. Siehe: Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, Kapitel VII: Lob der Schminke, dt. in: Baudelaires Werke, Bd. 4, übersetzt v. Max Bruns, Kempten 1981, S. 310. Der Maler des modernen Lebens ist für Baudelaire Constantin Guys. Auf seine Bitte wurde Guys im Essay nur mit den Initialen M. G. angeschrieben.

  317. Zit. nach: Claude Pichois und Jean Ziegler, Baudelaire, Göttingen 1994, S. 302.

  318. In den 60er und 70er Jahren wurden die Werke Walter Benjamins an die Seite derjenigen von Bertold Brecht, Georg Lukács und Theodor W. Adornos gestellt. In den 80er Jahren hat sich, geprägt durch die Interpretationen Gershom Scholems, eine jüdisch-messianische Lektüre Benjamins in den Vordergrund gestellt und in den 90er Jahren wurde er als Theoretiker des Daseins und der Differenz gelesen. Jüngst ist eine Studie von Wolfgang Bock erschienen, die im Denken Benjamins die Motivik der „geretteten Nacht“ sieht. Siehe weiter: Wolfgang Bock, Walter Benjamin – Die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld 2000.

  319. Zit. nach: Pascal Pia, Charles Baudelaire in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1958, S. 93.

  320. „Am 13. Juni sandte er De Broise eine Liste der Empfänger von Rezensions- und Widmungsexemplaren, die mit Gautier begann und namentlich Sainte-Beuve, Barbey d’Aurevilly, Philoxène Boyer, Veuillot, Philarète Chasles, Leconte de Lisle, Asselineau und Buloz aufführte sowie den Minister des Staates und kaiserlichen Hauses und den Unterrichtsminister. Longfellow in Amerika und Tennyson, Browning, De Quincey und Victor Hugo in England sollten ebenfalls Exemplare zugesandt werden. Baudelaire hatte etwas mehr als zwanzig Exemplare auf papier de Hollande erbeten und erhalten. Er schenkte sie Freunden und Gönnern sowie seiner Mutter und Mme Sabatier. Die Bände für Mme Aupick, Mme Sabatier und den Minister Achille Fould sowie fünf Bände auf gewöhnlichem Papier wurden dem Buchbinder Lortic anvertraut. Dieser Künstler (...) verstand es wie kein anderer, Franz- oder Halbfranzbände aus schlichtem Maroquinleder anzufertigen, deren Rücken mit kleinen, sehr hervorspringenden Rippen geschmückt waren- Meisterwerke diskreter Perfektion, der einzigen, die ein Dandy ertragen konnte (...) [Baudelaires] eigenes Exemplar der Fleurs du Mal auf gewöhnlichem Papier wird in der Bibliothèque Mazarine aufbewahrt. (...) Auch Baudelaires Widmungen sind beispielhaft für einen genau auf den Adressaten abgestimmten Stil.“ In: Claude Pichois, Jean Ziegler, Baudelaire. Aus dem Französischen von Tamina Groepper, Göttingen 1994, S. 268.

  321. Von Victor Hugo, dem Baudelaire ein Exemplar der „Fleurs du Mal“ mit einem Brief und handschriftlicher Widmung in sein Exil Guernsy schickte, traf nach der Urteilsverkündigung folgender Brief ein: „Hautville House – 30. August 1857. Ihren hochherzigen Brief, Monsieur, und Ihr schönes Buch habe ich erhalten. Die Kunst ist wie der Äther: das Feld der Unendlichkeit. Sie haben den Beweis dafür geliefert. Ihre Blumen des Bösen strahlen und blenden wie Sterne. Fahren Sie so fort. Ein lautes Bravo Ihrem kraftvollen Geiste! Erlauben Sie mir, diese wenigen Zeilen mit einem Glückwunsch zu schließen. Eine der seltenen Auszeichnungen, die das herrschende Regime gewähren kann, ist Ihnen zuteil geworden. Was es seine Justiz (auch: seine Gerichtsbarkeit, seine Gerechtigkeit) nennt, hat Sie verurteilt im Namen dessen, was es seine Moral nennt. Das ist ein Kranz mehr. Ich drücke Ihnen die Hand, Dichter. Victor Hugo.“ In: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. ?, a. a. O; S. 319.

  322. Siehe: Charles Baudelaire. Sämtliche Werke/Briefe, Bd, a. a. O; S. 364. Auf derselben Seite heißt es weiter: „Baudelaires letzte Äußerung über sein Buch findet sich in einem am 18. Februar 1866 geschriebenen Brief an Ancelle: ‘Les fleurs du Mal, ein vergessenes Buch! Das ist zu dumm. Es wird immer nach ihnen verlangt. Vielleicht beginnt man in einigen Jahren, sie zu verstehen... Muß ich es Ihnen erst sagen, der Sie es ebensowenig erraten haben wie die andern, daß ich in dieses furchtbare Buch mein ganzes Herz, meine ganze Zärtlichkeit, meine ganze Religion (travestiert), meinen ganzen Haß hineingelegt habe? Freilich werde ich das Gegenteil schreiben, ich werde bei allen Göttern schwören, dies sei ein Buch der reinen Kunst, nichts als Grimassen und Gauckelstücke, und ich werde lügen wie ein Jahrmarkts-Zahnausreißer.’“

  323. Zit. nach: Claude Pichois, Jean Ziegler, Baudelaire, a. a. O; S. 349.

  324. Walter Benjamin (geb. 15. Juli 1892 in Berlin, auf der Flucht vor den Nazis Freitod am 27. September 1940 in Port -Bou, Spanien). Am 17. März 1933, sechs Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, verließ Benjamin seine Geburtstadt Berlin und emigrierte nach Paris. Am 31.12. 1933 skizzierte er seine Situation gegenüber Gershom Scholem wie folgt: „Das Leben unter den Emigranten ist unerträglich, das einsame nicht erträglicher, eines unter Franzosen nicht herbeizuführen. Es bleibt also nur die Arbeit, aber nichts gefährdet sie mehr als sie so deutlich als einziges inneres Auskunftsmittel zu erkennen.“ Paris blieb Benjamins Wohnort bis zu seiner Flucht im Juni 1940, wenige Tage vor der Okkupation der Stadt durch die Nazis. Die Arbeit am Passagen-Werk vollzog sich hauptsächlich auf der Bibliothèque Nationale: „(...) sie erlaubt mir sogar mich eines bibliographischen Luxus’ zu erfreuen, der mich für allen sonst fehlenden entschädigen muß.“ Benjamin an Richard Weissbach, Paris 1. 9. 1935. Von 1937-1940 arbeitete Benjamin in Paris an einer Baudelaire-Interpretation. Im Vordergrund stand dabei das Exzerpieren der einschlägigen, oftmals abgelegenen Literatur auf der Bibliothèque Nationale, gespeist mit theoretischen Reflexionen und Notizgruppen. Nach Adorno war es Benjamins Absicht „auf alle offenbare Auslegung zu verzichten und die Bedeutung einzig durch schockartige Montage des Materials hervortreten zu lassen (...) Zur Krönung seines Antisubjektivismus sollte das Hauptwerk nur aus Zitaten bestehen“. Siehe: Th. W. Adorno, Über Walter Benjamin, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. Main 1970, S. 26. Das 1935 entstandene Exposé Benjamins „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ gibt einen Abriß über die Fährten, um die es Benjamin in seiner „Urgeschichte des 19. Jahrhunderts“, „einer materialen Geschichtsphilosophie des 19.Jahrhunderts" (Rolf Tiedemann), ging. Was an theoretischer Anschauung in sämtlichen Konvoluten A - Z, a, b, d, g, k, l, p, r im Passagen-Werk verzeichnet steht, ist zum weitaus größten Teil in das Konvolut J: Baudelaire - das als „Miniaturmodell des Passagenwerks“ zu erblicken ist- eingegangen. Die Entstehungsgeschichte des „Passagen-Werks“ (1927-1940) ist in den erhaltenen Briefen Benjamins an Gershom Scholem, Siegfried Kracauer, Hugo von Hofmannsthal, Max Ryncher, Max Horkheimer und an Gretel und Theodor W. Adorno skizziert. Siehe: Walter Benjamin, Briefe, hrsg. von Gershom Scholem und Th. W. Adorno, Frankfurt a. Main 1966. „Am 20. Januar 1938 bezieht Walter Benjamin sein letztes Pariser Domizil, 10, rue Dombasle. Er bewohnt hier ein Einzimmerappartement, das im 7. Stock neben dem Lichtschacht gelegen war (...) in den ersten Monaten [trifft sich Benjamin häufig mit Georges Bataille und Pierre Klosowski], er arbeitet weiter an: Das Paris des Seconde Empire bei Baudelaire und an der Berliner Kindheit um neunzehnhundert (...). Benjamin berichtet Max Horkheimer (...) daß die Baudelaire Arbeit entscheidend beeinflußt wird von Louis Auguste Blanquis L’éternité par les Astres [1872] (...). Das nicht ausgeführte Gesamtkonzept Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus sah drei Teil vor: I Idee und Bild, II Antike und Moderne, III Das Neue und das Immergleiche. 'Der erste Teil', so schreibt Benjamin am 16. April an Horkheimer, ‚wird die maßgebende Bedeutung der Allegorie in den Fleurs du Mal zeigen. Er stellt die Konstruktion der allegorischen Anschauung bei Baudelaire dar, wobei die fundamentale Paradoxie seiner Kunstlehre- der Widerspruch zwischen der Theorie der natürlichen Korrespondenzen und der Absage an die Natur- transparent werden soll (...).’ Die drei geplanten Kapitel (...) erhalten später neue Titel: I Baudelaire als Alegoriker, II Das Paris des Seconde Empire bei Baudelaire, III Die Ware als poetischer Gegenstand (...). Vom 18. -28. September 1938 ist Benjamin in Kopenhagen, um den Baudelaire, der nach Benjamins Angabe unter dem Eindruck der Tschechoslowakei Krise und der Gespräche zwischen Hitler und Chamberlain abgeschlossen wurde, zu diktieren. (...) Am 10. November 1938 schreibt Adorno seinen berühmten Brief an Benjamin, in dem er seine scharfe, man darf sagen: maßregelnde Kritik an Benjamins Baudelaire und seine Enttäuschung artikuliert. Es werden, so heißt es, Motive versammelt aber nicht durchgeführt. Es fehle die theoretische Interpretation (...).’ Die Kritik Adornos zerstörte Benjamins Hoffnung darauf, mit dieser Arbeit nicht nur Anerkennung seiner Arbeit, sondern auch eine substantielle Verbesserung seiner Beziehung zum Institut für Sozialforschung zu erlangen (...). Trotz der erheblich deprimierenden Enttäuschung nimmt Benjamin schon im Februar des nächsten Jahres eine neue Fassung in Angriff“. In: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik von Willem van Reijen und Herman van Doorn, a. a. O; S.175ff.

  325. Siehe: Charles Baudelaire, „Tableaux parisiennes“, „A une passante“, übersetzt von Walter Benjamin. In: Gesammelte Schriften, Bd. IV. 1, a. a. O; S. 41.

    „A UNE PASSANTE

    La rue assourdissante autour de moi hurlait.
    Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
    Une femme passa, d’une main fastueuse
    Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;

    Agile et noble, avec sa jambe de statue.
    Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
    Dans son œil, ciel livide où germe l’ouragan,
    La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.

    Un éclair… puis la nuit !- Fugitive beauté
    Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
    Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?

    Ailleurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être!
    Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
    O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!“

  326. Siehe: Bernhard Teuber, Nachahmung des Bösen bei Baudelaire, in: Mimesis und Simulation, hrsg. von Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg im Breisgau 1998. Der Blick, den die Hure und der Irre einander zuwerfen, ehe sie aneinander vorübergegangen sind, ist „Liebe nicht sowohl auf den ersten als auf den letzten Blick (...) Was den Körper in Krampf zusammenzieht – crispé comme un extravagant, heißt es – das ist nicht die Beseligung dessen, von dem der Eros in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift; es hat mehr von der sexuellen Betroffenheit, wie sie einen Vereinsamten überkommen kann.“ Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Gesammelte Schriften, Bd. I. 2, a. a. O; S. 605ff.

  327. Siehe: Dolf Oehler, Pariser Bilder 1 (1830-1848). Antibourgeoise Ästhetik bei Baudelaire, Daumier und Heine, Frankfurt a. Main 1979, S. 245ff.

  328. Ein anderes Gemälde Courbets mit dem Titel „Femmes damnées“, das in Paris abgelehnt, wurde in Brüssel 1864 unter dem Titel „Venus verfolgt Psyche“ mit ihrer Eifersucht gezeigt.

  329. „Die Figur der lesbischen Frau gehört zu den heroischen Leitbildern Baudelaires. [In der Sprache seines Satanismus bringt er das selbst zum Ausdruck. Es bleibt ebensowohl in einer unmetaphysischen, kritischen faßlich]. Das neunzehnte Jahrhundert begann, die Frau rückhaltlos in den Prozeß der Warenproduktion einzubeziehen. Die Theoretiker waren sich darin einig, daß ihre spezifische Weiblichkeit damit gefährdet würde; männliche Züge müßten im Laufe der Zeit notwendig an der Frau in Erscheinung treten. Baudelaire bejaht diese Züge. Gleichzeitig aber will er sie der ökonomischen Botmäßigkeit streitig machen. So kommt er dazu, dieser Entwicklungstendenz der Frau den rein sexuellen Akzent zu geben. Das Leitbild der lesbischen Frau bringt die zwiespältige Position der ‚Moderne’ gegenüber der technischen Entwicklung zum Ausdruck. (Was er George Sand nicht verzeihen konnte, das war wohl, dieses Bild dessen Züge sie trug, durch ihre humanitäre Gesinnung profaniert zu haben. Baudelaire sagte, sie sei schlimmer als Sade.)“ Walter Benjamin, Baudelaire, Konvolut J 49 a, 1; in: Das Passagen-Werk, Erster Band, a. a. O; S. 400. „Die lesbische Liebe trägt die Vergeistigung bis in den weiblichen Schoß vor. Dort pflanzt sie das Lilienbanner der ‚reinen Liebe’ auf, die keine Schwangerschaft und keine Liebe kennt“. Walter Benjamin, Malerei, Jugendstil, Neuheit, Konvolut S 8 a, 3; in: Das Passagen-Werk, Zweiter Band, a. a. O; S. 693.

  330. Siehe: Charles Baudelaire, Femmes damnées, „Delphine et Hippolyte“ (Verdammte Frauen, „Delphin und Hippolyta“), übersetzt von Friedhelm Kemp, in: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 4, a. a. O; S.15-23.

    „Mes baisers sont légers comme ces éphémères
    Qui caressent le soir les grands lacs transparents,
    Et ceux de ton amant creuseront leurs ornières
    Comme des chariots ou des socs déchirants; [Vers 29-34]

    Va, si tu veux, chercher un fiancé stupide;
    Cours offrir un coeur vierge à ses cruels baisers;
    Et, pleine de remords et d' horreur, et livide,
    Tu me rapporteras tes seins stigmatisés...“ [Vers 69-72].

    Baudelaire gebraucht für Lesbierinnen den Ausdruck Tribaden, eine frühere Version der Femmes damnées, die Yoshio Abé entdeckte und in seiner japanischen Übertragung der Fleurs du Mal veröffentlicht hat, beginnt mit dem Vers: „Les tribades en rond sur le sable couchées...“ Der Name Tribade (oder Tribas von tribein) ist der bei den griechischen Lexikographen übliche, von den Römern meist übernommene Ausdruck für Frauen, die erfüllt von der Liebe zum eigenen Geschlecht sind. Daneben kommt der Ausdruck Hetairistria und Dihetairistria vor, die beide von Hetaira=Freundin abgeleitet sind, spätlateinisch findet sich auch Frictrix, (von fricare, reiben). Sappho versammelte einen Kreis junger Mädchen um sich, unter denen Anagora, Euneika, Gongyla, Telesippa, Megara, Klaïs und Athis in den Gedichtfragmenten erwähnt werden: „Euch ihr Holden, bleib' ich von ewig gleicher Gesinnung.“ Gegen Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts lebte Nossis, eine Dichterin aus der unteritalischen Stadt Lokris, die Mädchen in Epigrammen anschwärmte, von denen einige erhalten sind. Siehe weiter: Hans Licht, Sittengeschichte Griechenlands. Das Liebesleben der Griechen, Zürich 1926.

  331. Siehe: Pascal Pia, Baudelaire, a. a. O; S. 59-62. Siehe weiters: Charles Baudelaire, Über amoureuse Stoffe und Tassaert, in: Ch. Baudelaire, Gesammelte Schriften, Bd. 4, übersetzt von Max Bruns, Dreieich 1981, S. 49-54.

  332. „In der Erotologie des Verdammten – so könnte man die von Baudelaire nennen – sind Unfruchtbarekeit und Impotenz die entscheidenden Gegebenheiten. Siealleinsind es, die den grausamen und verrufenen Triebmomenten in der Sexualität den rein negativen Charakter geben. Sie verlieren ihn nämlich im Akt der Zeugung ebenso wie im Aktus des lebenslänglichen Verhältnisses (kurz der Ehe). Diese auf lange Sicht gestifteten Wirklichkeiten – das Kind, die Ehe – hätten nicht die geringste Gewähr für ihre Dauer, wenn nicht die destruktivsten Energien des Menschen in ihre Stiftung eingingen, zu deren Solidität sie nicht weniger sondern mehr beitragen als viele andere. In diesem Beitrage aber sind sie so weit legitimiert als dies für die entscheidenden menschlichen Triebregungen in der gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt dargestellt werden.“ Walter Benjamin, Baudelaire, J 66 a, 9, in: Das Passagen-Werk, Erster Band, a. a. O; S. 438.

  333. In der Erstausgabe der „Fleurs du Mal“ (1857) stand „L’ame du vin“ als vorletzter Abschnitt zwischen „Révolte“ und „La mort“. Der Wein-Zyklus besteht aus: „L’ame du vin“ („Die Seele des Weines“), „Le vin des chiffonniers“ („Der Wein der Lumpensammler“), „Le vin de l’assasin“ („Der Wein des Mörders“), „Le vin du solitaire“ („Der Wein des Einsamen“), „Le vin des amants“ („Der Wein der Liebenden“).

  334. Siehe: Charles Baudelaire, „L’ame du vin“, Vers 20, übersetzt von Friedhelm Kemp.

  335. Siehe: Alban Berg, Der Wein. Particell mit Titel: „Der Wein (Baudelaire – Stefan George) Konzertarie mit Orchester 23. 7. 29 Berghof (Schlußdatum)“, siehe F 21 Berg 24; Reihentabellen zur „Wein-Arie“, siehe: F21 Berg 80/II; Zahlenskizzen zur „Wein-Arie“; siehe: F21 Berg 81; Skizzen zur „Wein-Arie“ - Entwürfe zum Tango-Rhythmus und Hexachord, siehe: F21 Berg 432/18-32. Literatur: Gimmler Bärbel, Die „Wein-Arie von Alban Berg“, München 1991, Typoscript; Herwig Knaus, „Alban Bergs Skizzen und Vorarbeiten zur Konzertarie Der Wein, in: Festschrift Othmar Wessely zum 60. Geburtstag, Tutzing 1982, S. 355-379; „Kompositionstechnik und Semantik in Alban Bergs Konzertarie Der Wein nebst einem Anhang zum Violinkonzert“, in: Alban Berg Studien, Alban Berg Symposium, Wien 1980, a. a. O; S. 136ff.

  336. Zit. nach: Pacal Pia, Charles Baudelaire, a. a. O; S. 74. Das Prosagedicht findet sich in Le Spleen de Paris: „Envirez-vous, envirez vous sans cesse! De vin , de poésie ou de vertu, à votre guise...“

  337. „4. Dez. 29“ [Berg an Hanna am 4. Dezember 1929]. Die Gedichtzeile „Laß Schwester und Brust an Brust fliehn...“ in der Übersetzung Stefan Georges heißt im Original „Ma sœur, côte à côte nageant, / Nous fuirons sans repos ni trêves / Vers le paradis des mes rêves“. Friedhelm Kemp übersetzt sinngemäß: „Meine Schwester, Seit an Seite schwimmend, fliehn wir ohne Ruh noch Rast dem Paradiese meiner Träume zu.“

  338. Maschinschrift, roter Bleistift und Tintenschrift vermengen sich aufs Schönste. Siehe: F21 Berg 25/I-IV. Soma Morgensterns Antwort erfolgte in Tinte. Siehe: Rosemary Hilmar, Katalog der Musikhandschriften, Schriften und Studien Alban Bergs im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek. Alban Berg Studien 1, hrsg. von Franz Grasbeger u. Rudolf Stefan, Wien 1980, S. 115, Nm. 383, fol 1, 1’. Berg an Morgenstern, 12. 6. 1929, siehe: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 219.

  339. Otto Jokl (1891 Wien – 1963 New York), Schüler Alban Bergs, Korrepetitor und Kapellmeister in Wien und Berlin. Jokls Korrespondenz mit Berg siehe: F21 Berg 901.

  340. Siehe: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 224-225. Morgenstern antwortete Berg am 18. August 1929: „Auch habe ich Dir ja Gründe angegeben, warum ich Deine Anfrage zu Baudelaire nicht gleich hatte beantworten können. Den Rest von Groll darüber hoffe ich noch mündlich beseitigen zu können (...) Es freut mich, daß Du mit der Arie zufrieden bist, wenn Du es schon selbst bist, werden die Anderen es gewiß noch besser treffen.“ Siehe: F21 Berg 1106/25.

  341. Siehe: Charles Baudelaire, Le vin de l’assasin, Vers 20. Übersetzt von Friedhelm Kemp.

  342. Benjamin nennt Baudelaire einen Lumpensammler: „Baudelaire vereint die Armut des Lumpensammlers, den Hohn des Schnorrers, die Verzweiflung des Parasiten“. Walter Benjamin, Baudelaire, Konvolut J 84 a, 4, in: Das Passagen-Werk, Zweiter Band, a. a. O; S. 474. Alban Berg drängte nicht nur den Nihilismus Büchners in Wozzeck zurück, auch der Subversion Baudelaires im „Wein-Zyklus“ wagt er nicht zu folgen. Er schließt die Gedichte „Der Wein des Lumpensammlers“ und „Der Wein des Mörders“ aus. „Le vin des chiffoniers“ ist in drei Schichten überliefert, (in 32 und in 24 Versen) und es existiert eine Prosaparaphrase in „Du vin et du Hachich“. Folgen wir einigen Zeilen: Der Lumpensammler „wie ein Verseschmied stolpernd (...) Ja, diese Leute, ganz gekrümmt unter der Last der Überreste und des stinkenden Dungs, den Paris auswirft, geplagt und bedrückt von häuslichen Sorgen, zerschlagen von der Arbeit und gequält vom Alter, haben eine nächtliche Stunde, wo sie voller Illusionen und den Geist von seltsamen Visionen erhellt, dahingehn, vom Wohlgeruch der Fässer duftend, eine Armee befehligend und Schlachten gewinnend, und schwörend, daß sie ihr Volk immer glücklich machen werden (...)“ Siehe: Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 3?, a. a. O; S. 411. Siehe weiter: Irving Wohlfarth, Et Cetera? The Historian as Chiffonier?, in: New German Critique 39, 1986. Vgl. „Le soleil“: „Durch die alte Vorstadt, (...) beliebt es mir, (...) allein mein wunderliches Fechthandwerk zu üben, in allen Winkeln nach Reimen witternd, über Worte stolpernd wie über Pflastersteine und bisweilen auf lang erträumte Verse stoßend. (...)“

  343. Siehe: Charles Baudelaire, Le vin des chiffoniers, Vers 30. Übersetzt von Friedhelm Kemp.

  344. Siehe: Charles Baudelaire, Le vin du solitaire, Vers 8. Übersetzt von Friedhelm Kemp.

  345. Siehe: Alban Berg, Partitur der „Wein-Arie“ mit dem Titel und Widmung: „Der ersten Interpretin/ Frau Ruzena Herlinger / in herzlicher Ergenbenheit / Der Wein / (Baudelaire – Stefan George) / Konzertarie / mit Orchester / von Alban Berg / Partitur / U. E.“ Siehe F21 Berg 25/I. Ruzena Herlinger sang die „Wein-Arie“, die Berg in ihrem Auftrag komponierte, bei der Uraufführung am 4. 6. 1930 unter Hermann Scherchen in Königsberg.

  346. Die Macht der Jazz-Instrumente in der Oper Lulu: 3 Klarinetten in B (eine davon Tenorsaxophon in B), Altsaxophon in Es, 2 Jazztrompeten in C, Susaphon, Jazz-Schlagwerk: große und kleine Trommel, Becken (frei hängend), große und kleine Tempelblocks, Stahlbesen, Vibraphon, Triangel, Becken (1 Paar), große (Jahrmarkts-)Trommel mit daran befestigtem Becken (Clown), Banjo, Klavier, 3 Violinen, Kontrabaß.

  347. Zwanzig Jahre nach Baudelaires Tod wurden die „Journaux intimes“ („Tagebücher“) in Eugène Crépets Ausgabe der „Oeuvres postumes“ veröffentlicht. Hier wird zitiert nach Claude Pichois und Jean Ziegler, Baudelaire, a. a. O; S. 351. Die Tagebuchnotiz Baudelaires findet in den Fleurs du Mal in dem Prosagedicht „Le gouffre“ („Der Abgrund“) eine eisige Entsprechung. „DER ABGRUND Pascal hatte seinen Abgrund, der immer mit ihm ging. – Ach! alles ist Abgrund, - Tat, Wunsch, Traum, Wort! und über alles Haar meines Leibes, das steil sich sträubt, streicht häufig, ich spüre es, der Wind der Angst. / / Oben, unten, überall die Tiefe, der leere Strand, das Schweigen, der Raum, gräßlich und übermächtigendAuf den Grund meiner Nächte zeichnet mit weisem Finger Gott ein vielgestaltig und rastlos wüsten Traum. / / Ich fürchte vor dem Schlaf mich, wie man vor einem großen Loch sich fürchtet, voll vagen Schreckens, das ins Ungewisse führt; ich sehne nur Unendlichkeit aus allen Fenstern, / / Und mein Geist, vom Schwindel stets umkreist, beneidet die Fühllosigkeit des Nichts. – Ah! nie den Zahlen zu entrinnen, nie dem Seienden“. Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 4, a. a. O; S. 96. Vgl. „Le plaintes d'un Icare“ („Die Klagen eines Ikarus“): „(...) Dank jener unvergleichlichen Gestirne, die fern am tiefsten Grund des Himmels lodern, sind meine Augen ausgebrannt und sehen nur noch Erinnerungen von Sonnen./ (...) unter ich weiß nicht welchem Feuer-Auge fühl ich, wie mein Flügel bricht;/ Und versengt von der Liebe zum Schönen, bleibt dennoch mir die hohe Ehre versagt, dem Abgrund, der als mein Grab mich aufnimmt, meinen Namen zu verleihen.“ Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe, Bd. 4, a. a. O; S. 97.

  348. Der Machtantritt der Nazis in Deutschland im Oktober 1933 löste unterschiedliche Reaktionen bei Alban Berg, Anton Webern und Arnold Schönberg aus: „Wenn Schönberg sich bei der Verfolgung seiner kompositorischen Ziele auch im Exil nicht hat beirren lassen, bedeutet das doch keineswegs, daß er sich um die politischen Ereignisse nicht gekümmert hätte (...) Im Oktober 1938 bat er Thomas Mann, ihm bei der Veröffentlichung seines ‘Four Point Programm for Jewry’ zu helfen. ‘Ich glaube auch’, schrieb er dem Dichter, ‘daß ein empfehlendes Wort von Ihnen imstande wäre, den Aberglauben zu überwinden, daß ein Musiker nichts anderes denken kann (auch wenn er denken kann) als Musikalisches.’ Der Text zieht das Resümee aus zahlreichen Schriften und Entwürfen zur Rettung des Judentums, mit denen Schönberg von 1933 an auf Hitlers Machtergreifung reagiert hatte. Was ihm vorschwebte, war eine antipazifistische ‘Realpolitik’, eine Heimstattpolitik, die zu einem geeinten Judentum im eigenen Staat führen sollte. Ihr Zug zum Totalitarismus, etwa in der Konzeption einer ‘jüdischen Einheitspartei’, war Thomas Manns Sache freilich nicht. Er war befremdet. In Österreich hatte Schönberg auf den zunehmenden Antisemitismus schon sehr früh weitsichtig reagiert. 1921 brach er einen Ferienaufenthalt in Mattsee vorzeitig ab, nachdem man ihn gebeten hatte, nachzuweisen, dass er kein Jude sei. Laut ‘Gemeindebeschluß’ waren nämlich Juden in Mattsee unerwünscht. Vollends enttäuschte ihn 1923 die von Alma Mahler übermittelte Nachricht, sein Freund Wassily Kandinsky habe sich nicht gegen am Bauhaus in Weimar aufgekommene antisemitische Tendenzen gestellt. ‘Wie kann ein Kandinsky‘, stellte er den Maler zur Rede, ‘es unterlassen, eine Weltanschauung zu bekämpfen, deren Ziel Bartholomäusnächte sind, in deren Finsternis man das Taferl, daß ich ausgenommen bin, nicht wird lesen können!’ Auf dem Weg in die Emigration rekonvertierte Schönberg 1933 in Paris zum jüdischen Glauben.’“ Zit. nach: Julia Spinola, Am 13. muß man auf alles gefaßt sein. Der Komponist Arnold Schönberg unterwarf das Werk dem Gedanken und das Leben dem Werk, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Juli 2001, Nr. 161. „Während sich Schönberg 1932 wegen antisemitischer Tendenzen im George-Kreis von George absetzte, vollzog Webern die Wendung des George-Kreises vom Ästhetizismus zum Völkisch- Nationalen mit und deutete den Machtantritt des deutschen Nationalsozialismus als Verwirklichung einer Georgeschen Idee. Obwohl er der österreichischen Sozialdemokratie zwischen 1922 und 1934 seine Existenz verdankte, scheint Webern naiv den Nationalsozialismus nicht als einen Gegensatz, sondern als neue völkische Synthese begriffen zu haben. Am 21. Dezember 1940 schrieb er an Josef Hueber: ‘Ich möchte Ihnen noch sagen, daß ich bei Stefan George ganz eminent interessante Entdeckungen gemacht habe: ‘Stern des Bundes’, in dem er eine Lehre gibt, die jetzt vielfach ihre Verwirklichung erfährt – aber schon 1 9 1 4 ! ! ! und im ‘Neuen Reich’ (1921), in dem im Grunde die Dinge direkt genannt sind: er spricht vom Wahren Sinnbild am ‘völkischen Banner' ! ! !’ Webern zitiert hier das Gedicht ‘Der Dichter in Zeiten der Wirren’, das einen ‘Retter des Vaterlandes’ visiert, der allerdings bedenklich demjenigen, der 1940 Europa verwüstete.“ Albrecht Dümling, Dies ist ein Lied für dich allein. Zu einigen Motiven von Weberns Textwahl, in: Anton Webern I, Musik-Konzepte Sonderband, Nov. 1983 München, S. 260. Alban Berg schreibt an Helene Berg am 17. Mai 1933: „Gestern vormittag (...) war Eröffnungsfeier des Brahmsfestes. Miklas, Dollfuß (der besonders gefeiert wurde), Schuschnigg, der auch eine Brahmsrede herunterlas, aber Furtwängler hielt die eigentliche Brahmsrede, und ich war den ganzen Tag verstimmt darüber. Es war eine Nazi-angehauchte Rede für die deutsche Musik, die – so ließ er durchblicken – mit Brahms ihren letzten Vertreter fand. Ohne Namen zu nennen verriet er die gesammte nach brahmsische Musik, besonders Mahler und die jüngere Generation (Hindemith). Der Schönberg-Kreis wurde überhaupt nicht als existierend erwähnt.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 628. Berg schreibt an Morgenstern am „10. 11. 33 (...) Und wenn ich Dir nun sage, daß ich außer dieser täglichen 5 – 10 stündigen Arbeit noch viel Radio höre (eben jetzt Hitlers Wahlrede vor den Arbeitern!), Hier und da nach Villach oder Klagenfurt komme. (...) Nun: das ist nun auch bei mir (nach 7 fetten Jahren) ein Problem geworden. Es wird mir immer schwerer, bis zur Vollendung der ‘Lulu’ u. der Aufführungseinnahme (Saison 1933/34) durchzuhalten, u. die Schulden steigen so, daß die dann zu erwartenden Einnahmen auch schon längst aufgezehrt worden sein werden (...) Ich hab’ ja nicht eine Aufführung – auch nicht des kleinsten Liedes – in Deutschland u. somit entfallen wohl 9/10 meines Einkommens. Zu allem Unglück, das mir aus dem Regime Hitler erwächst, kommt auch noch das, daß ich - - nicht Jude bin u. daß also das Bestreben, daß das einem von der Naziseite zugefügte Unrecht wenigstens von anderer Seite aus gut zu machen u. einem damit Satisfaktion zu verschaffen, bei unsereinem wegfällt. Wieviel Worte und Aktionen für die Märtyrer Bruno Walter, Hubermann u.s.w. – u. welches Schweigen darüber, daß von mir – und Webern und ebenso von Hindemith ( ! ! ) u. Krenek keine Note in einem deutschen Studio oder Konzertsaal erklingt.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 256, 257. Kritiken von Aufführungen in der NS-Zeit, siehe: F21 Berg 3271.

  349. Einige Details des bürgerlichen Haushaltes des Ehepaares Berg lassen sich an Rechnungen ablesen. Da ist u. a. die Rede von diversen Aktien. Die Firma Helene Kristen ändert am 27. X. 1919 das schwarze Seidenkleid Helene Bergs (F21 Berg 2685). Franz Lunark ändert am 2. 5. 1919 eine Schoß und einen Mantel (F21 Berg 2684), Julius & Josef Hermann fertigen am 3. November 1919 zwei Clubfauteuils an. Eine Rechnung vom 22. Oktober 1919 weist den Kauf eines Regenmantels mit Kapuze auf, das Ehepaar läßt sich am 23. 10. 1919 2000 kg Holz einlagern, bestellt am 23. September 1919 hundert Visitenkarten bei der Lithogr. Anstalt Arnold Weishut (F21 Berg 2677). Bei Otto Kubelka, Schuhmacher Wien I, Bauernmarkt 11 werden am 23. II. 1918 1 Paar Schnürstiefel gekauft (F21 Berg 2652), eine Feuer- und Einbruchversicherung wird am 15. Juni 1918 abgeschlossen (F21 Berg 2647). Helene Berg kauft bei „L. Fuchs Modellhaus für Damenhüte“ Pariser Modelle und einen Seidensamthut für 100 Kronen (F21 Berg 2645). Am 7. XII. 1918 wird für einen Pelzmantel eine Rechnung für „Wohlg, Frau Helene Berg“ ausgestellt (F21 Berg 2657). Alban Berg kauft Bücher und Notenpapiere (F21 Berg 2659) und Tabak am 19. 1. 1921 aus Holland (F21 Berg 2734). Immer wieder tauchen zu Hauf Honorarnoten für geleistete ärztliche Behandlungen auf, die Helene Berg in Anspruch zu nehmen hat.

  350. In Feudalherrenmanier ist das Alban Berg Sommer-Haus am Wörthersee/Gemeinde Auen errichtet. Über der Eingangstüre ist eine Inschrift angebracht: „Berg’s Waldhaus. Hier ist Friede.“ Im Prospekt Servus Wörthersee 2001 ist auf Seite 14 neben einer Abbildung des Hauses zu lesen: „'Waldhaus' des Komponisten Alban Berg (1885-1935) in Auen in einem idyllischen Park mit gewaltigen, 300 Jahren alten Eichen; seit 1971 Landschaftsschutzgebiet (12 Hektar). Alban Berg kaufte es 1932 als Sommersitz und schuf hier die Oper ‘Lulu’ und sein Violinkonzert. Arbeitszimmer in Originaleinrichtung erhalten. Heute im Besitz der Alban-Berg-Stiftung; im Sommer Kompositionskurse. Besichtigung: derzeit leider nicht möglich; allenfalls Sonderführungen (R.Kramer). Zufahrt: über Süduferstraße; nach Hotel Vinzenz rechts ‘Bergweg’. Informationen: Richard Kramer, Tel.2234.“ Meiner Anmeldung zufolge empfangen mich Frau und Herr Kramer am 8. August 2001 und führen mich durch die Zimmer des weitläufigen Hauses. Ins Auge fällt das Hölzerne und Steinerne des Landsitzes: da sind die grün gestrichenen geschlossenen Fensterläden, wie sie für Alpenvillen typisch sind; die grünen Kachelöfen, die die kalten Jahreszeiten erträglich machten, und da staunt man über das grün gestrichene, metallene Meditations-Bett im Arbeitszimmer des Komponisten. An der Stirnseite dieses Raumes steht der Schreibtisch mit einem Tischkalender des Jahres 1935 - Bleistifteintragungen von Helene Berg zeigen die Aufenthaltszeit im Jahre 1935: angestrichen ist der 23/24. Dezember, der Sterbetag Alban Bergs. Allerlei Schreibutensilien sind in Reih und Glied aufgereiht: Tintenfässer, der Federhalter mit Metallfedern, Blei- und Buntstifte, die Löschwiege. Der lederne Sitzpolster am Armsessel ist brüchig. Unter der gläsernen Schreibtischplatte liegen Ansichtskarten, darunter eine Karte der „Villa Nahowski“ in Trahütten. Rechts im Zimmereck steht der Flügel. An der Wand hängt eine Reproduktion von Michelangelos Sixtina – Fresko, Berg wählte das Motiv „Die Erschaffung Adams“ aus: Die homoerotische Spannung des Bildes ist unübersehbar. Ein kleines, mit schwarzem Tixoband umrandetes Porträtphoto von Arnold Schönberg und die beiden Photos von Franz Josef Nahowski ziehen den Blick auf sich. Der androgyne junge Mann und die Art schwuler Koketterie bezaubern. Auffällig sind die langen, zartgliedrigen Finger und der erlesene Handschmuck: ein Ring schimmert wie ein Mineral in der Sonne (ein Photo im Nachlass F21 Berg 336 zeigt auch dieses kostbare Schmuckstück). Ich bin also Franz Nahowski (geb. 10. 12. 1889, gest. 23. Nov. 1942), dem extravaganten Außenseiter, einen Schritt näher gekommen. Ich bestaune die gut zwei Dutzend Bleistiftzeichnungen und Gouachen, die entlang der Holzstiege zum ersten Stock gehängt sind. Die Bilder zeichnet ein natur- und erdverbundener, ganzheitlich- kosmischer Spiritualismus aus. Nachahmungen organischer Formen (Blumen, Bäume, Sterne, Sonne, Mond) und ornamentale Formen vermengen sich hie und da mit Nackten, die einander an den Genitalien berühren. In Bergs Arbeitszimmer finden sich Porträts in Öl und Kreide des Komponisten sowie Photos aus der Militärzeit und den letzten Lebensjahren. Bemerkenswert ist auch ein Wäscheschrank mit einer darin aufgestellten Kabinett-Photographie von Anna Nahowski, der Mutter Helene Bergs. Die ausgebreitete Unterwäsche der ehemaligen Geliebten des Kaisers zeigt das Fingerspitzengefühl der Näharbeiterinnen der Jahrhundertwende. Ich blättere in Gerichts- und Krankenakten von Franz Nahowski, der sich früh einer Morphium- Entziehungskur im Sanatorium Rekawinkel unterzogen hat und wegen „Schizoider Störungen“ interniert wurde. Der Psychiater Ludwig Binswanger, der auch den berühmten Kulturhistoriker Aby Warburg verwahrte, empfahl 1927 eine Kur für Franz Nahowski in Kreuzlingen. Die Transferierung in die Wiener Nervenheilanstalt am Steinhof ist im Herbst 1930 vermerkt. Der Gerichtspsychiater Doktor Schierl nahm die Entmündigung vor und Alban Berg hat die Kuratorenschaft über seinen Schwager übernommen. Im Krankendossier wird vom „Stimmenhören“ gesprochen. Franz Nahowski erklärte „Es sei Einschaltung von Begebenheiten und Auswirkungen photographierter Sachen u.s.w.“ Solcher Abnötigung von Geständnissen wollen wir nicht weiter folgen. Im ersten Stock des Hauses hat Helene Berg dem Bruder Franz ein heizbares Schlafzimmer eingerichtet. Darin steht ein Holzbett und ein Bauernkasten: Farben überziehen wie eine ölige Haut die Gegenstände. Am Kasten stehen bemalte Keramik und Glasvasen Nahowskis. Über dem Bett hängt ein schönes Bild mit einem Apfel-Motiv, datiert 1904. Man denkt unwillkürlich an das Schlafzimmer Van Goghs in Arles, das dieser selbst eingerichtet und alle Dinge darin in Farben des Südens angemalt hatte. Eine Dokumentation der nomadisierenden Lebensspur und des künstlerischen Schaffens Franz Nahowskis ist bislang unterblieben. Das „Waldhaus“ war ein ehemaliges Dorfgasthaus am Wörthersee wie es die Architektur im Parterre deutlich macht. Von dem Makler Victor Unterweger erwirbt Berg das Haus sehr günstig, über den Ankauf führte Helene Berg in ihrem „Ausgabenbüchel („mit Gott“)“ Buch. Der Kaufpreis des Waldhauses betrug 31500 Schilling. Beim Betreten der Villa finden wir zwei großformatige Gemälde (Frauenakte) der Malerin Carola Nahowski vor. Eine Tapisserie, ein Tisch mit Sesselgruppen und eine Chaiselongue sind im Parterre-Raum gruppiert. Im Souterrain logierte Frau Toni Pfeiffer, die Haushälterin des Ehepaares Berg. Im ersten Stock, im Arbeitszimmer sind auf einem Tisch Bergs geliebte Autozeitschriften aufgelegt und ein Photo erinnert an Herrn Fanzoy, den Chauffeur und „Wunder-Doctor des Ford“. Vom Arbeitszimmer aus betritt man das Schlafzimmer und stößt auf großes, fein gedrechseltes Holzdoppelbett. Eine Landschaftsgravure von Jakob Schindler, die Porzellanwaschschüssel und der Wasserkrug bleiben ebenso im Gedächtnis wie die im Kleiderschrank eingemotteten Sportanzüge Bergs: darunter der legendäre senffarbene Ledermantel. Natürlich ist das Radiogerät („5- Röhrenapparat“) aufgestellt, an dem das Ohr des Komponisten so hing und aus dem die Lyrische Suite erklang. Fast stolpert man über den riesigen, mit Leinen überspannten Reisekoffer (Aufdruck "BERG"), der bei den internationalen Aufenthalten des Komponisten immer mit dabei war. Der unerläßliche Blick zum See war von der Veranda und vom Arbeitszimmer aus gegeben, in den 30er Jahren kam der Schilfgürtel des Wörthersee nahe an das Haus in Auen heran: Der letzte Akt der Oper „Wozzeck“ spielt an einem Schilfteich, in den Wozzeck bei Mondlicht immer tiefer und tiefer hinein waten wird, bis er ertrinkt. Berg spricht in einem Brief an seine Frau (4. Nov. 1932) davon, daß er nach dem „Waldhaus am Sumpf lugen“ müsse. Zahlreiche Photos dokumentieren das Waldhaus. Siehe: F21 Berg 3411/3413/3415, 3418, 3423. F21 Berg 3418/1,2 ist beschriftet „Auen, Freitag, 13. April 1934.“ Auf dieser Photographie sind Helene und Alban Berg im Sportledermantel und das Ford-Cabriolett mit der Autonummer A30576 zu sehen, auf den Stufen des Hauses die Hausgehilfin. Das „Waldhaus“ bezeichnete Berg als Exil: „Ich sitze (am umstehend abgebildeten Schreibtisch) immer noch über der 'Lulu', aber ich überblicke doch schon das ganze Ende. Das kommt davon, daß ich mich hier in diesem selbstgewählten Exil konzentrieren kann, weshalb ich es auch, und weil es mit dem Komfort auch fast stimmen mag, gern Konzentrationslager nenne.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 259, 260. Berg an Morgenstern, „Waldhaus, 7. 9. 33. Arbeit am Klavier u. in HausuGarten bildet nach – wie - vor die Grundlage unseres Lebens hier. Und wenn uns nicht hie und da die Narrischkeiten meines Schwagers [Franz Nahowski] Unruhe bereiten würden, so lebten wir – mitten im Krieg- in schönstem Frieden. ‘Mitten im Krieg’ ist kein Scherz, manchmal erscheint mir das, was ist und kommen wird so fürchterlich, daß ich den Gedanken daran mit aller Gewalt verdrängen muß, um arbeiten zu können.“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 253. Der Radio-Apparat, („5 Röhren-Apparat“) wird im Brief vom „17.7.31“ erwähnt: „Helene hat vor 3 Wochen ihre Autoprüfung bereits bestanden u. fährt dementsprechend viel was eineEntlastungfür mich bedeutet. Umsomehr widme ich mich meinem wunderbaren 5-Röhren- Apparat, der mich- völlig reibungslos, mit ganz Mitteleuropa in Verbindung setzt. Gestern z. Bsp. hörte ichSchönbergsStimme (: der in Franfurt auf Grammophonplatte aufbewahrte Vortrag vom Frühjahr) [Schönbergs Vortrag über op. 31, 22. 3. 1931 im Frankfurter Sender gesprochen] dann besonders gut Rom-Mailand, Toulouse etc. etc. Es macht mir viel Spaß!“ In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; Seite 245. „Montag, 5. März 1934 [Waldhaus, an Helene Berg] Zuhaus auch noch ein Stückchen Noten geschrieben. Dann Nachtmahl und dann Lyrische Suite angehört. Glänzende Übertragung. Habe mich über die schönen, feinen Einführungsworte, über die wunderbare Aufführung und den kolossalen Applaus sehr gefreut: Hoffentlich konntest Du Dich auch dessen erfreuen.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 637. „6. März 1934 [Waldhaus, an Helene Berg] Bin untröstlich, daß Du die Lyrische Suite nicht hörtest und auch nicht die Bruchstücke [Wozzeck] die ja von derselben Welle kamen. Ich hörte gestern noch besser als vorgestern. Ganz klar und rein und überstark, sodaß ich nach Belieben dämpfen konnte.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 638. „Samstag (12. Oktober 1935) [Waldhaus, an Helene Berg] Sonst: Arbeit, Radio, Arbeit, Radio und nachts Winnetou. Essen en suite Geselchtes (...) Auf Wiedersehen, Goldchen.“ In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 653.

  351. „November 1932. Fast scheue ich mich, die Gelegenheit, Dir Hanna zu schreiben, auszunützen; ja ich schäme mich geradezu, von der Warte meines verpfuschten Lebens Dich zu grüßen. Was magst Du von dem Alban Berg 1932 denken, Du, die Du da den von 1925 gekannt hast und – und geliebt hast; mit Recht geliebt hast? – Und Dir immer wieder zu schreiben, um wenigstens das traurige Wohlwollen in Dir wach zu erhalten, - - - das ist es ja, wovor ich mich scheue, mich schäme.“ [Berg an Hanna im Novermber 1932]. 352, 353 Briefkorrespondenz Alban Berg mit Anton Webern siehe: F 21 Berg 3270. Vgl. die Erwähnung der Alpenpflanzen bei Anton Webern: „In meinem Garten richte ich mich jetzt ganz auf Gartenpflanzen ein. Ich habe schon so viel beisam[m]en: nicht weniger (u. a.) als 7 Sorten Steinbrechs, jede von ganz verschiedener Blüh’, mehrere Schafgarbenarten u. s. w. das sind alles üppig blühende Polster, die rasch enorm groß werden. Das ist eine Pracht! (...) Und wie schön das Edelweiß gedeiht, das ich voriges Jahr aus der Glockner-Gegend holte u. die Edelraute! Darauf bin ich besonders stolz.“ Zit. nach: Aus dem Briefwechsel Webern- Steuermann. Transkribiert und mit Anmerkungen versehen von Regina Busch, in: Anton Webern I, Musik-Konzepte Sonderband, Nov. 1983, München, S. 36. Die Briefe und Brieffragmente Weberns an Eduard Steuermann (1892-1964) aus den Jahren 1936-1939 stammen aus dem Nachlaß Steuermanns und befinden sich heute in der Library of Congress, Washington. (R. Busch). Dem Brief vom 23. VIII. 1936 an Steuermann legte Webern ein Päckchen mit Alpenkräutern samt „Gebrauchsanweisung“ bei.

  352. (.)

  353. (.)

  354. 1928-1929 Entstehung der Romantrilogie „Die Schlafwandler“, 1930-1931 Vertrag mit Daniel Brody, Leiter des Rhein-Verlags in München und Zürich, über die Publikation der Schlafwandler. Die Romantrilogie wird von der Kritik stark beachtet ist aber kein Verkaufserfolg. 1938 arbeite Broch an der Erzählung vom Tode, der dritten Fassung des Vergil-Romanes, als er am 13.März von Nationalsozialisten verhaftet wird. Im Juli 1938 erhält Broch- nicht zuletzt durch die Hilfe von James Joyce und Steven Hutson ein Visum nach England, Thomas Mann und Albert Einstein ermöglichen Broch ein Visum in die USA. Am 9.Okt. kommt er in New York an und wird hier die Arbeit am Der Tod des Vergil fortsetzen, 1944 wird Broch amerikanischer Staatsbürger, 1949 zieht er um nach New Haven/ Connecticut. Hermann Broch schrieb am 27.8.1932 an seinen Schulfreund Alban Berg: „Mein lieber Alban Berg, Du weißt, daß man bloß für wenige schreibt und schreiben kann, und deshalb mußt Du mir glauben, daß mich Deine Worte ganz besonders tief gefreut haben. Darf ich Dir zum Dank, aber mehr noch als Dank für die letzte Wozzeck-Szene, Dir das beiliegende Gedicht geben? Ich wäre froh, wenn Du es bejahen würdest (aber das soll kein Lob provozieren!). Von den 3 Schlafwandlern ist mir der Schlußband weitaus am wichtigsten. Denn darin ist sowohl in der Architektonik als im, sagen wir Tiefgang manches Neue versucht worden. Besonders das Schlußkapitel ist mir ans Herz gewachsen. Laß Dich also bitte davon nicht abschrecken, auch wenn es mit der Warnungstafel ‚Zerfall der Werte’ versehen ist. Ja, und daß Du das Buch Arnold Schönberg schenken willst, ist eine ausgesprochene Ehrung für die Schlafwandler (...)“ Siehe: F 21 Berg 595. Siehe weiter: P. M. Lützeler, Hermann Broch. Eine Biographie, Frankfurt a. Main 1985. Das Hermann Broch-Museum in Teesdorf/Niederösterreich lohnt einen Besuch.

  355. „Dienstag, 20. bis Donnerstag, 22. Juli 1920 Tagebuch, es ist eigentlich lächerlich, das Tagebuch - es sind doch nur Briefe an Dich, aber die Briefe an Dich sind eben Tagebuch. Irgendwie bin ich immer noch u. wieder erstaunt, wie absolut ausfüllend dieses Dich- lieb- haben ist, daß man wirklich so ‚übermächtigt’ sein kann. Allerdings bin ich dabei komplett egoistisch: ich habe solche Angst um Dich, daß Dein Körperle (etwas dumm ist ein niedergeschriebener Diminutiv) dieses fortgesetzte Fieber nicht aushalten wird u. kümmere mich eigentlich nur darum, daßiches nicht aushalten würde, Dich zu verlieren. Es ist - der Richtung nach- die gleiche hypochondrische Angst wie die um meine Manuskripte. Aber es ist mehr. Möchte mit Dir so zärtlich sein können, was ich mit meinen Manuskripten sicherlich nicht bin, und überhaupt. Aber daß dies in dieser Form aufhören muß , ist evident: ichmußRuhe für die Arbeit haben, die jetzt wirklich noch was wert ist, aber mit jeder Verschleppung minderwertiger wird und da ich es Gott sei Dank nicht aufgeben kann, Dich jeden Tag mehr lieb zu haben, noch mehr zu lieben, und dies absolut will, Dir noch mehr gehören möchte (allerdings, wie tut man das?), so muß ich eben mein ‚Leben’ pathetisch gesprochen, anders einrichten. Wir müssen weg, Kindchen, irgendwohin, wo uns niemand kennt- ich halte diese Familie, die Fabrik u. alles was drum u. dran hängt einfach nicht mehr aus. Vielleicht wird es auch in Wien gehen, aber besser wäre es schon anderwärts. Und dann möchte ich endlich für Dich, Süßes, Nahes, etwas tun können, Dir das Äußerliche irgendwie leichter machen, schon auch darum, damit auch das Äußerliche etwas Gemeinsames wird (...).“ Hermann Broch, Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, Frankfurt a. Main 1993; S. 39ff. „13. Freitag, 13.Aug. 1920 () augenscheinlich bin ich vom Stamme u. ein Asra.* Das Ganze ist eine Radikalisierung des Lieb-habens, zur letzten Wurzel u. da muß man eben sterben. Ungern sterbe ich, aber so ist es wirklich schwer auszuhalten; ich ‚leide’ einfach u. habe mit diesem Leiden an der Liebe fortwährend irgendwie zu tun- umsomehr als mir konstant bang ist. Ich gehöre Dir so restlos, Liebsteslein, u. finde, daß ‚Liebesleid’ so stupid u. banal ist ( ).“ Hermann Broch, Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, Frankfurt a. Main 1993, S. 70ff. *“Beni Asra, südarabischer Volksstamm, dessen Angehörigen man die heftigste und keuscheste Liebe nachsagte. Broch spielt an auf die Zeilen ‚Und mein Stamm sind jene Asra, / Welche sterben wenn sie lieben’ aus dem Gedicht 'Der Asra' (entstanden 1845/1846) von Heinrich Heine. Quelle dieses Gedichts ist eine Episode aus Stendhals Essay De l’amour (1822). Das Heine – Gedicht lautet: 'Täglich ging die wunderschöne/ Sultanstochter auf und nieder/ Um die Abendzeit am Springbrunn, / Wo die weißen Wasser plätschern. // Täglich stand der junge Sklave/ Um die Abendzeit am Springbrunn, / Wo die weißen Wasser plätschern; / Täglich ward er bleich und bleicher. // Eines Abends trat die Fürstin/ Auf ihn zu mit raschen Worten: / Deinen Namen will ich wissen, / Deine Heimat, Deine Sippschaft!// Und der Sklave sprach: ich heiße/ Mohamet, ich bin aus Yemmen, / Und mein Stamm sind jene Asra, / Welche sterben wenn sie lieben.'“ Zit. nach Fußnote 5 in: Hermann Broch, Das Teesdorfer Tagebuch für Ea von Allesch, Frankfurt a. Main 1993, S72f.

  356. Zeilen im „Teesdorfer Tagebuch“. Ständig ist von „Brieferl, Briefi“ die Rede. Siehe: Dietmar Grieser, Briefi von Kindi. Hermann Broch und Ea von Allesch, in: Eine Liebe in Wien, St. Pölten und Wien: Niederösterreichisches Pressehaus.

  357. Siehe: Hermann Broch, Annemarie Meier-Graefe, Der Tod im Exil. Briefwechsel 1950-1951, hrsg. von Paul Michael Lützeler, Frankfurt a. Main 2001.

  358. Peter Altenberg teilte die Photographie-Obsession mit Lewis Carroll. Carroll (1832-1892), der eigentlich Ludwig Dodgson hieß, faszinierten Eisenbahn und Photographie. Er näherte sich jungen Mädchen und verführte sie ins Photostudio, allein für das Jahr 1863 finden sich 102 nackte Mädchen aufgelistet. Dem Rückzug Carrolls in die Kindheit verdanken wir das schöne Alice-Buch, das auch Peter Altenberg gefallen hat und das vielleicht unter dem Kopfpolster versteckt war, als der Dichter in der Nervenheilanstalt am Steinhof sein Ende fand. Verweilen wir bei den 5 „Altenbergliedern“, die Alban Berg 1912 komponiert und von denen Nr. 2 und Nr. 4 am 31. März 1913 im großen Musikvereinssaal in Wien unter der Leitung Schönbergs aufgeführt wurden und das Publikum außer Fassung geraten ließen, das Konzert mußte abgebrochen werden. Alban Berg schrieb „Fünf Orchesterlieder“ nach Ansichtskartentexten von Peter Altenberg, op. 4. Vgl: Peter Altenberg, Texte auf Ansichtskarten, in: P. A; Neues Altes, Berlin 1911. In den 5 Liedern verdichten sich die Geschehnisse zu einem Seelendrama, einem dissozierenden inneren Monolog. „1. Seele, wie bist du schöner, tiefer, nach Schneestürmen. Auch du hast sie, gleich der Natur. Und über beiden liegt noch ein trüber Hauch, eh’ das Gewölk sich verzog! 2. Sahst du nach dem gewitterregenden Walt?!?! Alles rastet, blinkt und ist schöner als zuvor. Siehe, Fraue, auch du brauchst Gewitterregen! 3. Über die Grenzen des Alls blicktest du sinnend hinaus; Hattest nie Sorge um Hof und Haus! Leben und Traum vom Leben, plötzlich ist alles aus. - - - Über die Grenzen des All blickst du noch sinnend hinaus! 4. Nichts ist gekommen, nichts wird kommen für meine Seele. - - - Ich habe gewartet, gewartet, oh – gewartet! Die Tage werden dahinschleichen, und umsonst wehen meine aschblonden, seidenen Haare und mein bleiches Antlitz! 5. Hier ist Friede. Hier weine ich mich aus über alles! Hier löst sich mein unfaßbares, unermeßliches Leid, das mir die Seele verbrennt ... Siehe, hier sind keine Menschen, keine Ansiedlungen... Hier ist Friede ! Hier tropft Schnee leise in Wasser – lachen...“ In der Zeit ihres Berlinaufenthaltes und der Prag-Reise im Jahre 1964 hat Ingeborg Bachmann im Gedicht ENIGMA auf die Altenberglieder Bezug genommen.

    „Enkgma (auf der Reise nach Prag)

    Nichts mehr wird kommen.
    Das Geheul der Winterwölfe ist leiser geworden.
    Die Wölfe verlassen das Land.

    Aber auch Frühling wird nicht mehr werden.
    Sommer, und was so gute Namen wie "sommerlich" hat.
    Es wird nicht mehr kommen.

    Du sollst ja nicht weinen, sagt eine Musik.
    Sonst sagt niemand etwas.

    Dieses Gedicht ist eine Collage es bezieht sich auf die Peter Altenberglieder von Alban Berg und auf die 2. Symphonie von Mahler. Also eines Textes, den Altenberg auf einer Postkarte geschrieb ath, und einen Kindechor in der 2. Symphonie von Gustav Mahler.“

    Siehe: Ingeborg Bachmann, Nachlaß, Typoscript Blatt Nr. 442, Öst. Nationalbibliothek.

    Ingeborg Bachmann hat knapp vor ihrem Tod darauf hingewiesen, daß sie „zuerst angefangen habe“ „zu komponieren und dann erst zu schreiben.“ Musik sei ihr „erster Ausdruck“ gewesen, der „erste kindliche Ausdruck“ und sei für sie „noch immer der höchste Ausdruck, den die Menschheit überhaupt gefunden habe.“ Siehe: Ingeborg Bachmann in Rom, Juni 1973, Filmporträt von Gerda Haller. Siehe weiter: Ingeborg Bachmann, Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller, Frankfurt a. Main 1998. Wie ein glühender Komet durchzieht das Liedschaffen das Oeuvre Bergs. H. F. Redlich hat die frühen Lieder katalogisiert, folgen wir einigen, deren Titel schon beim Lesen süchtig machen, sind sie doch fast nie aufgeführt worden. „Die 82 Jugendlieder Alban Bergs setzen sich folgendermaßen zusammen und sind ungefähr in folgenden chronologischen Abständen voneinander entstanden: a) Schließe mir die Augen beide (Storm-Lied I, 1900, von Berg, zusammen mit Storm-Lied II, 1930 veröffentlicht), b) 70 Jugendlieder, c) Sieben frühe Lieder (1905-1908), d) Vier Lieder op. 2 (1909). Die Gruppe b) (70 Jugendlieder) umfaßt die folgenden Titel: Heiliger Himmel op. 1 (F. Evers), Herbstgefühl (Siegfried Fischer), Unter der Linden (W. v. d. Vogelweide), Spielleute (Ibsen), Wo der Goldregen steht (Lorenz), Lied des Schiffermädels (O. J. Bierbaum), Abschied (Monsterberg), Liebeslied (Dolorosa), Über meinen Nächten (Dolorosa), Sehnsucht I (Hohenberg), Sternenfall (Wilhelm), Er klagt, daß der Frühling so kurz blüht (Arno Holz), Ich und du (Busse), Über Nacht (Rognetti), Verlassen (böhmisches Volkslied), Traurigkeit (Peter Altenberg), Hoffnung (Altenberg), Flötenspielerin (Altenberg), Spaziergang (Mombert), Soldatenbraut (Mörike), So regnet es sich langsam ein (Cäsar Flaischlen), Grenzen der Menschheit (Goethe), Ballade des äußeren Lebens (Hofmannsthal), Im Walde (Björnson) (Duett), Viel Träume (Amerling) (Duett), Über den Berg (Busse), Am Strande (G. Scherer), Reiselied (Hofmannsthal), Spuk (Hebbel), Aus « Pfingsten » (Evers), Winter (Johannes Schlaf), O wär’ mein Lieb ein Röslein rot (Burns), Sehnsucht II (Hohenberg), Ich liebe dich (Grabbe), Ferne Lieder (Rückert), Ich will die Fluren meiden (Rückert), Geliebte Schöne (Heine), Schattenleben (Graf), Am Abend (Geibel), Wenn Gespenster auferstehen (Felix Dörmann), Vom Ende (Marie Madeleine), Vorüber (Wiesbacher), Scheidelied (Baumbach), Eure Weisheit (Fischer), Schlummerlose Nacht (Greif), Nachtgesang (O. J. Bierbaum), Es wandelt, was wir schauen (Eichendorff), Liebe (Rilke), Wandert, ihr Wolken (Avenarius), Im Morgengrauen (Stieler), Grabschrift (Jakobowski), Traum (Semmler), Furcht (Palma), Augenblicke (Hamerling), Trinklied (Rückl), Fromm (Gustav Falke), Leben (Evers), Näherin (Rilke), Erster Verlust (Goethe), Süß sind mir die Schollen des Tales (Knodt), Der milde Herbst anno 45 (Max Mell), Menschenherz (delle Grazie), Holophan (Wallpach), Mignon (Goethe), Läuterung (Hohenberg), Die Sorglichen (Falke), Das stille Königreich (Busse) (komp. 1908), Trinklied (W. Henckell), An Leukon (Gleim) (komp. 1908, erstmals veröffentlicht 1937). Gruppe b) läßt sich (auf Grund von Mitteilungen von Frau Helene Berg und der Datierungen bei W. Reich) chronologisch etwa folgendermaßen erfassen: Die ersten drei Lieder: 1900/01: Spielleute (Ibsen) bis Sehnsucht II (Hohenberg), darunter auch die Duette, nicht aber das Lied Tiefe Sehnsucht (Liliencron) : 1902, Über den Berg (Busse): 1904 oder 1905, Ich liebe dich (Grabbe) bis Trinklied (Henckell): 1904 bis 1905, An Leukon: 1908. (...)“ Siehe: Hans F. Redlich, Alban Berg, Versuch einer Würdigung, Wien/Zürich/London 1957, S. 43ff.

  359. Siehe: Ulrich Weinzierl, Alfred Polgar. Eine Biographie, Wien/ München 1985.

  360. Siehe: Elisabeth Albertsen, Ea oder die Freundin bedeutender Männer. Porträt einer Wiener Kaffehaus-Muse, in: Musil-Forum 5. I.1979.

  361. Siehe: Frauke Severit, Ea von Allesch – Ein Frauenleben zwischen Konvention und Selbstbestimmung, Magisterarbeit, Freie Universität Berlin (Fachbereich Germanistik), 1994.

  362. „Diana ist die Zwillingsschwester des Apollon. Sie ist die wehrhafte Jungfrau, die den gebärenden Frauen beisteht. Er ist der Gott der schönen Künste, der Sänger und Poeten, der seinerseits den Umgang mit Männern vorzieht. Diana ist die Göttin des Mondes und der fruchtbaren, kosmischen Nacht. Apollon aber wird mit Helligkeit und der Sonne identifiziert. Zwischen ihr und ihren Bruder bestehen wesentliche Unterschiede. Nur in einer Eigenschaft ähneln sie sich, nämlich in der Ablehnung des Dionysischen, des Rausches und der Exstase. Solche Kräfte wandelt Apollon in künstlerisches Schaffen um. Diana weigert sich, eine der üblichen Frauenrollen anzunehmen, sie jagt mit ihren Gefährtinnen in den Wäldern.“ In: Gabriele Sorgo, Gnosis und Wollust, a. a. O; S. 173. Vincenzo Bellinis populärste Melodie ist Normas Anrufung der Mondgöttin in ihrer Auftrittsarie aus der gleichnamigen Oper von 1831: „Casta Diva, che inargenti/ Queste sacre antiche piante“ – „Keusche Göttin, die du diese heiligen alten Pflanzen versilberst.“ Die Querflöte setzt Bellini in „Norma“ als Symbol der Mondgöttin Diana. Pierre Klossowski weist in „Der Baphomet“ auf die Göttin Diana wie folgt hin: „Die Etymologie des Namens dieser olympischen Gottheit bleibt ziemlich ungenau: Man könnte sich auch darauf versteifen, hier jene des Cratylos des Platon zu erwähnen: ‘... der Name der Artemis besagt Reinheit, artemes, und Bescheidenheit aufgrund ihrer leidenschaftlichen Jungfräulichkeit. Aber es ist möglich, daß Kennerin der Tugend, aretes histor, der Name ist, den die Göttin vom Nomenklateur erhalten hat. Möglich auch andererseits, daß es wie verachtend die Befruchtung durch den Mann aroton misesa: Das was der Mann einer Frau antut, sei’ (Cratylos, 405-406, trad. Léon Robin). Gleichermaßen hat man vorgeschlagen: artemes: starkgliedrig, ganz, intakt, jungfräulich; ‘die, die gut schneidet’, von: artao: schneiden; ‘die, die von oben herab zieht’, von: airo: ergreifen, und themis: Setzerin, etc.“

  363. Siehe: Helga Malmberg, Widerhall des Herzens. Ein Peter Altenberg Buch, München 1961, S. 137, 138.

  364. Siehe: Bram Dijkstra, Les idoles de la perversité. Figures de la femme fatale dans la culture fin de siècle, Paris 1992.

  365. Siehe: Gustav Klimt, „Wasserschlangen I“, auch „Freundinnen I“, um 1904/07, Mischtechnik/Pergament, 50 x 20 cm, Öst. Galerie, Wien. Eine Studie für das Bild „Wasserschlangen I“ findet sich in „Ver Sacrum“, 6. Jahrgang, 1903, Heft 22, S. 371. Gustav Klimt, „Wasserschlangen II“, auch „Freundinnen II“, 1904 (umgearbeitet 1907, Öl auf Leinwand, 80 x 145 cm, Öst. Galerie, Wien). Zu diesem Gemälde existiert eine Studie Klimts, ausgeführt mit rotem Farbstift (37 x 56 cm, Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz.) Das Gemälde Klimts „Die Freundinnen“, 1916/17 (Öl auf Leinwand, 99 x 99 cm) ist 1945 im Schloß Immendorf verbrannt.

  366. Ovid, „Metamorphosen“, Erstes Buch, „Apollo und Daphne“, Vers 452-567, zitiert ist Vers 505– 510. Siehe: Ovid, Metamorphosen, a. a. O; S. 523. Vgl. Vergil, Hirtengedichte, Fünfte Ecloge, Daphnis, in: Vergil, Hirtengedichte, übersetzt von Theodor Haecker, Frankfurt a. Main 1958, S. 26ff. Ovid Illustrationen, siehe: Mac Zimmermann, Ölbilder, Zeichnungen, Graphik, Katalog zur Ausstellung im Kulturhaus Wiesloch, 24. 2.–16. 3. 1980. Weiters: Armand Silvestre, Le nu dans les métamorphoses d’Ovide d’après la première édition, Amsterdam MDCCXXXII, Paris 1894.

  367. Siehe: Frank Wedekind, Die Büchse der Pandora. Tragödie in 3 Aufzügen mit einem Prolog, München 1921, Handexemplar Alban Bergs, siehe: F21 Berg 132. Programmzettel von Frank Wedekinds Büchse der Pandora mit einleitender Vorlesung von Karl Kraus am 29. Mai 1905 im Trianon-Theater (Nestroyhof), Wien; „Die Fackel“ Jg. 7 (1905), Nr. 182, S. 15. Mit Abdruck des Vortrags von Karl Kraus, S. 1-14. Siehe: Druckschriftensammlung ÖNB 402. 785 BS.

  368. Siehe: Tilly Wedekind, Lulu. Die Rolle meines Lebens, München 1969, S. 43.

  369. „Lieber Freund, ich komme eben aus Belgien zurück, wo ich das größte Interesse für Deine neue Oper vorgefunden habe. (...) Wie es in Berlin mit der Oper wird, weiß ich nicht. Nach Durchlesen des Librettos muß ich ja sagen, daß sich da wohl gewaltige Hindernisse in den Weg stellen werden, und ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dir gestehe, daß mir beim Lesen dieser endgültigen Fassung stellenweise aber schon die ‚Grausbirnen aufgestiegen’ sind und ich mir zunächst gar nicht denken kann, wie Du das komponiert haben könntest. Aber da ja schließlich Du der Komponist bist, wirst Du es ja wissen, warum Du Dir das ausgesucht hast, und ich brenne darauf, etwas von der Musik zu sehen oder zu hören. Sollte in Berlin der Weg für dieses Werk- durch das Libretto- zunächst erschwert sein, so werde ich mit aller Kraft, doch darum kämpfen, sollte er versperrt sein, so hast Du mein Versprechen, daß ich Dir das Werk einstudiere und dirigiere, wo Du willst (...)“. Brief Erich Kleibers vom 30. 4.1934 an Alban Berg. Zit. nach: Alban Berg 1885-1935. Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek, Prunksaal, a. a. O; S. 140.

  370. Siehe: Alban Berg, Tonreihen zum Violinkonzert, F21 Berg 85/II; Tagebuch für das Jahr 1935 - Skizzen zur musikalischen Form des Violinkonzertes, siehe: F21 Berg 432/XV; Violinkonzert, Klavierskizze. Die 41 mit Bleistift beschriebenen Blätter sind die früheste Niederschrift des Violinkonzertes bis zum Choral, siehe: F 21 Berg 85/II; Particell mit Titel: „Für Louis Krasner/ Violinkonzert von/ Alban Berg/ Particell/ UE“, siehe: F21 Berg 27.

  371. Alban Berg an Anton Webern, 15. Juli 1935. Original: Wiener Stadt- und Landesarchiv.

  372. Das „Violinkonzert“ ist für ein Mädchen geschrieben, das errötet und grünt. Der Journalist Ludwig Karpath schrieb den Nachruf: „Der letzte Akt eines Trauerspiels: Am Ostermontag ist Manon Gropius im neunzehnten Lebensjahr gestorben. Genau vor einem Jahr, ebenfalls zu Ostern war das bildschöne Mädchen in Venedig an Kinderlähmung erkrankt. Und genau ein volles Jahr verlebte man in Hangen und Bangen, ob das Kind gerettet werden könnte. Alma Maria Mahler, die Witwe Gustav Mahlers, hat während des Krieges, einer Herzensneigung folgend, sich mit dem berühmten deutschen Architekten Walter Gropius verheiratet und dieser Ehe entstammte Manon Gropius. Von blendender Schönheit, voll Talent, bescheiden im Auftreten, gut und gutmütig, (...) bildete Manon die beseligendste Freude aller, die sie kannten. Ein wunderbares Geschöpf an Reinheit und Keuschheit der Empfindung wandelte Manon wie ein Engel unter uns. (...) Manon, einfach Mutzi genannt, hatte etwas hoheitsvolles vor dem sch gern jeder neigte. (...) Max Reinhardt wollte Manon ohne jede Vorbildung, in einer Theaterschule, wenn man so sagen darf, vom Fleck weg als Schauspielerin engagieren, was aber die Werfels nicht zuließen, obwohl sie damit einverstanden waren, daß Manon zum Theater gehe (...) Im Bett oder im Lehnstuhl, beschäftigte sich Manon eifrigst mit Rollenstudium, sie lernte unablässig, war sie doch selbst der glücklichen Meinung, daß sie in diesem Leben noch die Bühne betreten werde. Ein häufiger Gast war Werner Kraus, der sich von ihr die Rollen abhören ließ. Als ich sie am Karfreitag besuchte, sagte sie mir voller Freude, es wäre schon so weit, daß sie stehen könne. Voller Hoffnung schied ich von ihr. Am Karsamstag traten neuerliche Lähmungserscheinungen auf, am Ostermontag starb sie, am Mittwoch wurde sie begraben.(...)“ Siehe: F21 Berg 2489.

  373. Hält man den Taktstock Gustav Mahlers in Händen, der sich im Berg-Nachlaß (F21 Berg 3096- 3098) wiederfindet, ahnt man etwas von der Langzeitwirkung, die Mahler auf Berg ausgeübt haben muß. 1893 mietete Mahler eine Etage in einem Landgasthof im Örtchen Steinbach am Ostufer des Attersees. Auf der großen Blumenwiese zwischen Gasthof und See ließ er ein Holzhäuschen für 395 Gulden und 94 Kreuzer errichten, das er „Schnützelputzhäuschen“ nannte. In den Sommermonaten komponierte er hier. Mondsee, Wolfgangsee und Traunsee sind nur wenige Kilometer entfernt. Am südlich gelegenen Ende des Attersees in Unterbach trafen sich das Wiener Großbürgertum schon vor der Jahrhunderwende. Das Landgut „Berghof“ war der Sommerfrische -tummelplatz für Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Johannes Brahms, Hugo Wolf und andere mehr. Emilie Flöge und Gustav Klimt zog es an die blumigen Wiesen, die sich im Norden des Attersees ausbreiten. Zwischen 1900 und 1916 bewohnten der Maler und sein Modell die Villa Paulick in Seewalchen. Hundersiebzig Meter tief, klar und eiskalt ist der Attersee, in dem sich bei Windstille die bewaldeten Abhänge des Schafberges und des Höllengebirges spiegeln. Blau ist der See: vom Taubenblau verwandelt er sich im Laufe des Tages über Türkis in milchiges Smaragdgrün; 47 Attersee-Bilder aus der Hand Klimts zeugen von der Anziehungskraft des Sees. Auch Gustav Mahler hat in die abgründige Anmut der Salzkammergut-Seen geblickt und Symphonien mit einer „ungeheuren Ausdehnung geschrieben (...) Wir müssen unser Hören dem Binnenverlauf der Sätze anpassen, vor allen Dingen, wenn es sich um große Sätze handelt; aber auch innerhalb der Symphonie selbst verlangen die einzelnen Sätze unter sich ein verschiedenartiges Hören, weil ihre ästhetische Haltung voneinander abweicht und weil ihre Bedeutung, oder vielmehr ihre Dichte in der Gesamtanordnung durchaus nicht gleiches Gewicht hat. Nicht homogen, wie Mahlers Welt ist, nimmt sie die Gefahr der Unvereinbarkeiten auf sich, schließt sie das Zitat und die Parodie als legitime Verfahren ein, lehrt sie uns wieder, auf eine Art zu hören, die differenzierter, mehrdeutiger, reicher ist. Welch seltsame Extreme birgt dieses Schaffen nicht in sich: Neben dem kurzen Lied steht unmittelbar die überlange Symphonie; mittlere Werke gibt es nicht.“ In: Gustav Mahler. Mit einer Einleitung von Pierre Boulez und anderen Beiträgen, Stuttgart/Zürich 1976, S. 11ff. Gustav Mahler hat Thomas Mann anläßlich der Münchner Uraufführung der „Achten Symphonie“ kennengelernt. (...) Mann schrieb am 13. September 1910 an Mahler: „Wie tief ich Ihnen für die Eindrücke vom 12. September verschuldet bin, war ich am Abend im Hotel nicht fähig zu sagen. Es ihnen wenigstens anzudeuten, ist mir ein starkes Bedürfnis und so bitte ich Sie, das beifolgende Buch (‘Königliche Hoheit’) – mein jüngstes – gütigst von mir annehmen zu wollen. Als Gegengabe für das, was ich von Ihnen empfangen, ist es freilich schlecht geeignet und muß federleicht wiegen in der Hand des Mannes, in dem sich, wie ich zu erkennen glaube, der ernsteste und heiligste künstlerische Wille unserer Zeit verkörpert.“ In: Gustav Mahler, a. a. O; S. 142. An Helene Berg, die „Königliche Hoheit“ schreibt Alban begeistert über Proben und Aufführungen von Mahler-Symphonien in Wien, ins Herz geschlossen hat er die „Symphonie No. 6“, „Die Tragische“. „Wien, Mittwoch 24. Mai 1922. Mein Pferschi (...) Probe zur Dritten Mahler. Daß Du nicht da bist!!! Stell Dir vor, Webern und ich vierhändig am Klavier. Dies aber in dieses Riesen-Orchester komponiert. Der erste und der vierte Satz fast ohne Abklopfen. Webern war wie ein König, ich habe noch nie einen glücklicheren Menschen gesehen als ihn danach (...) Und diese Musik! Pferschi, Pferschi, da können wir alle einpacken!! Beim ersten Satz, dieser einmaligen, unendlichen Steigerung erging’s mir altem Teppen genau wie vor 20 Jahren unter Mahler. Das ist ganz einfach nicht auszuhalten, ich wäre am liebsten hinausgerannt (...) Erinnerst Dich in der Dritten an die vier Pauken, auf der jeder mit zwei Schlägeln: [Eintragung des Mahler Musikzitates]. Das steht genauso im 'Wozzeck'. Ich habe es nicht geahnt - - -" In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 483. Zur Symphonik Mahlers siehe: Sponhauer Bernd und Wolfram Steinbeck, Gustav Mahler und die Symphonie des 19. Jahrhunderts. Referate des Bonner Symposiums 2000.

  374. „Die der Komposition zu Grunde liegende Reihe zeigt in der Wahl der Begrenzungstöne aufHund F - die Initialen von Hanna Fuchs. Am Schluß des Violinkonzertes steht der Ton H – der ,Todeston im ‘Wozzeck’ und in der ‘Lyrischen Suite’ - als Symbol für die ersehnte ‘Sprengung der Grenzen’, für die Aufhebung der ‘Trennung durch Zeit und Raum.’“ Siehe: Heinz Kratochwil, Violinkonzert von Alban Berg. Semantik und Struktur, in: Öst. MUSIKzeitschrift, 50. Jahrgang, Wien 1995, S. 379ff.

  375. Siehe: Stefan Zweig, Der Brief einer Unbekannten, in: Ders; Brennendes Geheimnis, Erzählungen, Frankfurt a. Main 1987, S. 153-200. Erstmals unter dem Titel „Der Brief einer Unbekannten“, in: Neue Freie Presse, Wien, 1. Januar 1922. Stefan Zweig (1881-1942; Freitod) und Hermann Broch kannten einander seit Kindheit und Jugend flüchtig, da ihre Eltern den Sommer öfters in Purkersdorf bei Wien verbrachten. Im Salon seiner Cousine Alice Schmutzer hatte Broch Stefan Zweig näher kennengelernt, während der Exiljahre in Amerika konsultierte er Broch öfter. Zu den sommerlichen Besuchen in Stefan Zweigs Haus auf dem Kapuzinerberg in Salzburg zählten Maurice Ravel, Béla Bartok und Alban Berg.

  376. Siehe: Letter from an Unknown Woman. Max Ophuls, director. Editor Virginia Wright Wexman with Karen Hollinger, New Jersey 1986.

  377. Siehe: Hans C. Blumenberg, Emigration in Babylon, Jean Renoir und Max Ophüls in Hollywood, in: Dieter Prokop, Materialien zur Theorie des Films, München 1971.

  378. Siehe: Ornament und Abstraktion. Eine Ausstellung der Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, Aug./Sept. 2001, ein Katalog ist im Du-Mont Verlag erschienen.

  379. Siehe: Max Ophüls. Der erotische Diskurs, in: Film. Zeichen und Argumente, hrsg. von Klaus Kanzog, München 1989. Weiters: Tania Modleski, Time and Desire in the Womans Film, in: Cinema Journal 23, No. 3, Spring 1984.

  380. In der amerikanischen Literatur gibt es ein berühmtes Kapitel über die Farbe Weiß. Hermann Melville hat 1851 den Roman „Moby Dick“ geschrieben. Im Kapitel „Das Weiß des Wales“, hat der Autor eine Anthologie von „weiß = gut / weiß = gleich böse“ angelegt: „Obwohl Weiß in der Natur die Schönheit vieler Dinge adelt und erhöht, als teilte es ihnen besondere, ihm innewohnende Reinheit mit, so etwa dem Marmor, der Kamelie, der Perle; obwohl verschiedene Völker ihm in mancher Hinsicht königlichen Vorrang vor allen anderen Farben zuerkennen – wie selbst den großmächtigen alten Königen von Pégu im fernen Indien der Titel 'Herr der weißen Elefanten' mehr als alle ihre sonstigen hochtönenden Bezeichnungen der Herrscherwürde galt und ihre Nachfolger in neuer Zeit, die Könige von Siam, das Konterfei desselben schneeweißen Vierfüßers auf ihrer Königsstandarte wehen lassen oder wie die Flagge des Haues Hannover als einziges Bild ein schneeweißes Schlachtross zeigt und das große Österreich, das cäsarische, der Erbe des weltbeherrschenden Rom, dieselbe kaiserliche Farbe als sein kaiserliches Banner führt, und obwohl das Menschengeschlecht selber diesen Vorrang verspürt, denn aus ihm leitet der weiße Mann seinen Herrschaftsanspruch über alle dunkler getönten Völker her; obwohl, von alldem abgesehen, Weiß sogar als Sinnbild der Freude betrachtet wird, denn bei den Römern bezeichnete ein weißer Stein einen Jubeltag; und obwohl in mancherlei menschlichen Beziehungen und Symbolen Weiß das Gleichnis für vieles Rührende und Verehrungswürdige ist: für die bräutliche Unschuld, die Milde des Alters; obwohl bei den Indianern Nordamerikas das Überreichen des weißen Wampumgürtels das unverbrüchlichste Gelübde bedeutete; obwohl in vielen Ländern das Weiß des richterlichen Hermelins die Majestät des Rechtes darstellt und milchweiße Rosse den Wagen von Königen und Königinnen ziehen und so Tag für Tag zur fürstlichen Prachtentfaltung beitragen; obwohl Weiß selbst in den tiefsten Mysterien der erhabensten Religionen das Sinnbild göttlicher Hoheit und Allmacht ist – denn bei den persischen Feueranbetern genießt die weiße doppelstrahlige Flamme auf dem Altar die höchste Verehrung, in den griechischen Sagen erscheint der große Zeus selbst in der Gestalt eines schneeweißen Stieres; und obwohl bei den edlen Irokesen die Opferung des geweihten Weißen Hundes zur Wintersonnenwende bei weitem die heiligste Feier ihres Glaubens war, denn sie meinten, dieses fleckenlose treue Geschöpf sei der reinste Bote, den sie dem Großen Geiste senden könnten mit der alljährlich erneuten Versicherung ihrer eigenen Treue; obwohl alle christlichen Priester unmittelbar von dem lateinischen Wort für Weiß den Namen für einen Teil ihres liturgischen Gewandes, die unter der Soutane getragene Alba oder Tunika, ableiten, und obwohl gerade Weiß dem heiligen Gepränge des katholischen Kultes bei den Feiern zur Passion des Herrn dient; und obwohl Johannes in seinen Gesichten erschaute, wie jeglichem der Erlösten ein weißes Kleid gegeben ward und die vierundzwanzig Ältesten mit weißen Kleidern angetan vor dem großen weißen Stuhle standen, darauf der Eine saß, dessen Haupt aber und dessen Haar weiß war wie Wolle – dennoch, trotz dieser tausend Verbindungen, durch die das Weiß sich allem zugesellt, was ruhmvoll und erhaben ist, lauert etwas schemenhaft Unfaßbares im tiefsten Sinn dieser Färbung, das die Seele mit panischem Schrecken überfällt, grausiger als die Röte des Blutes..“ „Das Weiß des Wales“, in: Hermann Melville, Moby-Dick oder der Wal. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans u. Alice Seiffert, Berlin 1954. Vgl. die neue Übersetzung von Mathias Jendis des Romans im Carl Hanser Verlag.

  381. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 12, 13.

  382. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 22.

  383. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 44, 63.

  384. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 70.

  385. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 435.

  386. Siehe: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 62ff.

  387. „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925].

  388. Siehe: Georg Büchner, Werke und Briefe, a. a. O; S. 165.

  389. „In der Psychoanalyse steht der Penis als Buchstabe des Buchstaben.“ Siehe dazu S. Leclaire, Der psychoanalytische Prozeß, u. a. Kapitel VII und VIII: „In Wirklichkeit wird Erogenität, die beides ist, verkörpertes Lusterleben und Buchstabe, nur in einer bestimmten Gestalt übertragen, als ein Merkzeichen, das ein Körper auf einem zweiten Körper hinterläßt. Agent dieser Inskription ist, wie man erraten kann, der Phallus, sicherlich das von der Erogenität bevorzugte Organ, das freilich auch Erzeugung: sprich Reproduktivität, Fortpflanzung anzeigt. Indem wir hier den Begriff ‚Phallus‘ verwenden, wollen wir auf zwei Dinge aufmerksam machen: Das Wort bedeutet gleichzeitig das Objekt Penis als Körperteil, als Organ der Vereinigung und einen Buchstaben, den man das Alpha und Omega im Alphabet des Wunsches nennen kann. Diese zweite, buchstäbliche Bedeutung des Wortes, die uns den Ausdruck ‚Phallus‘ dem Wort ‚Penis‘ vorziehen läßt, zeigt dessen Ausnahmestellung als Ursprungsbuchstabe oder Buchstabe des Buchstabens. In der Tat bildet der Phallus einerseits jenes Zeichen, das in seiner aufgerichteten, an eine Stele oder einen Obelisken gemahnenden Gestalt universelles Symbol des sakralen Charakters, der Mittelpunktstellung jener vor anderen ausgezeichneten erogenen Zone ist. Auf der anderen Seite ist der Phallus, ohne daß es weiterer Vermittlung - der Verdoppelung oder Repräsentation – bedürfte, in sich selbst Begriff der Distanzierung, der zwischen männlichem und weiblichem Körper unterscheidet.“ In: Gabriele Sorgo, Gnosis und Wollust, a. a. O; S. 195, Anmerkung 237.

  390. Zit. nach: Robert Darnton, Diderot küßt Sophies Brief: Rückblicke auf die Zukunft des Buches und der Bibliotheken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. Okt. 2001, Nr. 235.

  391. Siehe: F21 Berg 751/3.

  392. Siehe: Ludwig Wittgenstein, Letzte Schriften über Philosophie der Psychologie § 69, in: Ders; Werkausgabe in 8 Bänden, Frankfurt a. Main 1984. Und weiter lesen wir bei Wittgenstein, § 341: „Wir sprechen den Namen mit Ehrfurcht aus. Der Name wird zu einer Geste; zu einer architektonischen Form.“ Auch Marcel Proust verliert sich in „Du côté de chez Swann“ in den Namen des Mädchens, in das er sich verliebt hat: „Der Name Gilberte klang neben mir auf und rief mir um so mehr die Existenz der durch ihn bezeichneten Person in die Erinnerung zurück, als er sie nicht nur wie eine Abwesende, von der die Rede ist, benannte, sondern unmittelbar ihr selber galt; der Name traf mich dadurch in voller Aktion und mit einer Kraft, die in der Kurve seines Flugs wuchs, je näher er dem Ziele kam – in sich aber trug er wie das Schiff [an Bord] seine Ladung alle Vorstellungen von der, der er galt“. In: Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd.1, a. a. O; S. 521.

  393. „November 1932“ [Berg an Hanna im November 1932].

  394. Berg und das Auge des Malers: "Freitag (23. Februar 1934) nachmittag. (...) Wetter herrlich: in der Früh 2 Grad Kälte, der See noch schöner gefroren (moirée artig)." In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 630.

  395. „14. 12. 34“ [Berg an Hanna am 14. Dezember 1934].

  396. „Von einem Eremiten erzählt Kenkô: obschon er irdische Gelüste aufgegeben hatte, wäre er von niemandem für die Worte getadelt worden, daß ihn einzig noch die flüchtige Schönheit der Jahreszeiten im Himmel errege.“ In: shunga. Frühlingsbilder, a. a. O; S. 13.

  397. „16. Nov. 26 im Zug von Prag nach Pilsen“ [Berg an Hanna am 26. November 1926].

  398. Am 22. 7. 1933 teilte Alban Berg Anton Webern mit, daß er eine Michelangelo-Monographie liest. Die Gedichte des alternden Michelangelos sind dunkel und verhangen, die psychische Stabilität des Künstlers nimmt rapide ab, so werden auch Bergs letzte Lebensjahre überschattet. In einem Gedicht Michelangelos lesen wir: „Mein Elend um die Linderung betrogen, verdoppelt sich und/ gibt dem Tode nach. / So ist es sinnlos, daß ich,/ ihm erschrocken entflieh.“ Siehe: Michelangelo. Gedichte. Italienisch und deutsch, hrsg. und übersetzt von Michael Engelhard, Frankfurt a. Main/Leipzig 1992.

  399. Li Tsching-dschau (1084-um 1151, eine der bedeutendsten Dichterinen Chinas) „ABSCHIED Zu Asche zerfallen Die Weihrauchkerze im goldenen Becken. Aufgewühlt wie Wogen im Sturm die rotseidenen Decken. Lässig leg ich den Kamm aus der Hand. Wozu die Frisur? Soll sich nur meinetwegen Staub aufs Putztischchen legen Und die Sonne hochklettern die Vorhangschnur. Kann’s nicht ertragen, das Alleinsein. Will manches sagen und laß es doch ungesagt. Denk nicht, es müsse vom Wein sein Oder weil Krankheit mich plagt, der Herbst mich traurig macht, daß ich so mager ward, so hager über Nacht. Geh! Sag ich auch tausendmal dir noch, du tust mir weh, du gehst ja doch, irrst deinem Glücke nach, und mich schließt nun der Herbst in Nebelschleier ein, verhängt ringsum das einsame Gemach. Daß ich an dich, an dich gedacht die ganze Zeit, weiß nur der Bach vorm Fenster- unentwegt schau ich hinab- weiß auch, daß sich ein neues Stückchen Leid fortan in seine Wellen prägt“. In: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen, herausgegeben, aus dem Chinesischen übertragen und nachgedichtet von Ernst Schwarz, Berlin 1969, S.325.

  400. Wenige Tage nach Abschluß des „Violinkonzertes“ klagte Berg über die Folge eines Insektenstiches, der ein Abszeß nach sich zog. Auf langen Spaziergängen holte er sich Blasen an den Füßen. Am 12. Oktober 1935 berichtet er Helene: „(...) Eventuell muß ich morgen, Sonntag vormittag selbst auf die Post (...) Zu Fuß wär’s zu weit, für meinen kranken Fuß. Der aber gottlob schon viel besser ist, sodaß ich heute schon wieder am Schreibtisch sitzen kann und vermutlich morgen oder gar übermorgen, Montag, wieder so viel Bewegung machen kann wie immer. Heut, wo’s vorrüber ist, kann ich Dir ja sagen, daß das mit dem Fuß scheußlich war. (...) Gestern den ganzen Tag im Bett, fleißig Umschläge wechseln und dadurch heute schon so weit, daß ich den Fuß ruhig hinunterhalten kann. Was es eigentlich war, weiß ich nicht. Von den diversen Blasen auf beiden Füßen, die (bis auf eine Stelle) normal zurückgingen, blieb am Ballen ein Entzündungsfleck, der mörderisch schmerzte und tobte, sodaß ich glaubte, daß sich da wieder ein Furunkel oder dergleichen bilden würde, oder am End gar geschnitten werden müßte. Gottseidank nichts von dem und nur die Lehre: ‚N iemehrspazierengehen!’ Diese letzte Erfahrung und die vorletzte von dem Wespenschwarm sind ja geradezu Fingerzeige Gottes. - -" In: Alban Berg, Briefe an seine Frau, a. a. O; S. 652. Im August 1932 wurde Berg von einem Wespenschwarm angefallen, über zwei Dutzend Stiche mußte der Komponist über sich ergehen lassen.

  401. Die Beziehung Albans zu Helene bestand aus Eruptionen und Erschlaffungen, Wunden und Einschnitten. Alban Bergs Doppelleben hinterließ an und in Helenes Körper immer wieder entstellende Wunden. Sie harrte aus, litt und neidete den hingebungsvollen Blick des Künstlers an die Geliebte. Zum Begriff des Phänomens vergleiche Martin Heidegger „Der Begriff des Phänomens“, in: „Sein und Zeit“, 13. Aufl; Tübingen 1976, S. 28-30: „So ist die Rede von ‚Krankheitserscheinungen’. Gemeint sind Vorkommnisse am Leib, die sich zeigen und im Sichzeigen als diese Sichzeigenden etwas ‚indizieren’, was sich selbst nicht zeigt. Das Auftreten solcher Vorkommnisse, ihr Sichzeigen, geht zusammen mit dem Vorhandensein von Störungen, die selbst sich nicht zeigen. Erscheinung als Erscheinung ‚von etwas’ besagt demnach geradenicht: sich selbst zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt. Erscheinen ist ein Sich-nicht-zeigen.“ Berg schreibt an Webern am „4. 9. 26. (...) Ich bin bei meiner Arbeit am Quartett (...) Schließlich hatte meine Frau ca. vor 8 Tagen ein Malheur. Rutschte von der (stehenden) Elektrischen ab u. verletzte sich am Knöchel derart, daß ich heute noch gar nicht recht weiß, was es ist, u. wie lange es dauern wird, bis sie wieder richtig gehen kann.“ Siehe: F 21 Berg 3270. „11. 5. 27:(...) Von uns ist nichts Gutes zu berichten. Helene wurde vor 10-12 Tagen operiert (Ciste am Hals). Es war eine sehr schwere komplizierte Operation an deren Folgen sie furchtbar leiden mußte, aber dabei sehr tapfer war. (Tapferer als ich) Sie ist zwar schon aus dem Sanatorium, wird aber noch lange brauchen, bis sie ganz erholt ist (...)“. In: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 180. Von Paul Valéry gibt es eine tiefsinnige Bemerkung: „Das Tiefste, das ist die Haut“: „7. 9. 32. Mein Lieber Soma (...). Helene ist sehr krank. Durch die Unvorsichtigkeit der Annerl [Anna Lenz, Hausgehilfin], die aus einer mehrere Liter fassenden Blechkanne Spiritus in den eben im Verlöschen begriffenem, aber noch brennenden Rechaud nachschüttete entstand eine fürchterliche Explosion; Helene die knapp davor stand (sie 'richtete' gerade 'an') bekam die ganze Stichflamme mit dem in der ganzen Küche herumspritzenden brennenden Spiritus in's Gesicht. Trotzdem hatte sie die Geistesgegenwart, der Annerl die brennende Schürze vom Leib zu reißen u. sie vor der sicheren Verbrennung zu retten. Bis ich dazu kam, waren nur noch die letzten Flammen zu ersticken. Und nun zeigten sich erst die Folgen: Helenes Gesicht vollständig versengt mit Verbrennungen (gottlob I. Grades) übersät, teilweise weggebrannter oberer Haut auf Stirn und Wangen und Mund, später Anschwellungen, Entzündungen, die Haare rings um den Kopf versengt, Augen verschwollen. Noch ärger ist die rechte Hand zugerichtet, mit der sie die brennende Schürze der Annerl gegriffen hatte: Eine offene Fleischmasse, von den Fingern könnte man fast, wie Röhren die Haut herunterziehn: fast durchwegs Brandwunden II. Grades. (...)“, in: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole, a. a. O; S. 248, 249. Helene Berg wird im Dezember 1935 einen Schnitt in Albans Körper machen. Was für eine Kraftleistung an Unbekümmertheit und Selbstüberschätzung: die Gewalttat einer zarten Natur. Helene Berg, die Traurige, Beladene, Niedergeschlagene, Betrogene hat Alban Berg mehr als 40 Jahre überlebt, sie starb in Wien am 30. August 1976 und ist an der Seite ihres Ehemannes beigesetzt worden. Die Grabstelle befindet sich am Hietzinger Friedhof, unweit des Grabes von Gustav Klimt. Helene Bergs unverwechselbare Stimme, angeschmiegt an die „Schönbrunner-Farben“, hat Alban Berg bekanntlich über alle Maßen geliebt. Die schöne Stimme kann man auf einer Tonbandaufnahme hören, siehe: F 21 Berg 3092. Theodor W. Adorno, der „unmännlich wie eine Frau sein kann“ (A. Berg), unterließ es nicht, die Beziehung zu Hanna Fuchs nach dem Tod des Komponisten in unsensibler Weise zu kommentieren. Am 16. April 1936 schrieb er an Helene Berg: „Meine liebe Helene, wenn ich so lange geschwiegen habe, dann aus keinem anderen Grunde, als weil ich Ihnen so lange nicht unter die Augen treten mochte, bis ich das Recht, als Freund zu sprechen konkret ausweisen konnte. Der Tod eines geliebten Menschen- und wen dürfte ich so nennen wenn nicht ihn - erfüllt mit dem Bewußtsein von Schuld; alles ungewordene Mögliche, alles Versäumte und der kleinste Fehler noch den man sich vorzuwerfen hat, tritt zwischen den Gedanken an den Toten und einen selber (...) Ich habe die Angelegenheit H.F.[Hanna Fuchs] vom ersten Tag an gewußt und bin, in einer sehr wenig glücklichen Weise, sein Vertrauter und wenn sie wollen Helfershelfer gewesen. Ich hatte ihm absolut verbindlich versprochen, mit keinem Menschen je darüber zu reden, und ich habe dies Versprechen streng gehalten bis zu dem Augenblick, wo ich durch Reich [Willi Reich] erfuhr, daß Sie unterrichtet sind. (...) ich war mir schon damals, mit 22 Jahren, über das eine klar: daß die Sache H. F. nicht zentral für ihn war, daß sie seine Beziehung zu ihnen nicht angreifen konnte: und daß er H. F. weit mehr liebte, um die Lyrische Suite schreiben zu können, als daß er die Lyrische Suite um der Liebe willen schrieb. Ich treffe damit freilich ein Geheimnis, das schwerer zu tragen sein mag als jede ‚Untreue’, nämlich daß der Künstler in Albans Sinn (und darin weiß ich mich ihm gänzlich verwandt) unmittelbar leben überhaupt nicht kann: aber dies Geheimnis hat mir vom ersten Augenblick an das Erlebnis anders erscheinen lassen als sein Schein für ihn war. (...) (er war sich am ersten Tag darüber klar, daß er Sie niemals H. F. s wegen aufgeben könne, und, ich bin mir sicher, im Grunde froh, daß sie der Kinder wegen ebenfalls nie daran dachte) (...) Wenn ich heute an jene Vorgänge zurückdenke, will es mir scheinen, als sei sein innerstes Motiv Angst gewesen: die Angst eines Menschen, dessen ganze Lebenskraft in die Objektivierung einging, das Leben zuversäumen - das doch nur dazu da ist, von unseresgleichen versäumt zu werden. Es stimmt völlig dazu, daß H. F. ein romantischer Irrtum war- sie ist eine Bourgeoise durch und durch, die einmal von der Möglichkeit des Andersseins gestreift wurde, ohne sie selber nur erfüllen zu können. (...)“ Siehe: F 21 Berg 3091/4. Es ist hier anzumerken, daß das Liebesverhältnis Bergs zu Hanna Fuchs eines von mehreren war. Zu erwähnen ist die Liebesaffäre mit Anny Askenase und die „Liebe auf den ersten Blick“ (Berg) mit Edith Edwards.

  402. Ohne das Zusammensein mit Hanna Fuchs, ahnte Berg schon im Brief von 1925 seinen Tod voraus: „Ich weiß, daß es es keinen, aber auch gar keinen Weg zu der einzigen glücklichen Lösung: unserer gänzlichen Vereinigung gibt. Keinen, der nicht mit dem Tod oder Unglück aller Beteiligten endete.“ „Dritter Brief, in Ruhe zu lesen“ [Berg an Hanna ohne Datum, geschrieben nach dem 11. und vor dem 23. Juli 1925]. Berg lag im Krankenhaus „im Parterre“, im Saal 4. der II. chirurgischen Abteilung, Chirurgische Infektion, Vorstand Prof. Rudolf Demel, und dann - mit nur einem zweiten Patienten – im Moribunden-Zimmer. Vom regen Andrang muß er abgeschirmt werden. Am 22. stirbt sein Bettnachbar, Alban muss noch etliche Stunden mit dem Toten in demselben Raum liegen. Am folgenden Tag, es ist der 23. Dezember – Berg glaubt weiter fest daran, die 23 sei seine ‚Schicksalszahl’ - erhält er die ‚Letzte Ölung’, die er, wie Soma Morgenstern berichtet, ‚liebenswürdigerweise über sich ergehen’ läßt. Wenige Minuten nach Mitternacht schläft er ruhig hinüber ins ewige Leben.“ Zit. nach Herwig Knaus, Wilhelm Sinkowicz, „Alban Berg. Zeitumstände-Lebenslinien“, Wien 2008, S. 429. Das Begräbnis fand am 28. Dezember 1935 am Hietzinger Friedhof statt. Am Grabe stehen viele, darunter auch Stefan Zweig, der am 23. Februar 1942 in Petropolis aus dem Leben scheiden wird.

  403. Siehe: Alban Berg, Autobiographische Taschenkalender, siehe: F21 Berg 432/1-32.

  404. In einem Kommentar von G. S. Dombrody zu einem Tagebuchtext von Bashô aus dem Jahre 1689 wird auf „flügelgleiche Vögel“ und „ineinandergewachsene Äste“ hingewiesen: Der Dichter Bashô beschrieb zwei Vögel, einen weiblichen und einen männlichen, die derart miteinander leben, daß ihre zu eins gewordenen Leiber nur ein Paar Augen und ein Paar Flügel gemeinsam besitzen. Weiters erzählt Bashô von zwei Kieferbäumen, die je einen ihrer Hauptäste so umeinanderschlingen, daß sie miteinander verwachsen und alsbald zu einem Baum werden.

  405. Hölderlins „Hyperion“ brüllt: „Ich war es endlich müde mich wegzuwerfen, Trauben zu suchen in der Wüste und Blumen über dem Eisfeld.“ Siehe: Friedrich Hölderlin, „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“, in: Friedrich Hölderlin, „Sämtliche Werke“, hrsg. von Friedrich Beißner, Frankfurt a. Main 1965. Die Jahrhundert-Edition sämtlicher Werke Hölderlins vollzog der Stroemfeld Verlag: „Die historisch-kritische Ausgabe (Frankfurter Ausgabe)“, herausgegeben von Dietrich E. Sattler, bietet die Abbildung und typographisch differenzierte Umschrift der überlieferten Manuskripte Hölderlins. Die Handschriften wurden maßstäblich verkleidet und mustergültig in Faksimile aufbereitet. Textfragmente aus Friedrich Hölderlins „Hyperion oder der Eremit in Griechenland“ hat Klaus- Michael Grüber im Jahre 1978 mit Schauspielern der Schaubühne am Halleschen Ufer im Berliner Olympiastadion in den Winterwind gestreut. Siehe: Theater heute, 19. Jg. Nr. 2, Februar 1978.

  406. Friedrich Hölderlins Worte an Neuffer aus glücklicher Zeit lesen sich wie eine Beschreibung der Alabaster-Büste, die der Straßburger Bildhauer Landolin Ohmacht im Jahre 1795 von Suzette Gontard schuf.

  407. Siehe: Friedrich Hölderlin, „Hälfte des Lebens“, in: „Sämtliche Werke“, Bd. 2. 1, Stuttgart 1951, S. 217.

  408. „Man hat heute früh den armen Holterlin abtransportiert, um ihn seinen Eltern zu übergeben. Als er mit aller Kraft versuchte sich aus dem Wagen zu stürzen, wurde er von dem Mann, der auf ihn aufpassen sollte, zurückgestoßen. Holterlin schrie, daß Häscher ihn entführen wollten, wehrte sich mit aller Kraft und zerkratzte diesen Mann mit seinen enorm langen Fingernägeln derart, daß er über und über blutig war.“ Aus einem Brief der Landgräfin Caroline von Hessen, Homburg den 11. September 1806. Zunächst überführte man den seelisch Kranken ins Tübinger Klinikum Authenried, danach wird er am 4. Mai 1807 in Tübingen dem Schreinermeister Ernst Zimmer und seiner Tochter Lotte Zimmer zur Pflege übergeben werden. Die junge Frau betreute und pflegte ihn 36 Jahre lang, bis er am 7. Juni 1843 starb. Der Dichter erhielt ein eigenes Zimmer, das „Rundel“ im ersten Stock am Ende des Flurs zwischen der Küche und dem Wohnzimmer. Es ist ein kleiner hervorspringender Raum auf dem Grundriß eines abgeschnittenen Achtecks. Seine fünf Fenster erlauben den Blick über das Steinlachtal, das Neckartal, den Rammerrt genannten Wald bis hin zum fernen Mittelgebirgszug der Schwäbischen Alb. Die in den Fensterrahmen gefaßte, sich weitende Landschaft wird in die verschiedenen Jahrezeitengedichte eingehen, die Hölderlin hier schreibt. Die 26 jährige Lotte Zimmer, die Vertraute des Dichters, berichtet in ihren Aufzeichnungen immer wieder vom Toben des „Herrn Bibliothekar Hölderlin“ und dokumentiert zerrissene Hemden oder Bettwäsche und legt Schusterrechnungen an, die die beständigen Fluchten Hölderlins ins Hin und Her darlegen. Siehe: „Von der Realität des Lebens. Hir das Blatt“, Nachrichten aus dem Alltag von Friedrich Hölderlin mitgeteilt von Lotte Zimmer. Nach bekannten und unbekannten Quellen zusammengestellt von Angelika Overath und Gregor Wittkop, Berlin 1997.

  409. Robert Walser, der „knabenhaft“ zu schreiben wünschte, erinnert an das ungelebte Leben Hölderlins: „Die Zerstörung und Zertrümmerung seines Lebens besang er auf dem Instrument der Sprache, die er redete in goldenen, wunderbaren Tönen“.

Bildliste

Archiplan Übersicht

Im Kleinen Entwurf wurde Alban Bergs Lieblingsgemälde Jupiter und Io, eine der sublimsten Liebesszenen in der Geschichte der abendländischen Malerei, installiert. Das Gemälde, betitelt Jupiter und Io, um 1530 entstanden, hatte Alban Berg als Reproduktion an seine Zimmerwand geheftet. In Metamorphosen, Buch I, Vers 568-750, erzählt Ovid die Geschichte von Io, Geliebte von Jupiter.

Aus dem Schatten des Waldhaines lockte der Himmelsgott Jupiter die Quellennymphe Io. Aus Wolkenrändern lässt der anarchistischste aller antiken Götter Nebelschwaden auf die Fliehende herabrieseln. Das Feuchte des Nebeldunstes markiert den Beginn einer Schändung, die zum libertinen Vorhaben gehört. Coreggio, der geniale Ephebenmaler, malte eine schockierende Hingabe an die Ausschweifung in Steinblau.

Im Kleinen Entwurf wurde Rodins Marmorskulptur - Le secret (Das Geheimnis) installiert. Das Wunder dieser Skulptur gründet darin, dass die ineinandergefalteten Finger sich nicht unterscheiden von den lächelndenden Lippen, von der nackten Haut, von der Hand, die die Gabe anbieten.

Im Kleinen Entwurf wurde Bergs Widmungspartitur der Lyrischen Suite installiert. In dem grafischen Schlingwerk aus Noten und den Buchstaben A, B, H und F sollten die kleinsten und unschuldigsten Dinge der Liebenden gerettet worden vor der »Zerlösung« der Wirklichkeit" (Jean Amery). Berg malt das Liebesbewusstein zur großen unendlichen Liebesleidenschaft aus.

Dank dieser Verzauberung setzt er die Metaphysik der Liebe in Gang und lotet sie mit einer endlos vibrierenden und aufopfernden Behutsamkeit aus.

Im Kleinen Entwurf ist der vollständige Autograph der Lyrischen Suite - ausgeführt in Bleistift auf 14-linigen Notenpapieren - installiert. Polychrome Explosionen in grün, rot, und blau sind unter den Graphit des Bleistifts gemischt und markieren den Wuchs des Zwölfton-Werkes.

Alle im Saal installierten Objekte sprudeln hervor, wie etwas, das erfüllt ist von einer Verkündigung.

Gerhard Fischer

Correggio: Jupiter und Io (Bild)

Antonio da Corregio Jupiter und Io. Öl auf Leinwand, 162 x 73, 5 cm, um 1530. Kunsthistorisches Museum, Wien

Wir sehen oben hellen, blauen Himmel und lo befindet sich in einer moosigen, braunen Naturlandschaft. Die weiche, helle Haut setzt sich stark davon ab. Der am Rande gezeigte Hirsch zeugt auf die sexuelle Lust. Die Eingliederung der Amphore und des Wassers wird häufig als Anspielung auf den Vater los gesehen, lnachos - ein Flussgott.

Das Bild entstand als ein Teil einer Auftragsarbeit einer Serie von vier erotischen Gemälden, die sich mit den Liebesabenteuern Jupiters befassen.

Ovid hat in Buch 1, Metamorphosen 568-688 die Geschichte von Jupiter und lo erzählt.

Auguste Rodin: Le Secret (Das Geheimnis)

Teil 14
Teil 15
Teil 16
Teil 17
Teil 18

Großer Entwurf

Objekte also, umhegt, liebkost, reglose Gegenstände, zum Stillstand gebracht und hier nun versammelt in Schaukästen in einem Saal des Kunsthistorischen Museums, angeordnet mit geduldiger Sorgfalt, zärtlicher Ehrfurcht.

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Brief Dr. Haag

IMPRESSUM

Daedalus Wien

FORUM FÜR ENTDECKUNGEN IM RAUM DER KÜNSTE,
DES DENKENS UND DER HISTORIE

Fotografie – Leder‑Slip mit Ösen und Schnürung

Die Fotografie ist entnommen einem Album d'amour.

Nackte Haut, entblößte Körper. Unverschämt sexy – Elemente der New Yorker S&M‑Szene der 70er‑ und 80er‑Jahre in de Saint Sernins Kollektionen. De Saint Sernins Pendant zu Tom Fords berüchtigtem Gucci‑G‑String von 1997 ist ein mit Ösen und Schnürung versehener Lederslip, der in verschiedenen Materialien und Mustern wie Leopard und mit funkelnden Strasssteinen besetzt zum Markenzeichen seines Labels LdSS wurde.